Schwarz umgibt mich alles. Wunderbar Schwarz, wunderbar still. Nichts dringt an meine Ohren, nichts an meine Augen. Alles ist in Dunkelheit getaucht. Nie träume ich und selbst wenn ich es tue, so erinnere ich mich nicht daran. Ich schlage die Augen auf, blicke zur Decke und lächle dann, denn ich weiß, dass diese Schwärze der schönste Traum ist, den mir mein Unterbewusstsein schenken kann. Heute ist es anders. Ganz anders, ja geradezu ungewohnt. Ich schlage die Augen auf, geweckt von einem durchdringenden Piepen. Es ziept
in meinen Ohren und auch, wenn ich es lange nicht mehr gehört habe, so bin ich sofort hell wach. Ich denke nicht mehr über die Schwärze nach, nein, ich fahre hoch, schlage die Decke hastig beiseite und stürze zum Headset, welches das durchdringende Piepen an die Wände schallt. Schweißbedeckt fahren meine Finger über die Knöpfe und ich brauche mehrere Anläufe um den glatten Ohrstecker ins Ohr zu manövrieren. „Foster, hier spricht Ihre Leitung. Sie werden schnell zum Ziel B bestellt. Notstand. Nehmen Sie ihre Dienstwaffe mit!“, die Stimme knistert und doch erkenne ich sie genau. Nur eine Person könnte in einem solchen Notstand so
ruhig bleiben, nur diese eine Person, die ich kaum kenne und die mich doch fasziniert wie kein anderer Mensch. Ich schlucke schwer und versuche die Angst zu verbannen. „Jawohl, Chef. Ich beeile mich!“, sage ich und lege mit rutschigen Fingern auf. Mein Herz rast und das Blut in meinen Ohren tost wie ein Sturm, der die Gedanken in meinem Kopf durcheinanderwirbelt. Warum habe ich Angst? Ich kann es nicht verstehen, denn endlich ist es passiert. Endlich! Vor zwei Jahren hatte es begonnen. Das schlimmste Gefühl. Die Langeweile. Sie war direkt nach meinem Schul- und Lehrabschluss gekommen und hatte
meine Psyche vollkommen zerstört. Meine Zeit auf der Schulbank hatte ich mit wechselndem Interesse hinter mich gebracht. Mal eine eins, mal eine fünf. Unterschiedlich halt, je nach Interesse. Das hatte mich auch nicht gestört, denn um ehrlich zu sein, hatte ich gedacht, das Leben würde erst wirklich nach der Schule anfangen. Denn danach, war ich erst mal frei von Pflichten. Ich könnte aussuchen, was ich tun würde und mein Weg könnte viele Gabelungen haben. Ja, wenn die Pflicht der Schule vorbei war, und ich das wählen konnte, wofür ich mich interessierte und selbst etwas Sinnvolles praktizieren konnte, dann würde mein Leben anfangen.
Falsch gedacht. Ich hatte während meiner Schulzeit schon mit der Lehre bei der Kriminalpolizei begonnen und sobald ich mit einem überragendem Notendurchschnitt die Schule hinter mir gelassen hatte, wurde ich sogleich in die hohe Stelle eines Kommissars eingestuft. Wie hatte ich mich da gefreut? Und diese Freude war auch nicht verschwunden als an einem verregneten Tage das mir wohl Unheimlichste passiert war: Ich war mit meinem Team rund einen Monat nach beginn der Arbeit, auf einem Einsatz im klatschnassen Regen.
Es war so verregnet gewesen, dass das projizierte Objektiv meines Scanners nur noch verwischtes Bildmaterial lieferte und ich so länger brauchte, die Leute um mich herum zu beobachten. Ihre Profile leuchteten nur noch schwach durch den Schleier der Tropfen, aber jeder Mensch war, wie es normal ist, von einem Profil wie von einem Engel begleitet worden. Jeder schleppte es mit sich herum, ohne die Last zu spüren. Seine Identität auf dem Präsentierteller, ein offenes Buch für jedermann, ein ehrlicher Mensch der Gesellschaft. Durch den Regen hatte ich gestiert wie eine Halbblinde, in der Hoffnung
irgendwo den Bankräuber ausfindig zu machen, aber er kam nicht vorbei und selbst wenn, so könnte er an meinem Profil ablesen, dass ich Polizistin bin. Schließlich kann jeder jeden scannen, und selbst für die Polizei ist es eine Straftat dieses Delikt zu verfälschen, denn gerade wir sind die vorbildlichen Bürger, welche unsere Gesellschaft schützen müssen. Aber selbst wenn der Verbrecher uns scannen würde, so wäre es für ihn schon zu spät, denn dafür muss er uns sehen können und wer uns sieht, dessen Profil sehen auch wir und dem System entgeht nichts. Dieses Programm, unser System, hat das Profil jedes Menschen
gespeichert. Seine Daten, hochgeladene Fotos so wie der Zustand der Psyche, aber genauso speichert sich bei jeder Straftat diese im Hologramm und jeder Bürger kann sehen, dass dieser Bankräuber die Bank neben der Post ausgeraubt hatte, die Angestellten mit einer Waffe bedroht und vier Fenster durchgeschossen hatte. Und da jeder Bürger das sehen konnte, gingen Informationen viel schneller an uns, die Gesetzeshüter. Vor rund zehn Minuten hatte jemand gemeldet, den Bankräuber zwei Straßen weiter gesehen zu haben. Nun standen im ganzen Gebiet Polizisten und Ermittler für den Zugriff bereit, aber wir froren uns bis jetzt nur
die Finger ab, vom Räuber keine Spur. Doch nachdem wir noch weitere fünf Minuten gewartet hatten, huschte mein Scanner über ein seltsames Profil. Blau, wie das aller Bürger, flimmerte es über dem Kopf eines jungen Mannes, dessen Gesicht unter der klatschnassen Kapuze des Sweatshirts verborgen war. Meine Nackenhaare stellten sich auf und mein Atem blieb stehen. Das… Das konnte nicht sein! So etwas gab es nicht! Kalt und gerade pressten sich die Druckbuchstaben wie die Worte Gottes in mein Hirn. ANONYM stand dort. Sonst nichts. Kein Geburtsdatum, kein Name, keine Adresse und keine Straftaten oder Vergünstigungen.
Anonym… Ein Schauer jagte über meinen Rücken. Es gab keine unregistrierten Menschen! Alle rund 12 Milliarden Menschen trugen ein Profil bei sich, stellten Bilder hinein und gehörten zum System. Alle waren ehrliche Bürger, es gab keinen anonymen! Ratschend entsicherte ich meine Waffe. Die Köpfe meiner Mitarbeiter flogen zu mir herum, dem Mädchen, dass knapp zwei Wochen im Dienst schon ihre Dienstwaffe gegen die normale Bevölkerung richtet. Und doch, kaum zwei Sekunden dauerte es und das Grauen marterte sich auch in ihre Gesichter. Anonym. Das Wort schlug uns
in die Magengrube und hielt unseren Verstand fest im griff. Anonym. Bekannt. Populär. Gefährlich! Ich rannte los, einige der anderen überholten mich noch auf der nassen Straße. Die schwarzen Pistolen entsichert, die Mienen versteinert und das Denken verzerrt. Unsere schweren Stiefel brachen schlagartig durch die trüben Wasseroberflächen, sausten hernieder wie Gottes Faust. Ich sah, wie die ehrlichen Bürger auseinanderstoben, ich sah, wie sein Kopf herumflog und die durchnässte Kapuze nur das spitze Kinn erkennen ließ. Ein bleiches Kinn, viel zu hell im Gegensatz zur dunklen Kulisse der stürmischen Straße und es
blitzte nur kurz auf, denn dieser tückische Bastard drehte sich um und begann zu rennen. Wir folgten mit einem unguten Gefühl im Bauch, welches mehr war als nur ein Kribbeln. Eine Übelkeit war es, welche alles je gekannte wegspülte.. Tropfen klatschten in mein Gesicht und malten mir feuchte Spuren auf die Wangen, aber ich fühlte nichts in mir als eine tiefe Verwirrung. Das System war jung, aber es war dennoch genial und es hatte ausnahmslos jeden Menschen registriert. Man konnte sich dieser Registrierung nicht entziehen, oder? Das System speicherte einen Menschen, ohne dessen Zustimmung, denn das Profil
gehört zu diesem Menschen. Dieses loszuwerden ist zweifellos eine Straftat. Diesen Gedanken brenne ich in mich ein wie eine Tätowierung. Sie stand quasi auf der Innenseite meines Schädels geschrieben und dieser eine Satz half mir auch, meine Verwirrung in Wut und diese Wut in Motivation umzuwandeln. Ich rannte wie ich nie gerannt war. Meine Füße stampften über den Asphalt, das Wasser lief mir über die Arme und Beine, aber ich spürte es nicht. Ich spürte nur die schweren Schritte, den Wind und die unheimliche Ruhe in meinem Herzen. Er rannte vor uns und als einer meiner Kollegen zum Schuss anlegte, drehten
die dünnen Beine des Anonymen. Blitzschnell und geschickt wie ein Panther setzte er über eine Straßenabsperrung hinweg, nur um dahinter in die dunkle Gasse abzubiegen. Seine dunkle Gestalt ist verschwunden aber keine Sekunde später trampeln wir die Absperrung einfach nieder und folgen ihm in die Gasse. Ein Schuss knallt und prallt dem Geräusch nach auf Stein. Es ist so dunkel, dass die Gestalt für uns immer noch verschwunden ist. Fast synchron schalten wir alle unsere Taschenlampen ein und strahlen auf die leere Gasse vor uns. Rechts und links erheben sich die dreckigen
Häuserfassaden ins Schwindelerregende, der Regen hat schon längst Schmutzschlieren hinterlassen und auch jetzt stürzen Bäche von Wasser den Putz herab. Aber zwischen den Häusern liegt nur eine leere Gasse. Leer. Nichts. Stürmisch fliegt mein Kopf nach oben und fixiert die Feuerleiter des Hauses rechts. Schwarz schraubt sie sich nach oben und schwarz rennt eine Gestalt hinauf. Das Ächzen des Metalls ist wie Musik in meinen Ohren. Haben wir dich! Sofort packt meine Hand das rostige Geländer, ich schwinge mich empor und haste los. Mein Atem geht schnell, meine Füße sind schwer und doch renne ich die rutschigen Stufen empor. Das
digitale Profil loszuwerden ist zweifellos eine Straftat. Ich muss ihn einfach bekommen! Seine Füße hämmern über mir auf den Rost und seine Hände wischen vor mir die Tropfen vom Geländer. Aber ich würde ihn bekommen, da war ich mir sicher. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah die Sohlen seiner Sportschuhe und bei jedem Schritt, den er eine Etage über mir machte, benässten Tropfen mein Haar, welches bereits nass an meinem Kopf klebte. Eine Etage! Auch wenn meine Beine brannten, ich rannte weiter. Unter mir hörte ich das Keuchen meiner Kollegen und gerade
ihre Erschöpfung spornte mich noch weiter an. Ich erreichte die Etage, auf der er eben noch gewesen war und sah gerade noch wie er durch ein unverglastes Fenster in die Bauruine stieg, welche sich auf dem Dach des Hauses auftürmte. Ich sprang hinterher. In der einen Hand die Taschenlampe, welche mit ihrem fahlen, weißen Licht die Ziele ausfindig machte, in der anderen Hand die Waffe, welche die bleich angestrahlten Ziele stellte. Die Dunkelheit im Innern der Bauruine wurde sofort von der Taschenlampe zerschnitten wie ein Stück zartes Fleisch. Grell und nüchtern bestrahlte sie die Silhouette vor der kargen Wand.
Die schlanke Gestalt, welche mit erhobenen Händen da stand und deren mir verborgene Augen mich ansehen mussten. „Kapuze runter und Profil erkenntlich zeigen!“, belle ich mit der Stimme einer diskreten Polizistin. Seine langen, schmalen Finger fahren unheimlich feingliedrig in die Taschen seiner Jacke, er denkt gar nicht daran, die Kapuze herunter zu nehmen, von dieser tropft es noch in dicken Wasserblasen gen Boden. „Sie sind umstellt und handeln systemwidrig! Ich bitte Sie hiermit unsren Anweisungen Folge zu leisten.“ „Und ich sage nein danke.“, antwortete eine raue Stimme. Sie war tief und drang
so unheimlich aus dem Schatten der Kapuze empor, dass sich meine Nackenhaare aufstellten. Ich richtete meine Pistole auf ihn und scannte ein weiteres Mal sein Profil. Anonym. Kalter Schweiß rann meine Schläfen hinunter und versickerte im nassen Hemdkragen. „Das ist Beamtenbeleidigung und Weigerung gegen die Gesellschaft“, stelle ich fest, mich auf alle möglichen Paragraphen berufend und doch windet sich eine wutentbrannte Frage auf meiner Zunge wie ein widerwärtiger Aal. „Wer sind Sie?!“ „Ich bin Ich. Ich bin Anonym und ich bin ein Mensch.“ Die Stimme klingt
irgendwie monoton. Die blassen Lippen über dem spitzen Kinn bewegen sich hastig. Alles oberhalb der Nasenflügel liegt jedoch im Schatten verborgen. „Darf ich Ihnen etwas zeigen, Inspektorin Foster?“, fragte er und seine Stimme veränderte sich kaum merklich. Immer noch habe ich ihn und sein anonymes Profil fest im Auge. Nein, will ich antworten, aber ich sage nichts. Nichts dergleichen jedenfalls, denn mein Verstand hat sich ausgeschaltet, mit der Situation überfordert, nur noch das, was ich in der Ausbildung auswendig lernen musste, scheint noch aktiv zu sein. „Ich verbiete Ihnen jegliche eigenmächtige Handlungen und weise Sie nun an uns,
der Polizei zu folgen.“ Hinter mir treten die ersten anderen Beamten in den düsteren Raum, durch den der Wind pfeift. Sie bilden einen Halbkreis und doch bleibt die vermummte Person, Anonym, ruhig. Seine geschmeidigen Finger rutschen über dem blau leuchtenden Display eines Handys in seiner Jackentasche und mit einem Schlag verändert sich sein Profil. Ein verpixeltes Foto erscheint und die Lettern Anonym tauschen sich durch John Carter aus. Ein Geburtsdatum erscheint, eine Adresse… „Ich bin ich, ich bin Anonym und ich bin ein Mensch, ich bin. Aber genauso trage ich den Namen John Carter. Aber
vielleicht werde ich morgen Isaac Johnson heißen.“ „HÄNDE HOCH!“, brüllt eine Stimme aus dem Kreise und ich höre, wie die Waffen geladen werden. Langsam mache ich ruhige, gleichmäßige Schritte rückwärts um in den Kreis anzukommen, bevor sie Feuern müssten. Ich bin ich und ich bin Anonym… diese Worte schreien in mir nach irgendwelchen Ohren, die ihnen zuhören wollen, aber niemand hört sie, denn ich verbiete es mir fest über die Gedanken dieses Irren nachzudenken. Er ist irr, denn das muss er sein, so wie er redet… und so wie er nun zu lachen begann. Diese dunkle Stimme von eben und das nun
kristallklare Lachen passen nicht zusammen. „HÄNDE HOCH!“ „Wollt ihr mich etwa bedrohen?“, fragte vollkommen ruhig und wieder mit der rauen Stimme. „Mich, John Carter, mit einem leeren Strafregister? Wäre das nicht eine Straftat?“ Wieder flirrt sein Profil und der Name Isaac Johnson tritt an die Stelle des alten. „Isaac hat auch nichts getan, das hat er.“ „Sie manipulieren das System“, spreche ich langsam aus und diese Worte klingen so falsch auf meiner Zunge. Das System manipulieren… die Ehrlichkeit der Menschen als Lüge zu benutzen… Das System kann nicht betrogen werden…?
„Das ist eine Straftat.“ „Das System legt fest, was eine Straftat ist und laut dem System hat Isaac nichts getan. Wer ihm etwas antut, begeht selbst eine Straftat.“ Diese ruhige Stimme. Das System betrogen… die Ehrlichkeit ausgenutzt… Mein Herz machte einen Aussetzer und mein Verstand und mein volles Herz prallten aufeinander. Eine Explosion dieser Naturgewalten riss meinen Mund auf und brüllte, dass die Bauruine im letzten Sockel noch zitterte: „Du Schwein!“ Ich will schießen, aber die Hand eines Kollegen drückt den Revolver zur Seite. Ich falle auf die Knie und mit weitaufgerissenen Augen verfolge ich die
vermummte Gestalt, welche mit einem dünnen Lächeln auf den blassen Lippen im Schatten verschwindet. Anonym. Ich kenne seinen Namen nicht. Etwas, was es seit der Erschaffung des Systems nicht mehr gegeben hat. Angezogen und mit klopfenden Herzen rase ich die Treppe meines Wohnhauses herunter. Immer drei Stufen auf ein Mal nehmend. Die Turnschuhe quietschen auf der blitzsauberen Treppe und die Bewegungsmelder im Hausflur erwischen mich kaum noch schnell genug um mir zu leuchten. Sie legen lediglich eine Spur meines Laufs durchs Haus.
Unten angekommen krame ich hastig meine Schlüssel hervor und beiße die Zähne fest zusammen damit sie nicht vor Aufregung klappern. Ich fühle mich wie ein klappriges Skelett, welches nicht bemerkt hatte, wie klapprig es ist, bis es neben ein Schulbiologieskelett gestellt wurde und gemerkt hatte, wie armselig die dünnen Knöchlein und der zerbrechliche Schädel waren. Ich weiß, wie heruntergekommen ich in den zwei Jahren geworden bin und ich bin mir durchaus bewusst, wie ich jetzt aussehen muss. Klapprig, dürr mit wuschligen Haaren und ungesund blasser Haut. Ein armseliges Skelett in der Langeweile
dahin gesiecht wie eine tote Fliege. Dabei öffnet sich gerade eine Tür, welche mich zum Biologielehrsaal einlädt und genau diese Tür muss ich erreichen! Ich reiße die Haustür auf und stürme in die schwarze Nacht hinaus. Dicke Wolken bedecken den Himmel. Mein Handy im Headset verkündet mir, dass ich mich warm anziehen sollte, da es kalt wird, doch es ist mir egal. Ich renne über den Parkplatz, als wäre der Teufel hinter mir her und am Auto angekommen stoße ich noch im Bremsvorgang den Schlüssel ins Schloss. Sofort blinken die Scheinwerfer und ich springe in den Wagen. Der Autopilot scannt meine
Zugangsdaten und schaltet mit einem durchdringenden Fiepen den Motor ein. Wie ein Sprinter habe ich auf diesen Moment gewartet und schlage meinen Fuß auf das Gaspedal. Sofort murrt der Display auf dem Armaturenbrett mit mir, da ich rückwärts ausparken sollte und soeben dem Nachbarn eine dicke Beule in den Kofferraum gefahren habe. Ich ignoriere das Geräusch und setze rückwärts aus der Parklücke aus und sobald ich dies getan habe, stoße ich wieder mit aller Kraft aufs Gaspedal. Mein altes Schrottauto entschließt sich, den Protest gegen mich aufzugeben. Kurz drehen die Reifen durch und dann macht der Wagen einen Satz nach vorn
und verschwindet voller Erwartungen in der hell erleuchteten Straße. Für mein Unüberlegtes Eingreifen erhielt ich lediglich eine Verwarnung. Nichts weiter. Der Fall wurde unter Verschluss gehalten und eigentlich sollte ich mich umdrehen und ihn vergessen, froh über die milde Strafe sein, die ich bekommen hatte, aber ich konnte es nicht. Dieser Kerl, er war schuldig gewesen! Das hatte ich mit Gewissheit gesehen und ich war nie abwesend. Nie träumte ich und nie zögerte ich, etwas in die Hand zu nehmen. Auch wenn ich Angst hatte meinen Job
zu verlieren, hatte ich doch nicht mehr ruhig schlafen können, bei dem Gedanken, dass ER noch auf freiem Fuß war. Dass einer die Würde der Menschen und unserer Gesellschaft anzutasten wagte. Obwohl der Hauptgrund wohl war, dass ich mich persönlich gekränkt fühlte. Jemand hatte mit mir gespielt wie mit einem dummen Hund aber ich biss zurück! Niemals konnte ich es auf mir sitzen lassen, jemanden gestellt zu haben und ihn entwischen lassen zu haben. Zwei Wochen später hatte ich es geschafft zwei meiner Kollegen von diesem Vorfall zu überreden. Der alte Kommissar Limbardt hatte mich
aufmerksam angehört, so wie es seine Art war. Die Zigarre aus dem Mundwinkel ragend und genüsslich ziehend, das Gesicht vor Entspannung schlaff, hatte er da gesessen und doch hatten die perlgrauen Augen Intelligenz und Aufmerksamkeit ausgestrahlt. Er hatte nicht viel dazu gesagt, mich nur gefragt ob ich wisse, worauf ich mich da einließe. Und natürlich hatte ich ja gesagt, auch wenn ich Angst hatte. Ich ließ die Angst nicht zu. Verschloss sie; vergaß sie. Und auch wenn ich gedacht hatte, er meine die Anstrengung und die schwierigen Ermittlungen, so musste ich mir eingestehen dass ich nicht den geringsten Hauch einer Ahnung hatte.
Den Zweiten, den ich fragte, und somit der Dritten im Bunde, war ein eher unauffälliger junger Mann. Josh Bloom. Um ehrlich zu sein, fragte ich ihn nicht, weil er auf mich einen besonders intelligenten Eindruck machte, nein, Josh war nicht der Ermittlertyp und hatte bei der Berufswahl meiner Meinung nach gründlich tief ins Klo gelangt, ich hatte ihn gewählt weil er zuverlässig war und weil man ihn deswegen schätzte. Ich schätzte ihn deswegen nicht. Ich fand, er tappe ganz blind durch die Welt, einfach nur den Anweisungen folgend, aber ich brauchte Leute die Ansehen inne hatten und Josh
würde mir helfen, das wusste ich seitdem ich diese heimlichen Blicke von ihm bemerkt hatte. Es war rückradslos gewesen, seine heimlichen Gefühle oder besser gesagt Vorlieben auszunutzen. Aber Josh hatte nicht darüber nachgedacht und so verschwendete ich auch keinen weiteren Gedanken mehr daran. Zu dritt gingen wir zum Kriminalhauptkommissar unseres Bezirks und reichten Beschwerde über die Fahrlässigkeit dieses Falls ein. Eine Woche lang wollte man uns nicht antworten, auch wenn wir leibhaftig vor der Tür standen. Wütend musste ich wieder nach Hause gehen und einsehen,
dass ich diese Demütigung von Isaac, oder John, hinnehmen müsste. Ich hatte es nicht gekonnt und immer wieder im fünf Minuten Takt beim Polizeipräsidium angerufen und man hatte mir geantwortet. Auf eine Weise, die ich nie in Betracht gezogen hatte. Um drei Uhr nachts klingelte mein Handy. Ich steckte den Stöpsel ins Ohr und murmelte ein dumpfes Guten Abend. Ich war aufgeblieben, da ich nicht hatte schlafen können und immer noch brannte die Wut in mir. „Guten Morgen, Joan Foster“, hatte eine mechanisch monotone Stimme mir geantwortet. Sofort hatte mein Herz zu Rasen
begonnen. Wer konnte es anders sein, als der Anonyme? „Wer sind Sie?“ Ich ließ ein Hologramm des Profils des Anrufers in die Luft projizieren und seltsamer Weise tauchte das Bild von Josh Bloom auf. Ein blonder junger Mann mit blauen Augen und einer geraden Nase. Nicht auffallend, nicht anonym. „Was haben Sie mit Josh Bloom gemacht?!“, brach es aus mir hervor und heiße Übelkeit stieg in mir auf als ich an sein Lächeln dachte, als er mir morgens den Kaffee auf den Schreibtisch gestellt hatte mit zwei Herzchenkeksen auf der Untertasse, die ich noch nie in der Cafeteria gesehen hatte.
„Nichts freilich“, antwortete die Stimme und ich biss mir auf die Lippe. Jedes Gespräch wurde aufgezeichnet. Wie dumm war Isaac/John mich anzurufen und das auch noch als Josh. „Was wollen Sie von mir?“ „Es ist eher die Frage, was Sie von mir wollen“, antwortete die Stimme monoton. Der Computer zerhackte jede kleinste Silbe in gleichlange Laute und machte es so irgendwie schwer, den Sinn der Worte zu verstehen. „Schon seit Tagen rennen Sie die Türen des armen Hauptkommissars ein, damit man Ihren Fall endlich unter die Lupe nimmt. Dabei ist er schon längst in sicheren
Händen.“ War das wirklich der Anonyme? Das konnte nicht sein? Warum sollte er mir von den Ermittlungen über ihn erzählen…? „Wer sind Sie und warum rufen Sie so spät an und warum haben Sie Joshs Profil?“ „Sie schließen selbstverständlich aus, dass ich wirklich Josh Bloom bin. Das ist willkürlich, ein Kommissar sollte immer auch die unwahrscheinlichsten Chancen bedenken. Ich hatte mehr auf die Musterschülerin erhofft, welche wegen einer solchen Lappalie die Polizei auf Trab hält.“ „Eine Lappalie nennen Sie das?! Das System wurde einfach so ausgenutzt und
hintergangen! Damit hintergeht man automatisch die Würde des Menschen und unsere Gesellschaft. Das heißt, es ist eine Tätigkeit die wir als Polizei unterbinden müssen.“ Ich presse den letzten Satz zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Ich glaube eher, dass Sie eine schlechte Verliererin sind, Joan Foster.“ „WARUM RUFEN SIE MCIH AN!“, brülle ich ins Headset. Meine Wut der letzten Wochen verlöschte und auch meine Wut auf ihn war auf ein Mal wie weggeblasen. Was tat ich hier bloß? „Ist das nicht ein Beweis für ihren Hass gegen die Unterlegenheit? Mein Name ist im System gespeichert,
jedoch unter einen anderen Tätigkeit. Ja, Joan Foster, so gesehen habe auch ich das System betrogen, denn ich praktiziere die Ermittlungen als „Hobby“ nicht als Beruf und so wird es nicht eingetragen, wenn ich es nicht will. Das dient dazu, dass Hacker, wie Anonym, mit dem Sie ja schon Bekanntschaft gemacht haben, mich nicht finden können. Denn sie stellen für jeden Ermittler eine potentielle Gefahr dar. Joan, kannst du dir denken, welche?“ Ich starrte an die Zimmerdecke und stand vom Bett auf. Was konnte ich mich denken? „Zuerst bleiben wir beim Siezen! Und außerdem könnte er… ja“,
mir kommt es nur schwerlich über die Lippen. In den drei Wochen die seit dem regnerischen Nachmittag vergangen sind, war mir jedoch der unliebsame Gedanken oft genug durch den Kopf gegangen. „… er könnte das System so manipulieren, dass eine Straftat in den Register eures Namen eingetragen wird und jeder Polizist, der Euch dann noch ohne Verhandlung frei lassen würde, würde selbst als Verbrecher markiert. So gesehen wäre das das Aus für die Polizei oder für Sie und da Sie genauso selbstischer wie egoistisch sind, wissen Sie, dass der Verlierer Sie sein würden und was mögen Sie schon am Verlieren?“ Ein Lachen drang durch die Leitung. Der,
der sich als Kommissar ausgab schien amüsiert über diese Worte, welche mein klarer Verstand gesponnen und meine schonungslose Zunge nur zu gern über die Lippen geführt hatte. Egal mit wem ich sprach, er musste entweder sehr intelligent sein oder besonders dumm. Wäre er dumm, würde er die Beleidigung nicht verstehen, wäre er intelligent, würde er sie mehr als Kompliment und als Antwort werten. „Gut, Foster, Sie haben mir bewiesen, dass es nicht Naivität war, die Euch zum Handeln im Präsidium bewegte. Ab Morgen werde ich sie mit in meine Hobbyaktivitäten einbeziehen. Anonym wird gefasst, dass garantiere ich, denn
ich hasse es wirklich zu Verlieren. Und mit dieser offenen Konfrontation mit der Polizei hat er nicht nur Sie, sondern auch mich herausgefordert.“ „Sie wollen mich also in den Fall einbeziehen?“, fragte ich im Geschäftston. Endlich, dachte ich bei mir und lechzte nach diesem Job. „Ja, auf eine gute Partie, Joan Foster.“ „Auf eine gute Partie.“, antwortete ich mit trockener Kehle. Diese Partie währte nun jedoch schon zwei Jahre lang. Am Morgen nach dem Anruf war ich in ein anderes Gebäude, ein Hotel, beordert worden. Auf meinem Profil stand Frei und dieses Wort sollte noch lange dort
stehen. Damals hatte ich mich dafür schon fast geschämt, aber mein Stolz hatte mich angetrieben. Das letzte was ich wollte, war die Ermittlungen wegen so einem Mist hinzuschmeißen. So hatte ich das Privatgebäude betreten. Vollkommen aufgeregt und nach außen hin doch wie eine normale junge Frau. Tausend Mal hatte ich die Bluse zurecht gezupft und mir über die Lippen geleckt. Das Handy an der Wange hatte auf ein Mal gekribbelt, obwohl ich es schon seit Jahren so trug, über dem Ohr befestigt, den Stecker im Innern. Mit dem Fahrstuhl war ich nach Oben gefahren und an der Tür wurde mein Profil vor dem Eintreten noch ein Mal gescannt.
Sicherheitsmaßnahmen hatte er also auch schon ergriffen, auch wenn diese für Anonym kein Problem gewesen wären. Hinter der Tür hatte mich Josh strahlend begrüßt und hinter Josh hatte ich ein Profil gesehen. Jacob Lloyd. Arbeitslos. 24 J. Josh hatte meinen Blick bemerkt und ein unliebsamer Ausdruck war über sein Gesicht gehuscht. Er beugte sich zu mir herunter und flüsterte in das Ohr ohne Headset: „Er ist sonderbar, aber ein Intelligenzbombenleger.“ Für die seltsame Bezeichnung fand ich keine Worte. Das war Joshs Merkmal, dass ihn wohl in irgendeiner Hinsicht
klug erscheinen ließ. Ich nickte nur und schritt auf die Couch zu, auf der eine große Gestalt zu erkennen war, welche den Kopf nach hinten legte, als er an der Zigarette zog. „Morgen“, begrüßte ich und setzte mich ihm gegenüber auf einen Sessel. Er blickte hoch und zwei stahlgraue Augen blickten mich prüfend an. Schatten lagen unter ihnen und unter den buschigen Augenbrauen war die Farbe des Graus so klar wie ein Spiegel. Dennoch trafen sie ein wie Blitze und ich schluckte. Er aber lächelte, wie er da auf der Couch saß, die Füße auf dem Tisch gestapelt, mit der Linken die Zigarette zwischen dem kleinen und dem
Ringfinger haltend und die schwarzen Haare unordentlich abstehend. Er sah aus wie ein Teenager, unrasiert und lässig. Er sah nicht aus wie ein Meisterdetektiv und doch sollte ich mich mit seinen seltsamen Angewohnheiten über zwei Jahre hinweg anfreunden, genauso wie ich ihn schätzen lernen sollte. Mit quietschenden Reifen schlidderte mein Auto gegen das Privatparkplatzschild unseres zweiten Hotels, Treffpunkt B. Durch den kleinen, ramponierten Wagen lief ein Ruck und meine Nase bretterte fast mit voller Wucht aufs Lenkrad. Aber nur
fast. Rot blinkte der Display meiner Einparkhilfe und erinnerte mich daran, dass ich für die Parklücken doch den Autopiloten fahren lassen sollte, ich protestierte aber erfolgreich in dem ich das Gerät herunterfuhr. Hell erleuchtet lag das Nobelhotel vor mir. Es ragte in den bewölkten Himmel hinauf und starrte mich mit den großen Fenstern an. Ich komme mir klein vor. Die enge Karosserie umschließt mich und außerhalb von ihr herrscht die Nacht über der Stadt. Seitdem System laufen keine betrunkenen Jugendlichen mehr auf den Straßen herum. Ihre Profile würden sofort anfangen rot zu blinken, wenn sie nach ihrer Zeit nach
draußen gehen würden. So ist die Stadt geradezu leer. Leer. Verlassen. Allein. Heute habe ich endlich einen Notanruf bekommen, endlich scheint der Fall eine Wendung zu nehmen. Entschlossen reiße ich die Fahrertür auf und springe auf die Straße. Die Sohlen meiner Turnschuhe tragen mich sofort federnden Schrittes in Richtung Eingang des Hotels. Mit herablassenden Blicken und einem kundenfreundlichen Lächeln empfangen mich die Türsteher und winken mich immer noch gekünstelt lächelnd durch. Weder ich, noch der Rest unseres Ermittlerteams sieht so aus wie normale Besucher solcher Hotelsuites. Aber nach der dauerhaften
Strapaze des Falls sieht keiner mehr schnieke aus. Auch meine Bluse ist fleckig und auch unter meinen Augen sind Schatten zu erkennen. Ich sehe schon lange nicht mehr ganz gesund aus. Zu blass und zu dünn. Aber das interessiert mich nicht. Ich will nur eins: Diesen Fall beenden und Anonym eine Straftat nachweisen! Auch die Angestellte an der Information mustert mich mit einem verwunderten Blick, aber sie hat mich schon oft gesehen und winkt mich durch. Ich lasse mir dieses Zeichen nicht zwei Mal geben und stapfe in Richtung Aufzug. So oft bin ich schon hier entlang gelaufen, auch mitten in der Nacht. Ich
habe so oft die strahlend weißen Lämpchen in der Decke angesehen, darauf wartend, dass sie wie die Billigbirnen bei mir zu Hause flackerten. Immer wieder hatte ich mich über das Gefühl der Schwerelosigkeit auf dem schönen Teppich gefreut und immer wieder hatte ich mir gesagt, dass ich bald ins Präsidium zurückkehren würde. Dass ich nicht lange so unehrenhaft und heimlich herumpfuschen würde. Und wie oft hatte ich mich geirrt! Heute sollte dieser Gedanke endlich der Wahrheit entsprechen, oder? Jacob Lloyds Partie sollte eine gute Wendung nehmen, ansonsten würde er mich nicht
herbestellen. Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich und die ruhige Musik lullte mich ein. Auf einem Bildschirm neben mir konnte ich eine Bewertung an den Hotelservice hinterlassen oder Beschwerden abliefern, aber ich ignoriere diese Tafel schon lange. So etwas interessiert mich nicht. Ich bin zielstrebig und sobald ich ein Ziel ins Auge gefasst habe, es gescannt und mich auseinandergesetzt habe, weiß ich, dass ich nicht eher ruhen werde, bis ich dieses Ziel erreicht habe. Ich muss diesen Fall einfach zu Ende bringen. Ich muss! Nervös fummel ich am Headset herum, oder Handy. Manche nennen es HH. Für
HandyHeadset. Es ist ein Stecker im Ohr mit einem kleinen Mikrofon. Am Henkel, mit dem man sich diesen Stecker hinters Ohr klemmt, sind Knöpfe angebracht, mit welchen man die Funktionen des Handys als Hologramm projizieren kann und so alle möglichen Funktionen im kleinen Gerät immer mit sich herumträgt. Es ist so alltäglich geworden wie Unterwäsche. Manchmal lasse ich es sogar beim Schlafen drin und ich bin nicht die einzige, alle machen es so. So sind wir verbunden und immer erreichbar für die anderen. So können wir als verlässliche Menschen besser existieren. Auch wenn ich das HH immer trage, so
juckt es jetzt wie verrückt, genauso wie die Bügel meines BHs kratzen und der Kragen meiner Bluse zu eng scheint. Alles wird unangenehm, während in mir die Vorfreude wie die Glut im Ofen glimmt. Bald, bald, bald! Kaum öffnen sich die glatten Fahrstuhltüren renne ich durch den Flur zur Tür der Suite von Lloyd, welche er sich für den Fall als zweite Zentrale gemietet hatte. Die anderen Türen fliegen an mir vorbei wie ein Traum, nur diese eine Tür ist für mich noch wichtig. So wichtig, dass ich gegen sie knalle, als ich zu spät merke, dass sie abgeschlossen ist. Das gibt meiner schwelgenden Stimmung einen kleinen
Dämpfer. Aber immer noch enthusiastisch schlage ich mit der Faust gegen das massive Holz. Stimmen dringen an mein Ohr und ich schlage noch ein weiteres Mal. Das Gemurmel verstummt. Die Tür wird geöffnet und ich falle Josh fast in die Arme, fange mich aber noch gerade so und fahre mir mit der Hand, welche ich nach ihm ausgestreckt hatte, durch die Haare, damit er bloß nicht auf falsche Gedanken kommt. Als ob ich seine Hilfe bräuchte! „Lloyd!“, rufe ich und stapfe in den Salon der Suite, wobei ich Josh herumdrucksend stehen lasse. Dämmerlicht empfängt mich mit den weichen Armen der Müdigkeit. Alle
Lampen sind aus, dafür strahlen überall an den Wänden Hologramme, auf denen sich Zahlen, Bilder, oder Namen auflisten, verschieben und neu dazukommen. Und in der Mitte des schattenhaften Schauspiels steht wie ein Dirigent Jacob Lloyd. Die Wirbelsäule auf diese unnatürliche Weise unglaublich durchgestreckt. So sehr, dass man diesen Rücken schon gar nicht mehr gerade nennen kann. Die schwarzen Haare zerwuschelt wie eh und je, die Zigarette aus dem Mundwinkel hängend und mit den Armen all die Daten so schnell ordnend, dass mein Verstand kaum hinterherkommt. Die Augen des Meisterdetektivs huschen so
schnell hin und her, dass man ihre Farbe gar nicht mehr ausmachen kann. Er sieht mich nicht, so tief reichen seine Gedanken. Hinter ihm auf der Couch sitzt Limbardt und schiebt um einiges langsamer Hologramme hin und her. Er tippt irgendetwas auf das projizierte Tastenfeld ein und schickt die Nachricht ab, als er mich bemerkt. Feine Fältchen graben sich in die alte Haut um seine mausgrauen Augen. Der Qualm seiner Zigarre hat schon den gesamten abgedunkelten Raum ausgefüllt. Es stinkt nach Rauch und abgestandener Luft. Es stinkt nach dem Geruch, welcher mich schon seit zwei Jahren
verfolgt. „Lloyd, Joan ist hier“, meldet Limbardt dem jungen Mann, welcher immer noch wie ein Tänzer die Hologramme durch den Raum schießt. Seine geschmeidigen Finger scheinen in der Luft wirklich etwas fassen zu können, sie scheinen feingliedriger als jegliches Lebewesen dieser Erde zu sein. Sie huschen durch die Luft wie Spinnen, erhellt von der Glut seines Zigarettenstummels. Er würdigt mich keines Blickes. Immer noch steht er da und immer noch kreisen seine Augen so schnell, dass einem beim Zusehen schlecht wird. Nie habe ich einen solch seltsamen Menschen kennen gelernt. Alles an ihm ist anders. Seine
Art zu stehen, den Rücken so weit durchgestreckt, wie es die Knochen gerade noch bewerkstelligen konnten. Seine hohen Wangenknochen über denen sich die buschigen Augenbrauen erhoben wie Berge. Die markante Nase, welche seinem Gesicht eine solche Männlichkeit verlieh, wie es einer von seiner Statur kaum besitzt. Ich sehe wie sich sein linker Mundwinkel anhebt. So redet er immer. Halb nuschelnd, da er zwischen die Zähne die Zigarette geklemmt hat. Es sieht nicht nur seltsam aus, es klingt auch unheimlich. Kalt und doch vertraut schallt seine Stimme aus der Dunkelheit, vom stinkenden Rauch begleitet, zu mir herüber: „Haben Sie Schokolade
mitgebracht?“ „Haben Sie Schokolade mitgebracht?“ „Wie meinen Sie das?“, fragte ich verblüfft. Wie kam er jetzt auf Schokolade?. Mit verzogener Miene kaute Jacob Lloyd auf dem Filter seines Zigarettenstummels herum. Später habe ich erfahren, dass dieser fünfundzwanzig Jahre alte Mann, mit den unrasierten Kotletten und der markanten Nase, mit den scharfen Augen und den dunklen Ringern unter ihnen… Dass dieser Kommissar total in Süßigkeiten verliebt war. Immer fragte er mich wenn ich die Zentrale betrat, ob ich welche mitgebracht hatte. Besonders
auf Schokolade konnte er den ganzen Tag herumkauen. Es sah wirklich seltsam aus, wenn er eine halbe Tafel Schokolade aus dem Mundwinkel hängend plus Zigarette vor dir stand und dir die Fakten der Unterlagen erläuterte. Er erläuterte auch nie etwas zwei Mal. Antwortete noch nicht ein Mal auf die Aufforderung dazu. Er drehte sich um, drückte den Rücken so weit durch und schritt von dannen. Meist fläzte er auf der Couch, vollkommen reglos überlegend. Die Augen an die Decke gerichtet. Vor ihm auf dem Tisch Berge von Süßigkeiten gestapelt, um ihn herum überall leere Verpackungen liegend… So verbrachte er
die meiste Zeit und so funktionierten seine Gedanken am besten. Am ersten Tag hatte er kurz genuschelt: „… Süßigkeiten mit viel Zucker steigern mein Denkvermögen um 30%, Schokolade 69%... Cola 70%, Kaffee 40%, Liegemöglichkeit bietet Steigerung von 10%...“ Nie verließ er die Zentrale und immer war er es, der vor sich hinmurmelnd in der Ecke saß. Zu Beginn war ich diejenige, welche jeden Tag bei ihm saß und versuchte seinen schnellen Gedanken zu folgen. Aber schließlich begann auch ich wie Limbardt nur die Aufgaben zu erledigen, welche Lloyd mir zuteilte. Diese wurden
jedoch allmählich weniger. Bis sie nach fünf Monaten vollkommen versiegten. Anonym war nichts. Und egal wie merkwürdig und ausgefallen die Methoden des Ermittlers, egal wie hoch die Steigerung des Denkvermögens… er hinterließ keine Spuren. Und so versank ich im Sumpf der Langeweile. Jeden Tag aufs Neue kam ich in die dunkle Suite, vollgepafft mit Zigarrenqualm. Jeden Tag riss ich die Fenster auf und beobachtete, wie sich das Licht der Sonne auf Lloyds Haut strahlend weiß abhob, denn er war so blass wie Papier. Nie hatte ich gedacht, dass Langeweile einen wirklich umbringen könnte. Aber
das konnte sie. Langsam aber sicher zwang sie meinen Willen und Geist nieder. Riss die Mauer Stück für Stück ein. Jeden Tag nichts. Nichts an Informationen, keine Spur. Das Nichts lachte uns namenlos entgegen. Das Nichts ließ Lloyd vor Frust fünf Familientafeln vernaschen und das Nichts war es, welches die Schatten unter meine Augen malte. Joshs gerade Schultern wurden rund vor Müdigkeit, Limbardts scharfe Augen wurden stumpf und meine Entschlossenheit wurde vom Nichts weggesperrt. Sie war noch da, doch sie brachte mir nichts, denn alles was ich tun konnte, war von diesem Nichts verschlungen worden. Nichts,
nichts, nichts! Es verschlang uns, zerfraß unseren Stolz und ließ uns wie Vampire dahinvegetieren. Dieses Nichts, ich wollte ihm nie wieder begegnen, denn es war mein schlimmster Albtraum. Ich warf mich nachts hin und her, weil ich wusste, dass ich nichts tun konnte. Tagsüber ging ich alle Möglichkeiten durch um auf eben dieses Nichts zu enden. Das Leben schien immer in der selben Sackgasse zu münden… Und jeden Morgen aufs Neue nuschelte er mir als Begrüßung entgegen: „Haben Sie Schokolade dabei?“ „Warum haben Sie mich herbestellt?“, ignoriere ich seine Frage und
bombardiere ihn meinerseits, die Hände vor der Brust verschränkt. Ruhig spüre ich mein Herz gegen meine Brust schlagen. Kalt spüre ich den Atem in meiner Kehle. So kalt, dass er brennt. „Herbestellt… Sie? Ja, das habe ich wohl…“, er fuchtelte mit den Armen herum und sofort erscheint ein gewaltiger Bildschirm an der abgedeckten Fensterwand. Ich sehe, wie Lloyd Daten hin und her schiebt als würde er gerade Tetris spielen. „Wir haben etwas Interessantes gefunden.“ Seine Hände fallen herunter und baumeln hinter ihm in der Luft. Sein Rücken ist so weit durchgestreckt, dass die Arme schon fast einsam hinter ihm
hängen. Allein. Es sieht seltsam aus, aber an diese unnatürliche Haltung habe ich mich schon fast gewöhnt. Obwohl ich das Gefühl habe, das niemals gänzlich zu können. Das Hologramm vor ihm wirft einen kränklichen Schimmer auf seine Haut, sodass er noch weniger wie ein normaler Mensch aussieht und die Schatten unter seinen dunklen Augen noch schwärzer wirken. Ich wende meinen Blick von ihm ab und richte ihn auf das Hologramm. Eine Großaufnahme eines mir irgendwoher bekannten Gebäudetrakts nimmt fast das gesamte Hologramm ein. Es ist ein graues, schmuckloses Gebäude,
kastenförmig und kalt. Es ist nicht schwierig zu erkennen, dass es eines der hochmodernen Gefängnisse ist. Schlicht und ohne Stacheldraht und doch sicherer als eine einsame Insel. Warum bloß ein Gefängnis? Unten rechts ist eine Kartei der Mitarbeiter abgebildet. Viele, hunderte, endlose Gesichter sind dort in so klein aufgelistet, dass ich sie nicht erkennen kann. Neben dieser Miniaturkartei prunkt das Bild einer Videoaufnahme, auf dem man in der Vogelperspektive auf das Haupt einer stattlichen Frau blickt, welche die Uniform eines Wächters trägt. Links neben dem Bild von ihr ist anscheinend ihr Profil
abgebildet. Johanna Fleur. 34 years old, turnkey, no criminal offences. Alles im Reinen. Mein Blick schießt wieder zu Lloyd, welcher immer noch mit dem schiefen Kreuz da steht und herzhaft in eine Schokolade beißt. Das Knacken rast durch den Raum, halt wieder. Es klingt als würde ein Genick brechen, zermalmt von seinen Zähnen. „Anonym ist nicht dumm. Wäre er das, hätte ich ihn gefunden. Aber weil er nicht dumm ist, muss er extra sein Profil auf Anonym gestellt haben. Er wäre nicht aufgefallen, hätte sein Profil einen Namen angezeigt. Er wollte uns herausfordern, der Polizei sagen, dass er
existiert. Das wiederum heißt, dass er etwas vorhat. Eher gesagt, vorhatte, denn eigentlich müsste er es sofort getan haben. Hat er aber nicht. Etwas hat ihn gehindert. Wir waren das nicht. Wir tappen im Dunkeln. Aber er hat keine intelligenteren Verfolger, also muss es ein Zufall gewesen sein. Könnt ihr folgen?“ „Ja“, sage ich sofort, doch neben mir scheint Josh weniger klaren Verstandes zu sein. „Er hat… was tun wollen?“ „Er hatte etwas gegen die Regierung vor. Einen Plot, einen Anschlag. Aber ein Zufall muss ihn gehindert haben.“ Jetzt nickt auch Josh, auch wenn in
seinen graublauen Augen immer noch Zweifel stehen. Limbardt hingegen pafft ruhig seine Zigarre und blickt dem Rauch hinterher, als wäre nichts los. Alles nur Langeweile, alles bedeutungslos; nichts. So weit waren wir auch schon vor Monaten gewesen. „Ein Zufall muss ihn gehindert haben. Zwei Tage nachdem er sich Foster offenbarte, stellte die Regierung den Bau dieses Gebäudetrakts fertig und veranlasste die Verlegung der gefährlichsten Schwerverbrecher dieser Stadt in dieses neue Hochsicherheitsgefängnis. Nichts Besonderes. Doch heute vor drei Stunden haben die Kameras diese Person
identifiziert, welche sich per Dienstausweis Zugang zu dem Gebäude verschaffte. Laut Profil ist sie Angestellte dieser Anstalt, keiner würde das bezweifeln. Schaut man sich aber die Mitarbeiterliste an, wurde sie vor einer Woche erst eingetragen. Nichts Auffälliges? Natürlich. Aber auf den Überwachungsbändern des Gefängnisses East Centre arbeitete diese Person vor zwei Wochen bei wiederum dieser Anstalt. Sie wurde vor drei Tagen aus dem Register gelöscht und nun tritt sie hier auf. Einen Jobwechsel? Nein, wenn man die Register der umliegenden Gefängnisse betrachtet stößt man immer wieder auf diese Dame. Sie taucht auf
und verschwindet wieder. Zudem rief ich beim neuen Hochsicherheitsgefängnis an, in der Geschäftsleitung. Diese sagte mir, sie habe noch nie von einer gewissen Madame Fleur gehört und könne sich an keine solche Mitarbeiterin erinnern. Bei East Centre dasselbe.“ Wieder beißen seine Kiefer auf die Schokolade und das Knacken zerreißt die Stille wie ein Donnerschlag. Seine Stimme wird immer schneller und undeutlicher. „Diese Person ist also in allen umliegenden Gefängnissen eingestellt worden, ohne dass der Chef sie überhaupt kannte. Ihr Profil weist sie aber als Angestellt auf. Es muss
gefälscht sein. Keiner kann das außer Anonym und ich bin mir sicher, dass wir es nicht mit einer anderen Täterin zu tun haben, denn sie scheint irgendjemanden zu suchen, der Anonym vor zwei Jahren durch die Lappen gegangen ist. Jemanden, den er aus der Haft befreien wollte? Vielleicht. Eventuell auch eine Person, die er zum Schweigen bringen muss.“ „Wo ist die Frau jetzt?!“, fahre ich hoch und unterbreche ihn. Seine stahlgrauen Augen starren mich über den Hemdskragen hinweg an. Er hasst es, wenn man ihn unterbricht, aber ich kann nicht anders. So schnell hat er so etwas herausgefunden? Anhand einer
Überwachungsaufnahme einer Frau? Ich beiße mir auf die Lippen und bebe innerlich vor Erregung. So schnell, dass es Anonym garantiert nicht ahnt. „Wo ist sie?“ „Sie verlässt das Gebäude.“ Seine spinnenartigen Finger machen eine kurze, schnelle Bewegung und ich sehe wie die Frau diskret an der Überwachungskamera vorbei geht und aus dem Blickfeld verschwindet. Ihre breiten Hüften tanzen bei jedem Schritt und ihr wunderschönes Gesicht ist hart wie Stein. Eine Komplizin von Anonym. Johanna Fleur. Hastig fahren meine Finger übers HH und verbinden mich in Sekundenschnelle
mit der Polizei. „Hall-„, der Angerufene kommt nicht weit. „Wir sind die Ermittlungseinheit im Falle Anonym! Wir haben einen Komplizen ausfindig gemacht. Wir haben Neuigkeiten und wir brauchen sofort polizeiliche Unterstützung!“ „Bitte wer?“ „Jetzt schalten Sie ihr Hirn ein, Sie Friedenswächterchen! Zwei Polizeieinheiten, bewaffnet. Stufe zwei. Sollen sich sofort auf den Weg zum Hochsicherheitsgefängnis in South City machen. Gebäude umstellen. Keinen rauslassen und auf Anweisungen unsererseits warten. Der Fall wird
geleitet von Eduard Limbardt, Josh Bloom und Joan Foster. Beeilen Sie sich!“, ich lege auf, ziehe den Kragen meines Blazers zurecht und stapfe zur Tür. „Los Kollegen, oder wollt ihr in dieser Langeweile versauern?“ Eigentlich fand ich meinen Ruf, als wir aus dem Hotelzimmer traten doch sehr cool gelungen, auch wenn er eher dazu gedacht gewesen war, mich selbst anzuspornen. Jedenfalls verschwand diese Coolness sobald wir den Fahrstuhl betreten haben. Hustend stehe ich zwischen Lloyd und Limbardt. Der Rauch wabert durch die Luft wie eine weiße Schlange und
verschleiert dunstig die Sicht. Insgesamt scheint die kleine Kabine mir auf ein Mal viel zu eng. Zu eng für meine großspurigen Gedanken. Für mein Ich, welches am liebsten platzen würde vor Freude. Endlich! Wie oft hatten wir eine Fährte gehabt und sie dann als falsch abstempeln müssen? Wie oft?! Am liebsten würde ich mich jetzt vom engen Blazer befreien und aus dem Hotel rennen. Die Arme ausbreiten, den kalten Nachtwind spüren und die Lichter der Stadt in meinen geschlossenen Lidern zu spüren. Ich fühle mich so frei wie selten in meinem Leben, denn ich habe etwas erreicht. Obwohl… mein Seitenblick zu Lloyd lässt mich schmunzeln. Es war
eher sein Verstand der das hier in die Wege leitete. Das versetzt meiner Freiheit eine kleine Grenze, aber sie ist weit entfernt, mindestens so weit wie das gewaltige Lichtermeer der Stadt reicht. Und dennoch: „Wie kamt Ihr auf die Idee, beim Gefängnis zu suchen? Ich habe immer bei der Regierung und den bevorstehenden Planungen damals begonnen.“ Knackend beißt Lloyd in seine Schokolade, als brauche er ihren vollen Geschmack um erst richtig antworten zu können. Vielleicht stimmt das ja auch, denke ich. Zucker steigert nämlich wirklich seine Leistungskraft, gingen die Süßigkeiten aus war der schlaksige
Mann zwar immer noch verdammt klug, aber seine Intelligenz überragte nicht die höchsten Wolkenkratzer, sondern stand mit beiden Füßen auf dem Boden. Jetzt spiegelt sich in seinen dunklen Augen eine andere Welt wieder, eine vollkommen andere Sichtweise als bei anderen Menschen. Er sieht so aus, als würde er träumen. Nicht dahindösen, nein, sich ein Ziel ausmalen, welches er mit aller Kraft erreichen will. Und dieses Ziel liegt irgendwo hinter der Wand des Fahrstuhls und irgendwo in seinem Sichtfeld, welches wir nicht mal erahnen können. „Ein guter Ermittler muss auch das abwegigste in Betracht ziehen.“, seine grauen Augen fixieren
sich auf den Schlitz, welcher sich zwischen den Fahrstuhltüren auftut. Seine Pupillen werden kleiner und der metallische Glanz in ihnen ist so kalt wie frostiges Eisen. „Ihr seid jung und wisst nicht, wie lange es dauern kann bis man 100% der Möglichkeiten abgedeckt hat. Oft funktioniert das nicht. Wir haben erst 45% durchsucht, aber ich bin mir zu 73% sicher, dass wir richtig liegen. Politisch gesehen war die Verlegung zwar wichtig genug, das meiste wurde aber geheim gehalten und zwischen dem Koalitionsstreit ging die Sache fast unter. Wer sich ins System hacken kann, kommt auch an die Daten der Gefängnisse und wer in solchen
Daten herumwühlt hinterlässt Spuren. Wir dürfen nichts außer Acht lassen.“ Wieder beißt er mit den Backenzähnen ein Stückchen Schokolade ab, während in der anderen Seite des Mundes immer noch die schwelende Zigarette hängt. Knackend zermalmt sein Kiefer die Köstlichkeit, während er aus dem Fahrstuhl eilt. Wenn Lloyd geht, runden sich seine Schultern ab und sein Rücken wird krumm, das genaue Gegenteil von seiner Haltung beim Stehen. Wie Fledermausflügel tanzt sein Mantel hinter ihm her, der hochgeschlagene Jackenkragen verdeckt die unrasierten Bartstoppeln am Kinn und die schwarzen
Herrenschuhe an seinen Füßen wirken ausgetreten. Wie eine finstere Gestalt eilt er durch das Foyer des Hotels, durch die golden erleuchtete Halle. Er verschwimmt geradezu mit dem Hintergrund und sticht gleichzeitig heraus, auf seine seltsame Art. Hinter ihm stapft Limbardt, ebenfalls im langen braunen Mantel, drein. Sein Mundwinkel leicht angehoben und die Zigarette rot glühend, verheißungsvoll und unruhig, zwischen den Lippen hin und her drehend. Wie versteinert starre ich den beiden hinterher. Beide in langen Mänteln, mit struppigen Haaren und alle beide rauchend. Die Augen im Schatten
gelegen und die Haut so blass, dass es schon gefährlich ungesund aussieht. Beide düster und eine Aura ausstrahlend, die mich bis ins letzte Glied kitzelt. Wir werden Anonym schnappen! Und wie gern würde ich sehen, wie er verklagt wird… er, der mich zum Narren hielt. Mein Leben anhielt um mich zwei Jahre lang nur noch verrotten zu lassen. Wie gern!? „Wollen Sie im Nichts versinken oder ihm endlich ein Ende bereiten Foster?“ 73%... Diese Chance ist hoch. Wir müssen diese Frau nur noch kriegen und aus ihr herausbekommen, wer Anonym ist und wo er sich aufhält. Wir haben
gewonnen! Josh hinter mir nimmt meine dünnen Finger in seine große, warme Hand und lässt mich aus den eisigen Gedanken hochschrecken. Wütend funkle ich ihn an und entwinde meine Finger seinem Griff. „Wir sollten uns beeilen“, sagt er sofort, damit keine peinliche Pause entsteht, aber ich bin schon losgegangen. Ich weiß, dass er mir folgt, mich ungläubig ansieht aus seinen graublauen Augen und sich weiß Gott was fragt. „Dessen bin ich mir durchaus bewusst“, sage ich und auch wenn in meinem Innern eine erregende Vorfreude lodert, klingt meine Stimme so monoton wie die Sprechanlage
meines Autos. Nur kälter und selbstbewusster. Diskret und zielsicher. So schreite ich auch durch das Foyer, alles um mich herum vollkommen ignorierend, nur noch diesen einen Mann im Kapuzensweatshirt vor mir. Sein langer, dünner Hals und das hämische Lächeln auf seinen blassen Lippen. Kaum, dass ich mich versehe, stehe ich auch schon vor unserem Dienstfahrzeug. Es ist Limbardts Wagen, auch wenn er niemals am Steuer sitzt. Während Lloyd sich schweigend auf den Beifahrersitz des Kombis setzt, gehe ich ein Mal um den Wagen herum und steige bei der Fahrerseite ein. Kalt empfängt mich der raue Ledersitz und monoton begrüßt mich
die Stimme. Teilt mir mit, dass ich im letzten Monat bereits zwei kleinere Fahrunfälle hatte und vorsichtig sein solle, aber ich ignoriere sie und setze mit schlingernden Reifen rückwärts, noch bevor Josh die Tür zu knallen konnte. Er starrt mich durch den Rückspiegel entsetzt an, aber es interessiert mich nicht. Ich werde endlich siegen! Das ist das Einzige, woran ich denken kann, das Einzige, wofür ich die letzten Monate gelebt habe. „Zu 90% wird Ihnen Eure Dienstmarke in früher Zukunft dank des Fahrstils entzogen“, nuschelt Lloyd kauend hervor. Limbardt lacht grimmig, was
klingt wie ein Grollen tief aus einem Berg. Josh hingegen hat eine Miene wie Sieben Tage Regenwetter aufgesetzt, wahrscheinlich ohne es zu merken. Dennoch höre ich ein schnippisches Kommentar zwischen seinen Lippen hervorschnellen. „Wenn du nicht aufpasst, erleben wir den Einsatz nicht mehr!“ „Ja ja!“, keife ich nach hinten und drücke aufs Gaspedal. Krachend macht der große, dunkelblaue Kombi einen Satz nach vorn und prallt gegen den Kofferraum meines kleinen Zivilautos. „Es wird gebeten, keine materiellen Grenzen/Gegenstände zu streifen/berühren/anzufahren.
Weiterdessen ist dies der fünfte Punkt in Ihrem Verkehrsregister.“ Ich drehe das Lenkrad voll durch und drücke noch ein weiteres Mal aufs Gas. Dieses Mal kratzt der Dienstwagen an meinem Auto vorbei und hinterlässt eine lange Schliere im Lack, aber das sehe ich nicht mehr, denn ich heize mit 200km/h laut kreischenden Sirenen und einem noch wilder pochenden Herzen an all den gewaltigen Hochhäusern vorbei. Vor mir sehe ich, wie die Hologrammmarkierungen auf der Straße aufleuchten und die andren Fahrzeuge mit roten Pfeilen von meiner Spur weg weisen. Auf der Beifahrerseite wird außerdem eine Anzeige projiziert, mit
der ich sehen kann, wie viele Meter mich vom nächsten Fahrzeug trennen und wie weit die Bahn frei ist. Jedes Polizeiauto besitzt das, genauso wie eine Sirene, bei deren Einschalten auch gleich die Straßenhologramme, mit denen sie vernetzt ist, sich selbst einschalten und die anderen Wagen aus dem Weg lotsen. Lloyd greift neben mir vollkommen entspannt zum Funkgerät, während die dreckigen Häuserfassaden an uns haarscharf vorbeisausen, ich über Bordsteine schlingere und über ausnahmslos alle roten Ampeln heize. Es interessiert ihn nicht. Er sieht nur sein Ziel und das Funkgerät zwischen seinen feingliedrigen Fingern. „Hier spricht
Limbardt, der Leiter des Einsatzes. Wo sind die Einheiten?“. Seine Stimme ist schnell und flink, vernuschelt von den Schokoladenbrocken auf der Zunge und nur so gerade verständlich. Die Beine auf dem Armaturenbrett gestapelt liegt er da, während ich die Stadt unsicher mache und Josh immer blasser und grüner im Gesicht wird. Aus dem Funkgerät dringt keine Antwort. Eigentlich ist es kein Funkgerät, es wird in unserem Beruf nur noch immer so genannt. Im Armaturenbrett ist nur ein Display eingebettet mit einer Verbindung zu Hauptzentrale. Mein Blick huscht über das Display, auf dem außerdem noch ein
Navi angezeigt wird. Wenn ich gleich auf die Schnellstraße abbiege, kann ich in fünf Minuten da sein. Bei diesem Gefängnis. Bei dem Hinweis. Hinter mir zündet Limbardt eine Zigarre an und zieht genüsslich an ihr. Aus seinen Augen sprüht sanfte Belustigung, aber all dies scheint ihn nichts anzugehen, als sei er nur ein stiller Beobachter eines Theaterstücks. „Hier spricht Eve Levander, der Leiter dieses Einsatzes. Wir sind vor Ort und warten auf ihre Anweisungen.“ Um Lloyds schmale Lippen tanzt ein Lächeln. Unheimlich und papierweiß. „Gebäude umstellen, keinen hinaus oder hinein lassen. Ein Check aller Profile des
Gebäudes einweisen und nicht in Kontakt mit der Geschäftsführung treten. Nur beobachten. Weitere Anweisungen erhalten Sie, wenn wir angekommen sind.“ Lächelnd köpft er die nächste Tafel Schokolade. Knack. Es klingt wie ein brechendes Genick. Wieder ein Mal kam ich in die Zentrale und sah Lloyd genauso wie am Tage zuvor auf der Couch hocken. Sein Vorrat an Süßigkeiten schon beträchtlich dezimiert und immer noch die fünf Rechner um ihn schimmernd. Jeweils ein Laptop auf jeder Armlehne der Couch und drei Computer ihm gegenüber auf
dem Sofatisch. Zu seinen Füßen liegen überall leere Verpackungen von Schokolade, Gummibären oder Bonbons. Kaugummis mochte er nicht, das hatte ich schon herausgefunden und die alle für mich beansprucht. Und auch wenn ich Süßes auch selbst gern nasche, so wird mir jedes Mal beim Anblick dieses gewaltigen Haufens schlecht. „Wollen Sie nicht mal aufräumen?“, frage ich geringschätzig. Die letzten zwei Male hatte Josh fluchend das Sofa entmüllt während Herr Lloyd ihn ignorierend drauf gelegen hatte. Sich hin und wieder mal anders hingelegt hatte, damit Josh auch an den Müll auf dem er drauf lag dran kam.
Er sah mich noch nicht ein Mal an, schüttete sich zehn Lutschbonbons auf ein Mal in den Mund und nuschelte wortkarg wie immer: „Nein.“ „Sind Sie so stark in diesen Fall vernarrt, dass Sie noch nicht ein Mal einsehen, ihren eigenen Müll zu beseitigen?“ „Ja. Sie nicht?“, antwortete er vollkommen ruhig, mich immer noch nicht ansehend. „Nein!“, fuhr es aus mir heraus. Ich wollte diesen Kerl unter allen Umständen in die Finger bekommen, aber ich wollte mich dabei nicht selbst verlieren. Noch hatten die Ermittlungen
erst einen Monat gedauert und sie würden auch nicht mehr lange dauern, beschloss ich. „Sie sind eine zielstrebige junge Frau, welche eine klare Vorstellung von sich selbst und der Welt hat. Keine Schöne, gewiss, aber eine selbstsichere und wahrheitsgemäße. Euer Wille ist beeindruckend und das wisst ihr. Ich mag Euren Charakter und bin gespannt wie er sich entwickeln wird, Frau Foster.“ Sprachlos und irgendwie unheimlich berührt starrte ich ihn an. Mit dieser Person den ganzen Tag in einem dunklen Raum verbringen zu müssen kam mir auf ein Mal nicht mehr als ganz so gute
Entscheidung vor. „Was für Prioritäten haben Sie eigentlich, uns dermaßen herumzukommandieren?“, fragte ich scharf. „Ich weiß wer ich bin und ich weiß, dass es keine Person gibt, die ich so sehr hasse wie diesen Anonymen. Ich widme mich diesem Fall nicht, weil ich gerne einen Kommissaren spiele oder wegen meines Gerechtigkeitssinns. Ich will derjenige sein, der Anonym Schachmatt setzt und ich werde ihn ausliefern. Ich will das Spiel gegen ihn um jeden Preis gewinnen, denn das tut er, spielen. Er ist ein berechnender Mann, welcher ein krummes menschliches Rückrat besitzt und dem andre egal sind. Er ist ein
kluger Kopf, der denkt alle zum Narren halten zu können und er hat noch nie verloren.“ „Woher wollt Ihr das wissen?“ „Weil er genauso handelt, wie ich handeln würde und genauso wie ich, hat er noch nie verloren.“, seine stahlgrauen Augen schießen zu mir herüber und scannen mich innerhalb von einem Augenblick. „Glauben Sie mir, Joan Foster. Ich habe noch nie verloren und es auch nicht vor!“
Schreib mir was!
Schliddernd drifte ich einen Halbkreis bis der blaue Kombi wenige Zentimeter neben dem nächsten Polizeiwagen zum Stehen kommt. Ein Ruck fährt durchs Auto und schüttelt uns noch ein letztes Mal durch, dann ist die Fahrt vorbei. Sofort reißt Josh seine Tür auf und springt heraus, vergisst fast, sich abzuschnallen. Sein Gesicht ist grünlich verfärbt und die blonden Haare in seinem Nacken verschwitzt. Er scheint meinen Fahrstil nicht zu vertragen, dabei hat er sich als ausgebildeter Polizist doch auch an Verfolgungsjagden gewöhnen müssen.
Aber ich konnte nicht langsam fahren, beim besten Willen nicht. Ich bin aufgeregt wie fast noch nie in meinem Leben und meine Finger, welche sich im Leder des Lenkrads festgekrallt haben, lassen sich nur schwerlich lockern. Ein lautes Knacken neben mir lässt mich fast mit dem Kopf an die Decke des Kombis stoßen. Ich verfluche innerlich Lloyd und seine verdammte Schokolade und nestle nervös am Anschnallgurt herum. Sobald ich den Knopf gedrückt habe, reiße ich das schwarze Band von mir, als würde es mich fest ketten wie eine Handschelle. Ich reiße die Autotür auf und springe heraus. Federnd lande
ich sicher in den Sohlen meiner Turnschuhe, welche so gar nicht zum Blazer und Rock des Geschäftslooks passen wollen. Aber es ist mir egal, sie geben mir nämlich eine Standfestigkeit die mir kein anderes Schuhwerk dieser Welt geben kann. Und die brauche ich jetzt. Kalte Nachtluft fährt durch meine schwarze Strumpfhose und überzieht die Beine mit Gänsehaut. Meine Hände aber sind verschwitzt vor Aufregung und grimmiger Freude. Denn meinen Augen bietet sich ein schöner, fast befriedigender Anblick: 75 Mann der Spezialeinheit Stufe 2. Sie alle haben das Gebäude im fünf Meter Abstand
umstellt. Schwarze Schutzhelme verbergen ihre Gesichter, doch auf ihren Profilen sind grimmige Männer abgebildet. Trotz der Kälte und des Nieselregens stehen sie wie unbewegte Wächter da. Vollkommen starr, Felsen entgegen der Brandung. Ihre durchsichten Schilde schimmern vom perlenden Regen bespritzt, wie Diamant. Die Scheinwerfer der Einsatzwagen hinter ihnen strahlen sie von hinten an und malen lange Schatten auf den Boden, welcher staubig und rar vollkommen still unter meinen Füßen liegt. Hinter mir steigt Limbardt aus. Sein langer Mantel und der zerknitterte Hut
auf seinen Kopf spiegeln das typische Detektivbild wieder und auch das Funkeln in den alten Augen und das triumphierende Lächeln im Mundwinkel markieren ihn als erfolgreichen Ermittler. Die Schatten der Nacht verdecken die Hälfte seines Gesichts und doch bleibt mein Blick an ihm hängen. Dem Lächeln. Kaum merklich umspielt es den Mundwinkel, süßlich… genießend. Er spürt meinen Blick und sein Kopf wendet sich zu mir um, kurz spüre ich seinen analysierenden Blick auf mir ruhen und dann taucht das warmherzige Lächeln auf seinen rauen Lippen auf, welches Kinder zum Lachen bringt und Vertrauen erweckt. So
harmlos und doch weiß ich, dass er dieselbe grimmige, fast perverse Freude in sich spürt. Wie sie in mir aufkeimt und nach draußen will, vom kalten Verstand abgewiesen. Ein Hinweis, eine schlaflose Nacht. All das kann diese Freude bringen. Es fühlt sich an, als hätte Anonym einen Sprengsatz an mein Herz gebunden. Er tickt beharrlich, aber sein Verstummen ist in Sicht und dann wird mein Herz explodieren und alles in seiner Umgebung im Strudel des rauschenden Blutes begraben. Ich drehe mich wieder zurück zum Wagen und sehe, dass Lloyd noch immer in ihm hockt. Die Füße auf dem Armaturenbrett gestapelt und auf der
Schokolade kauend. „Komm raus, wir müssen handeln.“, sage ich und fahre mir durch die wuschligen, kurzen Haare, welche in einer solch dunklen Nacht gewiss leuchten wie ein Scheinwerfer, so weiß wie sie sind. Lloyd murmelt etwas Unverständliches und stiert geradeaus durch die Autoscheibe, auf der sich die kleinen Regentropfen sammeln. Sein Blick ist wie gebannt und er scheint sogar vergessen zu haben zu Kauen. Ich folge seinem Blick und sehe das Gebäude zum ersten Mal. Wie habe ich es übersehen können?! Gewaltig erhebt es sich. Flach und viereckig, weiß sich
gegen das Schwarz der Nacht abhebend. Irgendwie erhaben und doch schäbig, mit dem zerlotterten Drahtzaun und den schmutzigen Fenstern. Das sollte ein Gefängnis sein? Mit bloßem Auge sind keine Gitter in den Fenstern zu erkennen. Breit und eindrucksvoll erhebt sich der Trakt vor uns, mit finsteren Fenstern und einer tunnelartigen Eingangstür. Ich schlucke schwer, denn dieses Gebäude sieht ein Krankenhaus nicht unähnlich. Im Hellen würde es geradezu normal wirken, doch jetzt wirkt es düster und verheißungsvoll. Krankhaft. „Lloyd!“, rufe ich und er fährt wie vom Schlag getroffen aus seinen Gedanken
hoch. „Steig aus, Mann. Oder willst du festfrieren?“ „Das hier ist zu einfach“, murmelt er vor sich hin. Doch er nimmt auch die Füße vom Armaturenbrett um auszusteigen. Ich höre seine Autotür ins Schloss fallen und seine krumme Gestalt im Schatten des dunklen Glases. Zu einfach. Er hat recht. Zwei Jahre lang finden wir keine Spur vom Missetäter und dann soll auf ein Mal… aber einfach war sie ja nicht zu finden gewesen, oder? Mein Blick schießt zu Lloyd, durch dessen schwarzen Wuschelkopf der Nachtwind weht. Immer noch sind seine schattigen Augen auf das weiße Gebäude mit den schwarzen Fenstern
gerichtet. Zu einfach. Er hatte doch alles herausgefunden und das auch erst seit zwei Jahren und jetzt nannte er es zu einfach?! Nein, es ist nicht zu einfach! Ich gehe zu Lloyd auf die andere Seite des Wagens und winke Limbardt ebenfalls herbei. Josh ist schon da und tritt ungeduldig von einem Bein aufs andere. „So, das Gebäude ist umstellt und diese Frau muss sich immer noch im Innern aufhalten. Mithilfe der Überwachungskameras werden wir sie schnell ausfindig machen und sie wegen Betrug oder mit Hilfe bei diesem, festnehmen. Wie gehen wir dabei vor?“, ich hole Luft und mein Kopf arbeitet
vom kalten Wind aufgefrischt schnell. „Wir sollten hoffen, dass sie im Dunkeln uns noch nicht bemerkt hat. Wir sollten warten bis wir wissen, was sie dort will – oder besser gesagt, wen sie sucht.“ „Ich hoffe niemals, ich berechne“, antwortet Lloyd prompt auf meinen Vorschlag, ausnahmsweise mal nichts am Kauen. Kurz dreht er sich um und gibt ein stummes Handzeichen, sofort eilt ein ausgerüsteter Mann herbei. Schweren Schrittes, den Schutzhelm unterm Arm geklemmt und den Schild beiseite gelegt. Das Regenwasser benetzt sein grimmiges, braungebranntes Gesicht und klatscht die kurzen, braunen Haare an den Kopf. „Eve Levander, Leiter der
Einheiten.“, stellt er sich kurz und knapp vor. Levander… der Name passt nicht, denke ich schmunzelnd. Limbardt nickt knapp und übernimmt die Rolle Lloyds als Hauptkommissar: „Kurze Berichterstattung bitte.“ Eves große Hände holen ein kleines Tablett hervor und tippen zwei Mal auf den Display. Ein Hologramm der Profile erscheint, welche sich im Gebäude aufhalten. Es müssen mehrfache dutzend sein. Dennoch stimmt etwas mit dem Bild nicht. Die Frequenz ist verwackelt und immer wieder verschwimmt das ein oder andere Profil, insgesamt sind sie so eng aneinander gequetscht, dass man ihre Namen kaum lesen kann. „Es ist ein
Hochsicherheitsgefängnis und selbst als Polizei können wir nicht so einfach auf die Daten der Station zugreifen. Dazu müssten wir beim Direktor des Sicherheitssystems anfragen und Sie haben uns verboten, jeglichen Kontakt zur Einrichtung aufzunehmen.“ „Hat jemand das Gebäude verlassen?“, fragt Lloyd nuschelnd. Eves Blick ist leicht verwirrt beim Anblick von Lloyds Wuschelkopf, den hochgeschlagenen Kragen des zerknitterten und fleckigen Hemdes und der durchgestreckten Haltung seiner Wirbelsäule. Auch der intensive Blick und die tiefen Ringe unter den Augen scheinen ihn leicht aus der Fassung zu
bringen. Aber Eve ist ein Mann, der darauf gedrillt wurde, keine Fragen zu stellen, sie eher zu beantworten. So wurde seine Miene wieder zu Stein und ein einfaches Nein dringt aus seinem Mund. Gewöhnt routiniert scanne ich sein Profil. Eve Levander, 34 years old. Studied at Police Academy of West City. No criminal offences. Ansonsten steht da noch so einiges über seine berufliche Karriere und das ein oder andere Foto von ihm und einer jungen Frau mit braunem Haar. Auf dem Arm hält sie ein kleines Baby und darunter steht doch ernsthaft, dass dieser vollkommen routiniert arbeitende Mann, mit einem
Gesicht aus Stein, ein Kind und Frau hat. Eine schöne und herzlich wirkende Frau sogar, muss ich zugeben, als ich mir per Scanner das Bild ansehe. Sofort wird mir Eve sympathischer. „… außerdem keine Verdächtigen in der Nähe. Ein Schulmädchen, welches sich zu lange draußen aufgehalten hat, ist hier über die Straße gerannt und zufällig in uns hineingelaufen. Hatte richtig Angst, die Kleine. Wir haben sie aber mit einem Eintrag nach Hause geschickt.“ Wieder ist es Lloyd, der antwortet. Und auch wenn sich der Klang seiner Stimme kaum verändert hat, spüre ich seine schleichende Missbilligung. „Ab nun,
jeden Passanten abfangen, egal wie sein Profil aussieht. Den, den wir suchen kann sein Profil nach belieben beeinflussen. Keiner ist unschuldig bis zum Beweis dafür, verstanden?“ „Ja Sir. Sollen wir die CPs dann ausstellen?“, sein Mund ist trocken, auch wenn ihm nichts anzumerken ist. Er muss schockiert sein. Schließlich ist das System, in welches man seine bezaubernde Frau sehen kann, etwas, an dem kein Mensch rütteln kann. Wenn ein Polizist vorschlägt, die CPs auszustellen, muss er erkannt haben, wie ernst es ist. „Natürlich“, antwortet Lloyd ohne jegliches Widerstreben. Dabei ist das CP
Programm etwas, dass unserer Welt noch ein weiteren Sicherheitsgrad verliehen hat. Criminal Profiling. Nicht nur Menschen können andere Menschen scannen, seit ungefähr sieben Jahren können das Nun auch Waffen. Die Modernen jedenfalls. Genauso wie eine alte Pistole, schießen sie gewöhnliche Patronen, liegen schlicht und schwarz in der Hand und sind leicht zu gebrauchen, jedoch haben sie einen Scanner überm Pistolenlauf angebracht, welcher blitzschnell jeden Menschen scannt, auf den man die Waffe hält. Anders als bei einem normalen Scanner, den jeder Mensch besitzt, scannt dieser nicht nur das Profil. Er scannt auch die Psyche des
Menschen. Diese wird in verschiedenen Prozenten dann angegeben, aber auch in einer Farbleiste. Weiß ist unschuldig und sorglos wie ein Kind und schwarz ist verrückt wie die Psyche eines Menschen der andere verhackstückt. Und dieses Criminal Profiling Programm in der Waffe ist das, das die Waffe entsichert. Sie entsichert sich nur, wenn die Psyche über 50% geschädigt ist oder wenn eine Straftat wie Körperverletzung und schlimmer, vom System ins Profil eingetragen wurde. So wird verhindert, dass die Verbrecher den Polizisten die Waffe entwenden und um sich schießen können. Genauso wie damit die Geiselnahme vollkommen unterbunden
wurde. Natürlich sind alte Waffen, ohne Criminal Profiling noch im Umlauf, aber es werden von Jahr zu Jahr weniger und irgendwann, in ein paar Jahren, wird die Welt nur noch auf Verbrecher schießen können und keine Unschuldigen werden mehr zu Schaden kommen. Seit fünf Jahren steht im Gesetz, dass dieses Programm niemals ausgestellt werden darf und ich habe noch nie davon gehört, dass das möglich ist oder jemals getan wurde. „Das müssen Sie dann tun“, sagt Eve diskret an Lloyd gewandt. „Ich weiß weder, wie man das tut und selbst wenn würde ich es nicht wagen, da ich mich
dann selbst zu einem Verräter der Polizei und so zu einem Schwerverbrecher machen würde.“ Eve ist also nicht auf den Kopf gefallen und ein loyaler Mann und sofort sehe ich, wie sich Lloyds Visage missbilligend verzieht. Seitdem er zwei Jahre mit Josh Bloom, dem loyalsten Menschen der Welt, in einer Wohnung hatte verbringen müssen, hasste er förmlich jede Form von Loyalität. Dennoch beginnt er zu reden: „CP ist anscheinend genauso wie das System nicht abschaltbar, daher müssten wir uns an den alten Waffen, welche immer noch im Präsidium verwahrt werden, bedienen. Aber diese stehen unter
Verschluss und werden nach und nach vernichtet. Es gilt als Straftat sie auch nur in die Hand zu nehmen. Somit haben wir keine Waffen.“ „Das stimmt nicht ganz.“, wirft Josh ein. „Solange die psychische Gefahr höher als 50% ist, können wir immer noch schießen, oder besser gesagt, sie überführen.“ „Josh Bloom, nicht jeder Krimineller ist psychisch labil, das ist eine Tatsache“, brummt Lloyd mit einem missbilligenden Unterton. „Aber dass wir unbewaffnet sind, braucht sie ja nicht zu wissen. Oder?“ In meinem Magen bildet sich ein Klumpen der unguten Vorahnung. Betrug.
Ich war noch nie gut im Lügen. Und selbst ich weiß, dass es Wahnsinn ist einfach so in die Haftanstalt hinein zu spazieren, ohne den Schutz einer Feuerwaffe, und eine potenzielle Kriminelle zu suchen, die wiederum jemanden sucht, welcher in diesem Hochsicherheitsgefängnis eingebunkert ist. Es ist Wahnsinn, denn wer weiß, vielleicht hat sie denjenigen ja schon gefunden? Wer weiß, wer alles in diesem schneeweißen Gebäude dahinkrepiert, von der Außenwelt komplett abgeschottet? Es ist Wahnsinn. Und genau dieser Wahnsinn zaubert ein Lächeln auf meine blassen Lippen. Um so gefährlicher, umso mehr Kitzel und
umso näher kommen wir IHM! „Aber eine Annahme meiner Kollegin ist falsch. Sie hat uns bemerkt. Ansonsten wäre sie, wie sie es vorhatte, wieder ganz normal aus dem Haupteingang nach draußen gegangen und wäre zwangsläufig auf die Polizeieinheit gestoßen. Sie weiß also, dass ihre Lage brenzlig ist. Aber sie weiß nicht genau wie, genauso wie wir nicht wissen, was uns erwartet, da wir nicht ins Sicherheitssystem kommen. Levander, wie ist das Gebäude vor Ein- oder Ausbruchsversuchen geschützt?“ „Jeder Insasse verbringt seine Zeit ausnahmslos in Einzelhaft. Die meisten Verbrecher sind nur vorübergehend, bis
zum Tage ihrer Hinrichtung dort. Dieses Gebäude ist eine Spezialisierung auf psychisch nicht zu rettende Todeskandidaten. Jede Zelle ist durch drei Türen zu erreichen, welche alle durch Criminal Profiling geschützt werden. Gibt es Anzeichen eines ernstzunehmenden Ausbruchs, können Giftgase direkt in die Zellen beziehungsweise Gänge gesprüht werden. Das Personal besteht ausschließlich aus ausgebildeten Psychotherapeuten, welche die härtesten Fälle gewöhnt sind und darauf spezialisiert, keine Emotionen zu ihren Patienten aufzubauen oder Sympathien zu hegen. Das gesamte Gebäude ist ein
Zentrum für gesellschaftsuntaugliche Verbrecher und dementsprechend geschützt. Noch nie ist einer entkommen. Es gilt sogar als unmöglich.“ Ich schlucke schwer. Es klingt ja fast so als wäre das Gebäude da vor uns die Vorstufe zujr Hölle. Ein passender Ort für meine Rachlust. „Eine perfekte, hochmoderne Anstalt also, welche ganz auf das System abgestimmt ist…“, Lloyds Augen verfinstern sich und mir wird schlecht beim Anblick seiner immer noch glasklaren Augen. Er hat einen Plan. Ab jetzt wird es ernst. „Wir gehen so vor: Bloom. Ich brauche zehn ihrer Leute. Nahkämpfer wenn
möglich, aber ihre Waffen sollen sie dennoch mitnehmen. Limbardt, Foster und Ich begeben sich ins Gebäude. Unser Ziel ist nicht die Frau, sondern der Kontrollraum. Dort werde ich das Gebäude überwachen können und auf jedes Profil zugreifen können. Die Hälfte des Trupps soll dort bleiben, aber Sie, Levander, gehen mit Limbardt. Ich lotse Sie beide in Richtung der Frau. Sie nehmen die restlichen Leute mit sich und halten sie auf Trab. Ich will sehen, wie sie sich ins System hakt und ich will sehen wie sie handelt, ob sie mit Ihm direkt in Verbindung steht und ob sich diese Verbindung zurückverfolgen lässt. Sie
lassen sie immer knapp entwischen, Eve, verstanden? Und Limbardt hält ständig mit mir Kontakt, ja?“, beide nicken und Limbardts unheimliches Lächeln erscheint im Mundwinkel, während der Qualm seiner Zigarre in meiner Nase beißt wie die Zweifel, welche an mir Nagen. Der Plan ist sicher, zu sicher. Zu einfach. „Und Sie, Joan Foster, werden die tragende Rolle des Ganzen spielen. Ihr Charakter ist dreckig, aber Sie sehen aus wie ein Engel, daher wird es reichen, wenn Sie einfach nicht den Mund aufmachen.“ „Danke für das Kompliment“, sage ich ironisch, aber um ehrlich zu sein, hat
eine unheilvolle Vorahnung mein Herz ergriffen. Die grimmige Freude in mir ist noch nicht erloschen, aber sie wird weniger, wenn ich daran denke, dass meine Aufgabe der einzige Alleingang des gesamten Plans sein wird. Aber das heißt auch dass ich Johanna Fleur eins zu eins gegenüberstehen werde. Ich werde sie allein ausspielen und gewinnen! „Bitte. Unser Ziel wird gehetzt sein und sie wird sich zum schnellen Handeln gezwungen sehen. Ich bin mir sicher, dass sie bewaffnet ist und sicherlich nicht mit einer Waffe, auf der das CP programmiert ist. Daher müssen Sie alle
vorsichtig sein.“ Das konnte er gut sagen, da er sich selbst keiner Gefahr aussetzte. „Sie, Foster, werden die Rolle der jungen Psychotherapeuten spielen, welche eine lange Nachtschicht hinter sich hat und die leichtsinnig den Weg an ihre >Kollegin< freigibt, sie jedoch begleiten muss, da im Umgang mit solchen Schwerverbrechern, keine Alleingänge des Personals erlaubt sind.“ Ich habe das Gefühl, meine letzte Mahlzeit vor mir ergießen zu müssen. Ein Glück ist diese schon so lange her, dass sie nicht mehr hochkommen will. Und doch… wir werden diese Frau fassen, ich muss nur mir selbst vertrauen. Dabei weiß ich, dass ich eine
verdammt schlechte Schauspielerin bin. „Per HH werde ich mit Ihnen in Kontakt bleiben und Anweisungen erteilen. Sie folgen ihr einfach, ohne verdächtige Fragen zu stellen. Selbstverständlich wird sie in Ihnen eine verdeckte Ermittlerin vermuten, aber da Sie keine Waffe bei sich tragen werden…“ „… Was mir aber bedeutend lieber wäre!“, falle ich ihm ins Wort. „… Ihnen aber sowieso nichts nützen würde, da sie nicht schießen können“, fährt er lückenlos meine Bedenken fort ohne sich von ihnen stören zu lassen. „wird sie Sie egal, ob sie eine Polizistin oder wirklich eine Angestellte der Anstalt sind, sie begleiten lassen. Im
Falle, dass Eve und Limbardt sie nämlich einholen und stellen würden, hätte Sie eine Geisel.“ „Was ist das denn für ein Plan? Wenn ich mich umbringen will, springe ich vom nächsten Hochhaus, das ist mir lieber als die Kugel!“ „Immer mit der Ruhe, Fost_“ „Aber das kannst du doch nicht machen!“, braust Josh, den wir bis jetzt total ausgeschlossen hatten, auf. „Es bringt nichts, wenn du der Gegnerin auch noch eine Geisel in die Hand gibst.“ Lloyd wirft Josh einen vernichtenden Blick zu, fährt aber im unveränderten monotonen Ton fort: „Ich liefere Foster ja nicht aus. Falls es zu eskalieren droht,
sitze ich immer noch in der Zentrale des Gebäudes und kann die Giftgase sofort einsetzen. Foster ist also die ganze Zeit in Sicherheit.“ Dann doch lieber die Kugel, denke ich resigniert. Zwar weiß ich, dass dort wahrscheinlich nicht nur ein Giftgas, sondern auch eines, welches die Einatmenden in einen schlafenden Zustand versetzt, eingesetzt wird, aber bei Lloyd bin ich mir nicht sicher, ob er nicht >aus Versehen< den falschen Knopf drücken würde. „… Und sie wird die Ganze Zeit unseren Gegner beobachten können und sie wird von ihm direkt ans Ziel geführt, dem Insassen, den sie zu erreichen versucht.
Spätestens dann wird sie Foster bedrohen oder erschießen wollen und dann haben wir eine Antwort, verstanden?“ Das ergibt Sinn. Leider. Aber irgendwie brenne ich darauf, diese Frau kennen zu lernen, welche mit dem Widerling von vor zwei Jahren gemeinsame Sache macht. „Ich bin dabei“, sage ich trocken und lecke mir über die Lippen. Komme was wolle, ich muss alles auf einen Zug setzen um diese Partie zu gewinnen! „Das ist doch Wahnsinn!“, versucht Josh noch uns zu bekehren, aber Lloyd lacht schnaubend und leise in sich hinein. „Na und?“, fragt er nuschelnd. „Josh, du bleibst draußen, da wir hier jemanden
brauchen, der klaren Menschenverstand besitzt. Alle Fluchtwege versperren und wenn ich das Notsignal gebe, wirst du die Truppen mobilisieren.“ Jeder von uns weiß, dass Joshs Rolle nicht zum Tragen kommen würde, denn Lloyds Plan ist perfekt. Der Frau würde nichts anderes übrig bleiben, als mich als Geisel zu nehmen. Und ich würde diese Geisel spielen, möglichst unschuldig. Auch wenn mir bei diesem Gedanken bange wird, so glüht in mir nichts stärker als der Wunsch zu gewinnen. Endlich kann ich etwas tun. Jetzt kann ich das Nichts in meinem Leben
auslöschen. Und so marschiert unser kleiner Trupp auf das unheimlich weiße Gebäude zu. Mit den wenigen, schwarzen Fenstern, welche uns einladend anzugrinsen scheinen und den braunen Regenschlieren an der Fassade. Der Eingang, welcher auf uns wartet wie das gähnende Maul eines Raubtiers. Und hinter uns die vollkommen starre Polizeieinheit. Sie alle hinter ihren regenbeschlagenen Schilden verschanzt und zwischen ihnen Josh Bloom, dessen blonde Haare durch die Nacht wehen wie eine kurze Fahne. Seine blauen Augen, welche mir sorgenvoll hinterher blicken,
was mir aber ziemlich egal ist. Mir ist nur wichtig, ans Ziel zu kommen, koste es was es wolle. Passiere was wolle und habe wer wolle Gefühle für mich. Wenn dieser Idiot so dumm ist und sich in mich verschießt, dann sei es drum. Ich bin es nicht schuld, aber ich werde es schuld sein, wenn diese Frau überführt wird und ich werde die Gewinnerin sein. Auf diesem Hoch schwelgend erreiche ich den Eingang. Meine Haare sind schon durchnässt, aber das macht nichts. Sie sind so kurz, dass sie schnell wieder trocknen und geschminkt habe ich mich sowieso nicht. Lloyd stakst neben mir wie eine Unglückskrähe durch die Nacht. In
seinen tiefen Manteltaschen kann ich die Plastikverpackungen seines >Proviants< knistern hören. Er wird heute von seinem Kopf Höchstleistungen fordern, was heißt, dass er alle Prozente die er rausholen kann voll auskosten wird. Das wiederum heißt für mich, dass durchs HH wohl seinen Essgeräuschen zuhören darf. Na toll. Limbardt hingegen lächelt schon die ganze Zeit in sich hinein (wie immer) und Eve ist vollkommen ruhig, wie aus Stein halt. Interessehalber lese ich mir Berichte seiner Hochzeit mit Robin Schmidt durch, seiner liebreizenden Frau. Von einer tränenrührenden Trauung wird erzählt und die Frau
schreibt selbst ins Profil ihres Mannes, es sei der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen. Ein krasser Kontrast gegenüber dem hochgestellten Polizisten, welcher Einsätze bei dunklen Regennächten leitet. Komplett in Schweigen gehüllt treten wir durch die Tür. Durch einen Anruf Limbardts ist die Leitung der Anstalt sich schon über eine >Sicherheitskontrolle< durch die Behörden heute Nacht bewusst. Dass diese kurzfristig und ohne jegliche Vorbereitung kommt, ist nicht ungewöhnlich und auch die Tatsache, dass es bereits Nacht ist, scheint keine Aufmerksamkeit zu erregen. Alles läuft
glatt. Gut. Einfach… zu einfach. Vor uns thront die Tür vollkommen neutral. Sie wirkt weder düster, noch einladend. Dennoch, der weiße, vollkommen unmöblierte Gang, welchen ich durch das Glas erkennen kann, jagt über meine Arme eine Gänsehaut. Ausgerechnet ein Hochsicherheitsgefängnis für Todeskandidaten. Anonym hätte sich keinen finstereren Ort aussuchen können. Davon vollkommen unbeeindruckt will Lloyd sich eine Zigarette anzünden, doch eine heraneilende Frau verhindert es. Es ist eine… wie soll man es nennen? Wegen ihres Outfits würde ich
zu ihr Krankenschwester sagen. Sie kommt den langen Gang herunter gelaufen und auf ihrem rundlichen Gesicht spiegelt sich eilende Sorge wieder. Ohne auch nur irgendeinen Riegel zurückschieben zu müssen, drückt sie die Eingangstür sachte auf und schiebt ihren Kopf hindurch: „Entschuldigen Sie, Mister, aber das Rauchen im Innern des Gebäudes ist verboten.“ Unangezündet steckt er die Zigarette in die nächst beste Hosentasche. Die von Eve Levander, der den seltsamen Arbeitslosen anstarrt als hätte er ihm gerade einen Heiratsantrag gemacht. Lloyd ist davon vollkommen
unbeeindruckt, wie er von allem unbeeindruckt zu sein scheint. Sein einziges Kommentar ist ein genuscheltes: „Halt mal kurz“ und dann dreht er sich schon wieder um, um der verdutzt schauenden Schwester ins Innere des Traktes zu folgen. Ich folge ihm, genauso wie die anderen auch, aber anstatt mich neugierig umzusehen, starre ich nur auf den Rücken des vor mir gehenden: Lloyd. Mit zusammengezogenen Schultern erklärt er der Schwester kurz, warum kein Kommissar als Beruf in seinem Profil steht. Natürlich sagt er ihr nicht die Wahrheit und die verhasste Lüge rutscht ihm so glatt über die Zunge, dass
es mir fast den Atem nimmt. Ihm vertraue ich mein Leben an… Er setzt es so selbstverständlich aufs Spiel als wäre ich wirklich eine Schachfigur. Einfach so. Und ich vertraue ihm. Ich vertraue auf seine verrückte Intelligenz und Kombinationsgabe. Ich vertraue dem Typen der jeden Tag ein Sixpack Cola trinkt und dauernd auf Schokolade herumkaut. Wie wahnsinnig muss ich sein? Irgendwie scheint all die Euphorie von mir gewichen zu sein und zurück bleibt eine junge, verängstigte – nein! Ich strecke die Schultern gerade und hebe das Kinn, nur um auf das krumme Kreuz Lloyds Aussicht zu haben. Ich habe keine Angst. Weder vor diesem
Verrückten, noch vor Anonym. Mir egal, wie ich an mein Ziel komme, solange ich es erreiche! Ich werde ein Mal in meinem Leben halt gut schauspielern müssen und auch Lügen müssen, damit diese Frau mich nicht erkennt, damit Anonym, der so einfach mit den Profilen der Menschen spielt, endlich… Warte. Ich bleibe stehen. Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Dieser…! Lloyd dreht sich um und sein abwertender Blick huscht über den hochgeschlagenen Kragen des pitschnassen Mantels hinweg. Er sieht mir in die Augen und schon bevor ich meine erstarrten Lippen zum Reden bewegen kann, weiß er dass ich es
erkannt habe. Erkannt, was für ein Mistkerl er ist! „Du arrogantes Schwein!“ Er antwortet mir nicht, sondern dreht sich einfach nur um. Er geht weiter. Ignoriert die verdutzt schauende Schwester, Eve, welcher ernst zwischen ihm und mir hin und her sieht und auch Limbardt mit seinem abwesenden, unheimlichen Lächeln. Denn wir alle sind unwichtig für ihn, egal. Alles hatte zu einfach geklungen. Nicht nur auf Seiten Anonyms, auch auf Seiten Lloyds. Sein Plan hatte so viel Sinn gemacht und war doch so prompt und einleuchtend gewesen, dass ich es kaum hatte glauben können. Aber ich hatte es
so sehr glauben wollen, dass es mich nicht interessiert hatte. Aber diese Euphorie, die mich blind machte, hatte nicht lang genug gewährt. „Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?!!“ Er geht einfach. Das Wasser tropft aus seinem Mantel wie die Tränen der Wut, welche aus meinen Augen herausbrechen wollen. „Bleiben Sie verdammt noch mal stehen, wenn ich mit Ihnen rede!“ Er bleibt stehen, aber er dreht sich nicht um. „Ich höre“, nuschelt er vor sich hin und doch dringt seine verhasste Stimme an meine Ohren. Schleichend und kriecherisch. „Jeder verdammte Blödmann kann in mein Profil gucken und schon bin ich
aufgeflogen und jemand der damit rechnet, dass die Polizei einen verfolgt macht das doch auf jeden Fall als erstes! Was soll ich denn machen, mich hinstellen und sagen: Hey ich bin von der Polizei, schön Sie kennen zu lernen. Ich war so blöd und dachte ich könnte im Profiling Zeitalter noch jemanden hereinlegen und tja, jetzt haben Sie mich ertappt. -Du spinnt doch!“ Er dreht sich nicht um. Er antwortet mir nicht. Er lässt mein Herz an die Decke gehen, meine Hände sich zu Fäusten ballen und eine innere Schimpftirade in mir losgehen wie es sie seit Gottes Fehler den Menschen zu erschaffen, nicht mehr gegeben hatte. Ich fühle mich
nicht nur hintergangen, nein, ich fühle mich wie ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt habe: furchtbar dumm. „Sie mögen sich ja für den Klügsten dieser Welt halten, aber es gibt eine Tatsache und zwar dass es einen gibt der Sie schon seit zwei Jahren an der Nase herumführt. Sie werden mit uns zusammenarbeiten müssen wenn sie der Sieger sein wollen und uns nicht ausnutzen, denn vergessen Sie nicht, wer von uns der Kommissar und wer der Arbeitslose ist!“ Immer noch keine Antwort. Die Wut brodelt in mir, ich spüre geradezu wie sich meine Haare elektrisieren. Doch dann kommt eine Antwort. Endlich
und ich weiß nicht was ich erwartet habe. Keine Entschuldigung für diese maßlose Demütigung, keinesfalls, aber das ist das Letzte, dass ich in Erwägung gezogen hätte: „Wie gesagt finde ich Ihren Charakter sehr interessant, aber genau deswegen weiß ich auch, dass sie ihn auf alle Fälle fangen wollen und denken Sie ein Mal nach. Wie schaffen wir das? Auf ihre oder auf meine Weise? Wer hat den Hinweis gefunden und wer hat ihn als solchen aufgedeckt? Wer konnte die Ermittlungen in Gang treten und wer konnte schnell einen Plan entwickeln, als es drauf ankam. Ich werde Sie nicht darum bitten, mir zu vertrauen, aber ich frage Sie, was Sie
heute Nacht erreichen wollen.“ Ich starre auf seinen Rücken. Wie bitte? Ich kann ihm nicht vertrauen. Aber es ist egal, wie sehr ich auf meine eigenen Fähigkeiten vertraue, seine Kombinationsgabe hat die Punkte draufgekriegt, die bei seiner Sozialkompetenz abgezogen wurden. Und egal, wie ich die Sache drehe und wende. Ich will Anonym schnappen, koste es was es wolle. „In Ordnung, aber ich spiele meinen Part auf meine Weise.“ Lloyd antwortet nicht, er geht einfach weiter und ziemlich zögerlich setzen sich auch die anderen in Gang. Sie haben es alle mit angehört und können sich keinen Reim daraus machen. Und
doch spüre ich Eves Blick in meinem Rücken. Ich drehe mich um und er zwinkert mir grimmig zu. Dabei weiß ich noch gar nicht, was auf meine Weise bedeutet. Egal, ich werde es schaffen. Ich schaffe alles, wenn ich es will. Solange sie mich nicht erschießt bevor ich etwas sagen kann… Kaum ist die Tür hinter dem Überwachungs- und Kontrollraum ins Schloss gefallen, ruhen Lloyds Füße schon auf dem Schaltpult. Vor ihm flimmert der große Bildschirm des Computers und wirft auf sein blasses Gesicht diesen kühlen, blauen Schimmer. Kühl… eher frostig und
vollkommen ignorant, denke ich. Wie kleine Spinnen huschen seine Finger über die Tastaturen und hämmern in meinen Schädel wieder dieses verhasste Geräusch. So lange habe ich es gehört! Tag aus, Tag ein! Allein um nicht mehr dieses Hämmern im Trommelfeld spüren zu müssen, muss ich diesen Fall zu ende bringen. Lloyd dreht sich überhaupt nicht vom Bildschirm weg, er sieht mich noch nicht ein Mal an. Er sieht keinen an. Die Zigarette im rechten Mundwinkel, ein Brocken Schokolade kauend, fühlt er sich schon wie Zuhause. „Ich fasse zusammen“, seine Stimme ist vollkommen ruhig, emotionslos. „Josh
verhindert, dass die Zielperson flieht. Limbardt wird sie treiben und Lady Foster wird sie bei der Suche nach ihrem Ziel begleiten. Falls was schief läuft bin ich da und setze alle mit den Gasen außer Gefecht. Richtig?“ Da Lloyd immer gerne rhetorische Fragen stellt bin ich nicht so darauf gefasst, dass er dieses Mal eine Antwort erwartet. Auch Eve schweigt wie es seine Art ist und Limbardt, welcher sich generell immer wie ein stiller Beobachter verhält zieht nur an seiner Zigarre. Die Stille schnürt mir geradezu die Luft ab. Alles hängt davon ab, wie die Zielperson reagieren wird. Wenn sie versucht mich zu töten, ohne uns zu
zeigen wohin sie wollte… würde Lloyd dann wirklich das Gas freisetzen? Ich starre lauernd auf den Schreibtischstuhl. Würde er? Diese Frage ist sinnlos, denn in mir selbst finde ich erschreckender weise keine Antwort. Und egal wie angestrengt ich den Blick meiner kalten, blauen Augen auf die Lehne des Schreibtischstuhls feuere, keine Antwort wird kommen. Ich sehe nur seine unregelmäßig abstehenden Haare, welche so weich aussehen, dass man schon fast der Versuchung verfallen könnte, durch sie hindurchzuwuscheln. „Richtig?“, fragt er langsam und beharrlicher. Seine Stimme ist die einer Raubkatze, welche sich langsam an seine
Beute herangepirscht hat und weiß, dass sie seinen scharfen Zähnen nicht mehr entfliehen kann. „Richtig“, bestätige ich trocken und mein Blick bohrt sich tief in das schwarze Leder der Lehne, hinter der er sich verbirgt. Sein unrasiertes Gesicht versteckt und die stahlgrauen Augen verschanzt. „Ja Sir, richtig“, brummt Eve ebenfalls. Seine Miene so hart wie Stein. Seine Augen, abgehärtet und angespannt. Unelegant krachend schwingt Lloyd seine Beine vom Reglerpult und fährt ruckartig mit dem Stuhl herum. Seine langen dünnen Finger umspielen die Armlehnen, sein Oberkörper ist
vorgebeugt, abwartend. Sein Gesicht im Schatten. Und doch glühen seine Augen so angriffslustig wie die der Raubkatze. „Und warum seid ihr dann noch hier?“ Knackend zermalmt sein Kiefer das letzte Stück Schokolade. „Hiermit erkläre ich die Jagd als eröffnet.“ Vollkommen allein. Niemand an meiner Seite. Keiner, der meinem unsteten Blick ausweicht, genauso wenig wie niemand, der mich ermutigend anlächelt. Ich bin allein. Schon immer gewesen… aber erst jetzt wird es mir so richtig bewusst. Wie die Luft schwer auf meinen Schultern lastet, während ich zwischen den kahlen Wänden dahingehe.
Wie der Gang unendlich erscheint, obwohl das Ende in Sicht ist. Und wie die Stille meine Luft abschnürt, als wäre sie eine Kette um meiner Kehle. Ich bin vollkommen auf mich allein gestellt. Das weiß ich, seitdem die Jagd eröffnet ist. Auf Lloyd kann ich nicht zählen und alle anderen sind nicht im Stande mir zu helfen. Aber als ob ich Hilfe nötig hätte! Was ich geschafft habe, habe ich allein geschafft und das hier werde ich auch auf meine Weise schaffen. Mit durchgestreckten Rücken schreite ich weitausholend durch die Flure. Alles ist weiß, geradezu unheimlich. Nichts hängt an den Wänden, genauso wenig wie es Möbel gibt. Immer wieder
versperren Panzerglaswände den Flur, aber sie fahren hoch, sobald ich in ihre Nähe komme. Wenigstens dazu ist Lloyd zu gebrauchen. Die Glaswände sperren Abschnitte des Korridors ab, in denen verschiedene Gasventile angebracht sind. Ich kann sie nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind. Jeder, der in der Zentrale sitzt kann mit einem Schalter entscheiden, wer den Schritt durch diese Kammern überlebt. Wenn jemand ausbrechen will, blockiert eine Glaswand das Durchkommen und das Gas setzt ihn außer Gefecht. All das ohne dass auch nur ein Mensch verletzt werden muss. All das hochmodern. Auch wenn ich es auszublenden
versuche, so komme ich mir seltsam verloren in diesem Flur vor. Zwar fülle ich ihn mit meiner Anwesenheit aus, aber die Gewissheit, dass mein Leben an Lloyds Denken hängen soll, ist mehr als ernüchternd. Obwohl es nicht ganz davon abhängt. Immer noch trage ich meine Dienstwaffe bei mir. Mir egal, ob sie nicht schießt solange keine Straftat in ihrem Register aufkreuzt. Mir egal, dass es nur ein nutzloses Stück Eisen sein soll. Sie gibt mir Sicherheit. Auch wenn sie gerade nicht an meiner Hüfte hängt, sondern unterm Stoff meines Blazers, versteckt im Ausschnitt gegen meinen Busen drückt. Die Zielperson durfte nicht sofort bemerken, dass ich
bewaffnet war, und da mir nichts anderes eingefallen war, hatte ich sie kurzerhand in meinen Ausschnitt gesteckt. Die Waffen einer Frau, hatte Limbardt sich amüsiert. „Rechts, Foster“, nuschelt die mir viel zu bekannte Stimme in mein Ohr. Ich biege rechts ab und stelle in einer ganz normalen Bewegung den Lautsprecher leiser. Als ich über das kleine Gerät an meiner Wange fahre wird mir flau. Meine Hand ist schweißnass. Sie hat Angst, ich habe Angst. Ich darf keine Angst haben. Wer Angst hat, kann sich nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren, sieht nicht mehr die Fakten. Und ich brauche jetzt die klaren
Fakten, da ich genau weiß, meine Gefühle bringen nichts. Eine Handbreite vor der nächsten Panzerglasabsperrung bleibe ich stehen. Ich hatte sie nicht ganz gesehen. Erst, als das Licht der Lampen sich in ihr gespiegelt hatte. Das war ja noch das letzte! Wenn ich jetzt gegen die Wand laufen würde! Resigniert schnaube ich gegen das hochfahrende Glas. Es beschlägt. Sanft und hauchzart. Und dann ist es schon wieder verschwunden, nach oben gefahren, wie der Rest der Barrikade. Mein Blick schweift an die Seiten, wo versteckt zwischen der Wandverkleidung kleine Linsen sitzen müssen. Ich kann sie
nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind. Lloyd kann jeden Schritt von mir überwachen. Und er ist es auch, der mich durch die Gänge lotst. Und der, der am Notfallknopf sitzt. „Foster, Sie sind gleich da. Bleiben Sie bitte kurz stehen.“ Ich bleibe stehen, auch wenn mein Herz so schnell hämmert, dass ich am liebsten gerannt wäre um dem Luft zu machen. Entnervt fahre ich durch meine fast weißen Haare, welche mir zerwuschelt vom Kopf abstehen. „Sie wissen was zu tun ist und Sie wissen genau wer sie unterstützt. Daher zähle ich auf Sie.“ Wie er das aussprach. Ich weiß, wer mich unterstützt. Damit
meint er nicht, dass er mir auf jeden Fall den Hals retten wird. Nein, das wäre zu sozial für Jacob Lloyd. Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass er meine Meinung über sich kennt… und dass er nichts tut um die gerade zu rücken. „Sie ist die nächste links, viel Glück.“ Ich nicke, obwohl ich ihn nicht sehen kann. Wie auch, er sitzt weit weg von mir in Sicherheit. Ich straffe die Schultern, nehme tief Luft und gehe den Gang entlang. Die Sohlen meiner Turnschuhe quietschen auf den glatten Fliesen. Hätte ich mich umgedreht, so hätte ich auf den blitzsauberen weißen Boden doch einen feinen, kaum merklichen Schmutzfilm
erblickt. Als ob ich mit ihm den Weg zurück markieren würde. Ohne meinem Kopf weitere Gedanken zu zulassen, biege ich links ab. Wieder ein strahlend weißer Gang, wieder dieser Satz des Herzens, in angespannter Erwartung und dieses Mal eine Gestalt. Keine fünf Meter von mir starrt sie mich mit durchdringend braunen Augen an. Entsetzt. Und ich starre zurück. Auf eine Frau, keine 30 mit langem schwarzen Haar, welches sie in einem gigantischen Dutt zurückgebunden hat, und einem Gesicht so schön wie das einer Schlange. Mein Herz droht zu explodieren. Eins gegen eins, das Spiel hat nun
begonnen. „Guten Tag“, sage ich und zwinge ein eiskaltes Lächeln in meine angespannten Mundwinkel. „Ich bin von der Polizeibehörde, Abteilung der Sicherheitsvorkehrungen und wir machen eine Kontrolle der Vorkehrungen dieser Einrichtung.“ Ihre Augen werden schmal wie die einer Katze. Ihr spitzes Kinn versteinert sich und die sinnlichen Lippen wirken verkrampft. Ihr Blick sagt vieles und gleichzeitig irgendwie nichts. Sie scheint mich durchschaut zu haben, aber irgendwie auch daran zu zweifeln. Ich ignoriere das, trotz meiner Aufregung, welche sich wie ein
Heliumballon aufbläht und entschwinden will. Ich scanne nur vollkommen routiniert ihr Profil. Johanna Fleur. 34 years old, turnkey, no criminal offences. Alles im Reinen. Wenn das nur so einfach wäre! „Kontrolle der Sicherheitsvorkehrungen…?“, immer noch blickt sie mich zweifelnd an, und immer noch starre ich ihr entgegen. Soll sie doch zweifeln! Soll sie an diesen Zweifeln verrecken! „Also… Mrs. Fleur. Würden Sie mir zeigen, was Sie gerade im Begriff waren zu tun?“ Ihr Blick brennt sich in meine Netzhaut:
„Ich bitte Sie augenblicklich zu verschwinden.“ „Wie meinen Sie das? Ich mache hier nur eine Kon…“ „Und ich kann mich selbst verarschen!“, ihre energische Stimme lässt etwas tief in meiner Brust gefrieren. „Sie und ihre kleine Eskorte verschwinden auf der Stelle, oder es rollen ein paar Köpfe, Mylady!“ Vollkommen gelassen greift sie aus dem Ausschnitt ihres Kittels eine schwarze Pistole heraus. Wäre ich nicht in dieser Lage, ich hätte dies amüsant gefunden, aber ich bin in dieser Lage. Ich blicke direkt in das schwarze Loch der Mündung. Warte auf die Kugel, auf den Tod.
Wie ein Elektroschock mobilisiert sich mein Hirn und beginnt so schnell zu arbeiten, dass ich kaum noch weiß wo oben und unten ist. Ich weiß nur noch eines, dass mein Blut verdammt laut rauschen kann! Mein Mund öffnet sich langsam. Er ist trocken, vollkommen ausgedörrt und meine Zunge klebt wie mit Silikon festgenietet am Gaumen. Und dennoch, sie bewegt sich. Langsam und kalt: „Sie sind mit den Sicherheitsvorkehrungen dieser Anstalt vertraut, Mrs. Fleur? Ich denke schon, wenn Sie es sich herausnehmen sie zu betreten.“ „Hör mir zu Kleine, diese Waffe schießt
auch ohne CP. Und mich interessiert es null, ob ich einen Menschen umbringe oder nicht, also pfeif die Einheiten zurück oder ich blase dir das Hirn weg!“ Ich drücke auf den Aufnahmeknopf des HH und sage dennoch an sie gewandt: „Denken Sie wirklich, dass es meinen Vorgesetzten interessiert, ob er Menschen umbringt oder nicht? Er ist kein Idiot, keinesfalls. Ich würde ihn eher als Sozialarsch bezeichnen.“ Bitteschön Lloyd, meine Anerkennung an Sie! Ihr Mund öffnet sich leicht vor Überraschung und trotz meiner Aufregung genieße ich den Geschmack des Sieges auf meiner Zunge. Damit hat
sie nicht gerechnet. Wer rechnet auch mit dem Arbeitslosen Schokoladenfresser? Ich hoffe, denke ich lächelnd, Sie haben das gehört, Lloyd. „Und da ich hoffe, dass Sie in ihren Taten etwas organisierter sind als ein lächerlicher Kleinganove, gehe ich davon aus, Sie wissen, welche Vorrichtungen diese Gänge schützen.“ Aus geweiteten Augen starrt sie mich an. Genau kann ich den Schrecken in ihnen sehen. Wie die Iris wie ein schmaler Ring um die pechschwarze Pupille liegt. Ihre langen Wimpern, welche zitternd fächern. Und doch blicke ich auf all das an der Mündung
der Pistole vorbei, welche sich immer noch direkt auf mein Hirn richtet. Um es wegzupusten, wenn ihre Vernunft sie nicht zurückpfeift. Warum habe ich keine Angst mehr? Warum schlägt mein Herz nicht mehr wie wild? Es ist ruhig. Seitdem ich ihre Überraschung gesehen habe, wähnt es sich in Sicherheit. Dumm von meinem kleinen, sprunghaften Herzen, denn ich habe noch lange nicht gewonnen, schließlich ist sie diejenige, welche die Waffe in den Händen hält. Zitternd atmet mein Gegenüber aus und ich sehe, wie ihre blitzweißen Zähne auf die Unterlippe beißen. Ich sehe den Lippenstift an den zurückfahrenden Zähnen kleben. Rötlich, wie Blut und
doch zäher. Ich sehe, wie ihr Finger sich bewegt. Wie er am Abzug sanft entlang streift, als wäre das die Seite eines lieblichen Instruments. Kalt blinkt mir ihre blasse Haut entgegen. Genauso wie der Schimmer in ihren Augen fest und entschlossen ist. „Vergleiche uns nicht mit einfachen Kleinganoven!“ Schritte, laut und stampfend, lassen den Gang erbeben. Das muss Eve sein, mit seiner Truppe ausgerüsteter Männer. Natürlich könnten sie sich leiser fortbewegen, aber sie wollen ja auffallen. Sie wollen sich in ihr Gedächtnis stampfen und ihren Verstand zum Zweifeln bringen. Sie jagen. Ich lecke mir über die Lippen und
versuche am Lauf der Pistole vorbei in ihr Gesicht zu blicken: „Und vergleiche uns nicht mit dem einfachen Streifendienst!“ Die Ruhe ist vorbei, wir haben uns gerade offiziell den Krieg erklärt und beide Seiten haben das verstanden. Ihre Augen zucken kurz zurück. Sie hat Panik. Der Zeitdruck lastet auf ihren schmalen Schultern. Sie senkt die Hand mit der Pistole, lässt die Waffe aber nicht los, genauso wenig wie sie mich aus den Augen lässt. „Ich hab dich immer noch als Geisel!“, keift ihre energische Stimme und ihr Dutt hüpft als sie sie sich in Bewegung setzt. Ihre Hand krallt sich in meine
Schulter, der rosafarbene Nagellack auf ihren Fingerspitzen blitzt auf wie das Metall von Klingen. „Umdrehen!“, brüllt sie in mein Ohr und ich tue wie geheißen. Von überall her dröhnen die Schritte von Limbardt, Eve und seinen Leuten. Sie scheinen uns zu umzingeln, dabei ist es nur der Schall, welcher ihre Schritte vermehrt und die Zielperson aus dem Konzept bringt. Dennoch scheint diese noch lange nicht den Kopf zu verlieren. „Lauf!“, flüstert ihre Stimme in mein Ohr. Ich spüre ihre langen dünnen Finger sich um mein HH legen. Sie umkrallen es wie eine Katze ihr Spielzeug. Noch ein genuscheltes: „Gute Arbeit, Foster.“, dringt in meinen
Gehörgang, dann hat sie schmerzhaft das Gerät herausgerissen. Es fühlt sich an als hätte sie einen widerborstigen Splitter entfernt. Stöhnend packe ich mir ans Ohr, welches heiß wird zwischen meinen Fingern. Ich spüre einen dünnen Kratzer auf der Wange. Hinterlassen von ihren rosa lackierten Krallen. „Lauf, habe ich gesagt!“, brüllt ihre Stimme schrill in mein Ohr und ich schnappe nach Luft. Die Mündung der Waffe stößt in meinen Rücken und ich stolpere nach vorn. Die Schritte sind überall! Und dennoch werden sie mir nicht helfen, flüstert eine Stimme in mir, die ich versuche zu ignorieren. Ich befehle meinen zitternden Beinen sich zu
bewegen. Nicht einzufrieren. Auch zu laufen, wie es die donnernden Stahlkappenstiefel im Gang hinter uns tun. Und wie eine ungeölte Maschine setzen sich meine Füße nur stockend in Gang. Immer noch spüre ich den Lauf in meinem Rücken, das kalte Metall am Stoff des Blazers und irgendwie ist es dieses Gefühl, das unstete Drücken der Waffe, welches mich endlich zum laufen bringt und während meine Turnschuhsohlen leise über den glatten Boden abrollen, klackern hinter mir die Absätze von Stöckelschuhen. Nur einen Blick werfe ich über die Schulter. Ich hatte gedacht, meine Augen würden kalt sein. Ich hatte gedacht, Lloyds Blick
wäre herzlos. Aber was ist dann in diesen Augen zu finden? Blitzend wie Metall, hell wie das Licht der Sterne. So brennen sich ihre Augen einen Weg, denken sich ihre Freiheit und schmieden einen Plan gegen mich. Mein Herz hämmert wie das eines kleinen Vögelchens und doch ist mein Verstand klar. Um mich herum das Tosen der Schritte, in meinem Rücken die Waffe und vor mir immer neue gläserne Wände, welche hochfahren. Lloyd denkt also gar nicht daran, uns zu stoppen. Warum auch? Es läuft alles nach Plan. Daher sollte ich mich auch beruhigen, doch das kann ich nicht. Mein Puls fühlt sich an wie Presslufthammer, welcher
miniklein in meinem Arm sitzt und die Haut zu durchbrechen versucht. Aber diese Aufregung kommt nicht gänzlich aus Angst. Nein, sie kommt zu über 50 Prozent aus dem Feuer, welches hinter meinen Augen brennt. Alles läuft nach Plan! Das Ziel ist in der Falle! Schliddernd rutsche ich bis ans Ende des Gangs. Hier ist keine Abzweigung mehr, nur weiße Wände, welche mich geradezu bedrängen. Anders als ich kommt Fleur vollkommen kontrolliert zum Stehen. Ihre langen dünnen Beine sind ganz und gar nicht so schwach wie sie aussehen. Generell ist die Frau mehr als nur eine Schönheit, ihre Entschlossenheit ist das,
was gefährlich werden kann. Die Waffe hält sie vollkommen locker in der Hand, gewohnt fast. Kurz schießt ihr Blick hin und her. Sie checkt wie eingeübt die Umgebung, während ich keuchend gegen die Wand pralle. Ich bin nicht sportlich, egal wie gut ich während der Ausbildung war. Die zwei Jahre Bürokratie haben mich nicht nur ums Fett gebracht, sondern auch um die Muskelmasse. Und das werde ich ihr heimzahlen, denke ich jämmerlich nach Luft schnappend. Nur eine Tür zweigt ab. Es ist die Tür zu einem Fahrstuhl. Kalt und doch einladend blinzelt uns das Metall der schweren Türen entgegen.
Fleur scheint hin und her gerissen. Wieder fahren ihre Zähne mahlend über die Unterlippe und nehmen etwas Lippenstift mit. „Bedrängt?“, frage ich immer noch erschöpft. Die Schritte der herannahenden Einheit werden wieder lauter. Langsam aber stetig. Die Falle zieht sich zu. Und wenn sie zugeschnappt ist, haben wir gewonnen! Irgendwann muss sie uns ihr Ziel offenbaren! Johanna Fleurs spitzer, langer Zeigefinger drückt gelassen auf eine Kelleretage und ich höre das Surren des Fahrstuhls, welcher zu uns gefahren
kommt. Ihr Nagel ist so lang, dass er schon über die Knöpfe kratzt. Krallen, denke ich und ein Schauer jagt über meinen Rücken. „Warum? Sollte ich mich etwa bedrängt fühlen?“, ein charmantes Lächeln entblößt ihre grellweißen Zähne. „Der Fahrstuhl könnte von der Zentrale aus gestoppt werden“, erinnere ich, das Unbehagen, welches in mir aufsteigt, niederkämpfend. Mit einem hellen Pling kommt der Fahrstuhl an und die Türen öffnen sich. Eine ganz normale eiserne Kabine ist zu sehen. Aber Fleur betritt sie als wäre es das Restaurant eines Luxusdampfers. Ich folge ihr auf einem Wink mit der Waffe
hin. „Weißt du“, sagt sie langsam. Sie redet als würde sie jeden Vokal genießen. „Was sein könnte, ist mir egal. Außerdem wollt ihr mich doch gar nicht aufhalten, oder?“ Ich schlucke nur und versuche Haltung zu wahren. So leicht bin ich also zu durchschauen… Hinter mir schließen sich die Türen. Leise verriegeln sie das Donnern der Schritte hinter uns. Sie schließen uns ein. Irgendwie fühle ich mich dadurch bedrängt und eingekerkert. Ich schließe die Augen nehme meinen Verstand so weit es geht zusammen. Ich bin allein, noch nicht ein Mal Lloyd kann mir jetzt
Tipps geben. Ich muss jetzt selber denken und sie verwirren. Ich öffne den Mund, doch bevor ich etwas sagen kann, hält der Fahrstuhl stockend an und das flaue Gefühl in meinem Bauch stellt sich ein. Ich schließe den Mund wieder und blicke in Richtung Tür, genauso wie Fleur. Doch… die Tür bewegt sich keinen Millimeter. „Sie sollten lieber darauf hören, was Foster zu sagen hat. Sie ist Vermittlerin und ihr liegt so einiges daran, dass Sie am Leben bleiben, meine Schönheit.“ Diese Stimme… Lloyd klingt seltsam korrekt, fast normal, über den knackenden Lautsprecher. Wie immer ist er ruhig und ich kann es mir bildlich
vorstellen, wie seine Füße verschränkt auf dem Schaltpult liegen, das Mikrofon zwischen seinen knochigen Fingern klemmt und seine Augen gelangweilt dem Rauch seiner Zigarette nachblicken. Oh, wie gut kann ich mir diesen Dreckssack vorstellen! Ruhig schnellt Fleurs Arm hoch und sofort sehe ich mich in der Perspektive wieder, in der ich direkt in die Mündung der Waffe starre, in ein schwarzes Loch. So schwarz, wie ich mir den Tod vorstelle. Lichter aus und vorbei. „Wenn Sie den Fahrstuhl nicht wieder in Gang setzen, schmückt die clevere Hirnmasse ihrer Kommissarin gleich den
Fußboden!“ Mir wird schlecht. Sehr schlecht sogar. Ich sage nichts, warte auf die Antwort meines >Vorgesetzten<. Alles spannt sich an, jeder kleinste Muskel. Ich fühle mich wie ein Brett, mit dem man gleich die Wand verkleiden könnte. Auf dem Metall der Waffe spiegeln sich meine Augen, so blau wie das kalte Licht eines Elektroschockers. Stille liegt über dem kleinen Raum. Nie habe ich mir so sehr gewünscht, Lloyds Stimme zu hören. Nie. „Mir egal“, nuschelt er ins Mikrofon und stempelt ein Ablaufdatum in meinen Kopf. Es ist fast, als würde nicht Fleur, sondern er mir die Pistole an den Kopf
halten… Und mich zum Explodieren bringen: „Was soll das denn heißen? MIR EGAL?! Du bist ein Rechtenshüter und solltest LEBEN BEWAHREN! Weißt du eigentlich was LEBEN heißt? Jedenfalls nicht dahinvegetieren auf dem Schreibtischstuhl und Kollegen opfern als wären sie Schachfiguren!!!“ Ich sehe die Krallen der Frau, welche sich um den Abzug legen. Ruhig, glänzend. Lichter aus und vorbei. Fort. Vergessen… „Du scheißt aufs Leben mit allem Kot den so ein Nichtsnutz wie du nur hervorbringen kann!!“ Ich sehe niemanden. Ich sehe nur die weißen Wände und die Vorstellung von IHM. Wie er sich fläzt und genüsslich in seine
Schokolade beißt. Knack. „Genau so hat sie es kommentiert, als ich Sie auslöschen wollte, Madame Fleur. >Jedes Leben ist wichtig< und so. Tja, auch wenn die Kleine dumm ist, so ist Kommissarin und ich hab sie gewähren lassen. Und wie gesagt, es ist mir egal, ob Sie mit Hirnmasse den Boden wischen wollen, aber dann wird sich die Ihre auch dazugesellen müssen. Ich bin kein Polizist, Madame Fleur, ich kann tun und lassen was ich will.“ Grimmig beiße ich mir auf die Unterlippe. Dieses verdammte Genie! Schnaubend fahre ich mir durch die Haare und sage etwas in die entstandene Stille hinein und in das schwarze Loch
der Pistole. „Wie ich schon sagte, mein Chef ist ein Sozialarsch“, Lloyd, danke für deine mitfühlenden Worte und für den heißen Tipp mich dumm zu stellen. „Aber ich kann Ihnen Sicherheit garantieren, wenn Sie sich jetzt ergeben. Ich bitte Sie, noch können wir den Fall klären!“ Lügen ist jetzt das was mich am Leben erhält. Ich muss es jetzt also lernen. Wieder blicke ich in diese kalten Augen, zu Schlitzen verengt. „Und warum hast du mir das nicht schon früher angeboten?“ „Sie gaben mir keine Zeit dazu. Es tut mir Leid.“ Ich setze eine möglichst diskrete Miene auf, da ich weiß, sie wird
mir das Dummerchen nicht ganz abkaufen. Daher muss ich versuchen möglichst geschäftlich zu wirken. Eher idealistisch als dumm. so wie Josh, obwohl der eher beides ist. „Sie können das Angebot annehmen“, geht Lloyd nuschelnd auf mich ein. „Oder sie erschießen sie und sterben selbst dabei. Das wäre doch eine Schande, oder etwa nicht?“ Sie pflückt sich die zerzausten Strähnen aus dem Gesicht und senkt die Waffe. Sie will sich nicht ergeben, dass sehe ich an dem Lächeln, so charmant und genießend wie eh und je, auf ihren roten Lippen. Mit ihren Krallen reißt sie das Haarband um ihren Dutt auf und lange,
schwarze Haare wallen über ihren Rücken. Glatt und seidig schimmern sie im dünnen Licht der Lampen. „Eine Schande wäre es wirklich“, sagt sie langsam. „Aber es gibt noch andere Möglichkeiten.“ Sie lächelt mir zu, breit und gewinnend. Gar nicht wie eine Frau, die gerade um ihr Leben kämpft. Oder zumindest um ihre rechtliche Freiheit. „Die Menge die deinem Nichtpolizisten im Sozialbereich mangelt, hat der Mann dem ich folge an Intelligenz. So habe ich viele Möglichkeiten, Mylady.“ Stockend setzt sich der Fahrstuhl in Gang und mein Magen rumort wieder unangenehm. Aber warum sollte Lloyd uns jetzt weiterfahren lassen? Gerade
jetzt, wo sie mit ihren Worten bestätigt hat, dass sie Anonym folgt. Oder kann es sein, dass… Anonym die Fahrstuhlsperre aufgehoben hat? Grauen und Hass packen mich und fegen mich so weit von den Füßen, dass ich rückwärts gegen die Wand pralle. „Du folgst Anonym!“, schnellt es aus meinem Mund und ich verfluche mich für diese überflüssigen Worte. „Na und?“, fragt Fleur von oben herab. Desinteressiert wickelt sie eine schwarze Haarsträhne um den Finger. „Er hat sich hier rein gehackt, nicht wahr?“, ich kann nicht anders, ich muss es wissen. Es ist, als würde ein hungriges Monster in mir sitzen und
gierig nach Antworten brüllen. Es verlangt danach, ich sehne mich danach. „Mir egal, so lange es fährt“, brummt sie immer noch desinteressiert und stopft dem gierenden Monster somit das Maul. Ich kann sie nur wortlos anstarren. Ihre langen Haare, die Krallen an den blassen Fingern und die blutroten Lippen im schönen Gesicht. Sieht so eine Terroristin aus? Ja, schallt es in mir. Genauso. Gelassen, desinteressiert und kühl; mit einem klaren Profil und einem Namen, der mehr verspricht als ein kleines Mädchen. Johanna Fleur. Ich starre auf die Zahlen in der Luft. Ihr Profil, das da hängt wie am Galgen. Egal wie kühl sich
diese Frau doch gibt, ein Wunder muss geschehen um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, ein großes sogar. Mit einem Mal verwischen die Buchstaben ihres Profils, welche so klar aufgeleuchtet haben. Ich habe das schon mal gesehen. Damals, in einer düsteren Bauruine mit dem trommelnden Regen im Nacken. Schön Sie wieder zu sehen, Joan Foster. Und jetzt habe ich es wieder gesehen. Hier, im weißen Fahrstuhl, abgeschottet von der Außenwelt und genauso wie damals wirkt es seltsam surreal auf mich. Wie in einem Traum. Aber nicht irgendein Traum. Nein, einer dieser Träume, die man schon vergessen hat
bevor man die Augen aufschlägt und dann… Tage später erinnert man sich an diesen einen Traumfetzen, kaum eine Sekunde lang und es kommt einen vor wie in ferner Vergangenheit erlebt. Einer dieser Träume ist es, in dem ich die Worte in ihrem Profil aufflackern sehe. Alles ist noch. Immer noch steht da Johanna Fleur, ihr Alter, ihre gefälschte Arbeitsstelle… alles! Und unter Bemerkungen leuchten diese Worte in mein Gesicht und tadeln meinen Stolz. „Schön mal wieder von Euch zu hören, Anonym. Oder soll ich sagen John, oder Isaac? Wie schon beim letzten Mal kann ich sagen, ihr Handeln ist Systemwidrig und darauf stehen
mindestens fünf Jahre Haft. Dazu kommt das Eindringen in ein Hochsicherheitsgefängnis und Beamtenbeleidigung. Außerdem Gewaltandrohung, vielleicht sogar versuchter Mord.“ Ich lecke mir über die Lippen wie eine Katze, die das letzte bisschen Milch erhaschen will. „Eben habe ich noch gedacht, nur ein Wunder kann Fleur retten“, sie blickt mich kalt an, doch ich starre zurück. „Tja, aber außer ein paar Fahrstühle in Gang bringen und mit Buchstaben spielen kannst du auch nix ausrichten, oder?“ Dabei weiß ich, dass er gut und gerne auch Zugriff auf die Panzerglasabsperrungen und die
Gasvorrichtungen haben sollte. Sogar Lloyd, der Waschlappen, kann mir nicht mehr helfen. Nur noch Limbardt und Eve, wenn die noch die Verfolgung halten.
Schreib mir was!
In einer fließenden Bewegung öffnen sich die Türen des Fahrstuhls. Ohne ein Rucken oder Stocken geben sie den Blick auf einen weiteren weißen Flur frei. Genauso wie der aus dem wir kamen, ist er komplett plattiert und betäubt das Auge mit diesem sterilen weiß. Sperrwände aus Glas flimmern im Gang, man sieht nur den Lichtreflex auf den Scheiben, ansonsten nichts. Der Gang scheint leer, aber die schweren Türen in den Seiten eingelassen widerlegen das Bild. Hier müssen die Zellen sein, denke ich trocken. Irgendwo
hier muss Fleurs Ziel sein. Ich blicke zu Fleur, welche mir wieder die Pistole in den Rücken bohrt. Wortlos gehen wir los. Verlassen und allein quietschen die Gummisohlen meiner Turnschuhe auf den Fliesen. Das dominantere Klatschen der Absatze dagegen klingt schon fast brutal laut, wie ein Uhrwerk, welches tief in meinen Kopf immer wieder hämmert: Deine Zeit läuft ab. Tickend, kontinuierlich, bis das Uhrwerk irgendwann stehenbleibt, wie Fleurs schwarze Stiefel vor einer der Stahltüren. Eine Gänsehaut kriecht meinen Nacken hinauf und ich balle die Hände zu Fäusten, um den Schauer in mir zu unterdrücken, der vom kalten
Stahl hervorgerufen wurde. Ich beruhige mich augenblicklich, wenn auch nur vorübergehend und hebe den Kopf um die große Tür, oder besser das Tor, genauer in Augenschein zu nehmen. Standhaft und undurchdringlich erhebt es sich vor meinen Augen. Schwere Flügel zu beiden Seiten. Ohne auch nur eine Rille zu hinterlassen treffen sie sich in der Mitte und wirken fast so, als hätte jemand einen Stahlklotz in die Wand eingelassen, aber selbst ich würde mir so ein Mordinstrument nicht in die Wohnung kommen lassen. Wenn ich solche, nicht zu bewegenden Türen sehe, bekomme ich immer dieses Gefühl der Beklommenheit in der Brust.
Das Gefühl, welches einem zuflüstert wegzurennen. Die Freiheit zu wahren, denn irgendwie verbinde ich solch eine Tür mit dem Raub meiner Freiheit und mit dunklen Räumen. Ich schüttle mich und meine hellen Haare tanzen um den Kopf. Ich presse die Lippen aufeinander und verbiete mir diese kindischen Gedanken. Was zählt ist mein Hirn, und nicht das dumpfe Rumgeunke meines Herzens, dass anscheinend auch nicht wirklich weiß, was es denn jetzt empfinden soll. „Ist das euer Ziel?“, frage ich an Fleur gewandt. Sie blickt auf mich herunter und ihre Zähne schaben etwas Lippenstift ab. „Mal
sehen.“ Sie wendet sich dem dunklen Stahl zu. Auf ihm ist in roter Farbe groß die Zahl 7 abgebildet. Geradezu mahnend. Aber Fleur lässt sich davon nicht beirren, genauso wenig wie ich mich davon einschüchtern lassen sollte. Ich sollte eher Angst um etwas anderes haben, denn als ich zu meiner rechten blicke, sehe ich das Panzerglas herunterfahren. Langsam. Ohne ein Stocken oder Rucken. Und tief in mir löst der Anblick des herunterfahrenden Glases einen Adrenalinschub aus. Wie ein Elektroschock beschleunigt mein Herz von null auf hundert und ich schnappe nach Luft. Anonym würde es nichts
bringen uns einzusperren, aber Lloyd muss sie stoppen, jetzt da er weiß, dass sie hinter dem Häftling in Nummer 7 her ist. Und Lloyd ist es egal, ob ich dabei auch draufgehe. Ich sprinte los, hinter mir höre ich einen schrillen Aufschrei. Meine Turnschuhe quietschen wie sie noch nie gequietscht haben und mein Herz feuert wie ein Kohleofen. Ich brauche mich im Sprint nicht umzudrehen, um zu sehen wie sie zielt. Mein Instinkt sagt mir ich soll springen. Und ich springe. Schmerzhaft pralle ich mit der Brust voran auf die kalten Fliesen, schliddere über das blanke Weiß und rutsche unter der Absperrung hindurch. Ich bin noch dabei
nach Luft zu schnappen, als das Glas in den Boden prallt und mich von Fleur abriegelt wie eine unsichtbare Wand. Und durch das Glas kann ich die Einschusslöcher im Boden sehen. Rund und schwarz, gar nicht so weit von mir entfernt. Ich sehe Fleur fluchen, aber ich fluche auch. Ich stehe auf und ringe immer noch nach Atem. Beim Hechtsprung war mir alle Luft aus den Lungen geprellt worden und ich fühle mich wie ein platter Gummireifen. Seltsam aufgebraucht. Das einzige, was mir Johanna Fleur noch widmet ist ihr ausgestreckter Mittelfinger, den ich mit Flüchen
kommentiere. Ansonsten ignoriert sie mich, blickt skeptisch an die Decke und die Wände. Sie sucht wohl die Gasvorrichtungen. Sie weiß genau, dass Anonym die Wände nicht betätigt hat und dass sie in der Klemme sitzt und dementsprechend schnell lässt sie vom Torscanner ihr Profil einscannen, auf dem noch immer steht, sie sei hier angestellt. Sie tippt nur eine Zahlenkombination ins Tastenfeld ein, wartet überhaupt nicht ab, was passiert. Sie dreht sich um und eilt mit langen Schritten und schwingender Hüfte auf mich zu. Dampfend sehe ich gelblichen Rauch aus dem Boden steigen. Ich rieche weder etwas, noch höre ich etwas.
Geräusch und Geruchlos breitet sich das Gas langsam aus und wird Madame Fleur langsam aber sicher ersticken. Ich sehe wie ihr Kopf panisch herumfährt, die langen Haare wirbelnd. Ich sehe wie die Zähne über die Unterlippe schaben und das Gesicht sich in Schreckensfalten legt, die Schönheit wegfegt. Jetzt ist sie diejenige von uns beiden die den Angstschweiß spürt. Und ich stehe hier in Sicherheit, bin der Gewinner… Trotz dieser Erkenntnis überkommt mich keine Freude. Immer noch ringe ich nach Luft und kann meine Augen gar nicht von der Frau hinter der Scheibe wenden, welche mich jetzt ansieht, aus
schreckensweiten Augen. Ich weiß, ich bin ein Mistkerl, aber ich kann nicht anders. Gelassen und lächelnd strecke ich ihr den ausgestreckten Mittelfinger entgegen. Aber zu meiner Verwunderung bleibt sie weder stehen oder wird panisch. Sie kommt auf mich zu, hält überhaupt nicht an. Mir wird mulmig zumute. Wann legt dieses verdammte Gas sie endlich lahm?! Aber der gelbliche Rauch wabert noch dünn durch die Luft und während sie direkt vor mir an der Scheibe an gekommen ist, sehe ich hinter ihr einen Schatten im Rauch stehen. Eine Szene wie aus einem Horrorfilm, und ich wünsche mir sehnlichst, dass diese Frau
endlich zu Boden sinken würde. Stirb endlich! Ich schlage mit der flachen Hand gegen das Glas, und nur Zentimeter vor meiner erstarrten Miene verziehen sich ihre blutroten Lippen zu einem Lächeln. Die langen, dünnen Finger gleiten in ihre Weste und holen ein handgroßes Bündel hervor, welches sie mit einer energischen Wucht genau da an die Wand pappt, wo meine Hand immer noch ruht. Ich brauche ihre Hände nicht zu sehen, die etwas auf dem Bündel tippen, ich weiß mit einem alles vernichtendes Grauen, dass das ein Sprengsatz ist. Die Waffen einer Frau… Mein Herz würde
explodieren… Ich stolpere Rückwärts. Vor mir baut sich der gelbliche Rauch auf, so hoch wie eine Wand. Und unter ihm steht die Frau und schmiert einen roten Kussmund auf das Glas. Hatte ich eben noch gedacht, gewonnen zu haben? Was für eine Dummheit! Die Explosion fegt mich von den Füßen und schleudert mich einige Meter weiter zurück. Ich spüre wie ich schreie, höre mich aber nicht. Der Knall der Explosion hat mein Gehör fast lahmgelegt und ein durchdringend heller Ton pfeift durch den Gehörgang wie eine Warteschleife. Mein Herz hat ausgesetzt, oder bin ich tot? Oder warum kann ich
mich nicht bewegen? Lauf!, schreit eine innere Stimme. Aber mein Körper ist still. Zitternd kann ich mich auf die Seite drehen, nach Luft schnappen und etwas Beißendes in meine Kehle fühle. Hätte ich Luft, so hätte ich geschrien. Vielleicht habe ich das auch, ich selbst habe es jedenfalls nicht gehört. Um mich herum scheint man die Luft abgesaugt zu haben. Egal, wie sehr ich keuche, ich sehe nur mehr schwarze Flecken und eine immer dunstiger Umgebung. Beweg dich! Lauf! Joan Foster! Taumelnd komme ich auf die Beine und renne weg von der Stahltür oder in die Richtung, in der ich den Fahrstuhl
vermute. Meine Lunge schreit und meine Ohren scheinen mich zu trügen, denn sie hören ein Stampfen und Klingeln. Mein Rachen brennt und meine Augen verlieren immer wieder ihr Licht. Lichter aus und vorbei… nein! Ich stoße mich von der Wand weg, gegen die ich getaumelt bin und sehe irritiert einen Schatten näher kommen. Das Klingeln in meinen Ohren. Das müssen die Stöckelschuhe sein! Hass und Wut brennt sich in meinen leeren Kopf und füllen meinen Körper wieder mit Leben. Egal, wie sehr meine Lunge brennt, egal, wie schwach ich mich fühle, diese Frau…! Ohne viel nachzudenken passe ich den
richtigen Moment ab und werfe mich mit allem mickrigen Gewicht, dass ich hab gegen sie. Ich spüre ihre Knochen beben und höre das Keuchen ihrer sinnlichen Lippen direkt an meinem Ohr und wie in der Polizeischule vor einigen Jahren, rolle ich mich ab und komme sofort wieder auf die Beine. Blitzschnell reiße ich mehr schlecht als recht die Waffe aus meinem Ausschnitt und ziele auf Fleur, welche benommen am Boden liegt. Doch von meinen geschärften Sinnen aufgeschreckt fahre ich sofort herum und stehe einem Jungen gegenüber. Der Dunst verwischt seine Konturen. Und doch erkenne ich die südländische Haut im starken Kontrast
zum weißen Shirt und der weißen Hose, beides zu groß. Stumm wie ein Geist steht er vor mir, blickt direkt in die Mündung meiner Waffe. Surreal wie ein Traum ist das, was ich gerade Realität nennen darf. „Keine Bewegung!“, belle ich mit kratziger Stimme. Immer noch tanzen die schwarzen Flecken vor mir, wie Kinder die mich auslachen. Er blinzelt. Seine Augen sind braun und matt. Die langen schwarzen Wimpern umranden sie wie mit Kayal nachgezogen. Unheimlich nah und beobachtend wirken sie. Hat er sich bis jetzt überhaupt bewegt? Ich bin kurz vor der Ohnmacht und doch scanne ich durch
das CP sein Profil. Ein großer Fehler, der diesem Traum mit einem Mal eine gewisse Panik verleiht, obwohl ich gedacht hatte, mit der Todesangst ginge es nicht noch mehr. No. 7 Prisoner of South City (until 2 years) Slaying in 2 causes, aggravated battery in 1 cause. Ich blicke in die schokoladenbraunen Augen des Jungen, starre auf das zerknitterte weiße Hemd und auf die zerzausten, rabenschwarzen Haare, welche ihm fast über die Augen fallen. Der Psychescan des CP zeigt ein eine Farbe an, genauso schwarz wie sein langes Haar. Ein Mörder. Ein Verrückter.
Mein Tod? Ich schieße und erwische nichts. Das letzte, das ich spüre, ist eine Faust an meiner Kehle, genau am Kehlkopf und dann sind alle Lichter aus. Aber es ist nicht vorbei. Als ich aufwache hat sich das gelbliche Gas verzogen. Meine Lunge ist trocken und fühlt sich an, als würde ein dreckiger Lappen in ihr stecken und bei jedem Atemzug scheuern. Ich huste. Ein leises Blutrinnsal tropft in meine Hand und der Geschmack nach Metall liegt auf meiner Zunge, so schwer wie sich mein ganzer Körper fühlt. Ich fühle mich ausgebrannt, schwach sogar. Und auch wenn ich nicht weiß wie lange ich
ohnmächtig war, so weiß ich noch genau alles was geschah. Ich sehe die Frau hinter der Scheibe, das Bündel hervorholend. Ihre blutroten Lippen lächelnd, die rosafarbenen Krallen am ergötzenden Gesicht… Ich weiß noch genau, wie ich mich gefühlt hatte, als die Scheibe in die Luft ging wie dünnes Plastik. Und ich erinnere mich genau an diesem Blick in den braunen Augen. Sie hatten dieselbe Farbe gehabt, wie die Schokolade, welche Lloyd so gern zwischen seinen Zähnen zermalmte. Ich will an mein HeadsetHandy fassen, aber es ist nicht mehr da. Sie hat es mir aus dem Ohr gerissen. Diese Verdammte!
Ich springe auf und taumele sofort gegen die Wand. Vor meinen Augen tanzen schwarze Flecken, aber ich ignoriere sie. Pfeifend versuche ich Luft zu holen und schiebe den Schmerz zur Seite. Ich denke nicht daran, was für ein Gas das gewesen war und ich denke auch nicht an meine Gesundheit. Ich danke an Fleur und den Gefangen No. 7. Entschlossen atme ich aus und gehe den Gang entlang zum Fahrstuhl. Endlich ist dieses abscheuliche weiß von den Wänden gewichen. Alles ist mit einer feinen Staubschicht überzogen, gerade so, dass man es mit schlechtem Auge übersehen könnte. Anders als die großen
Brocken der Glasbarriere, welche überall auf dem Boden liegen. Um ehrlich zu sein kenne ich keinen Sprengsatz von der Größe eines Taschenrechners, der eine solch hohe Vernichtungskraft hat. Noch nie habe ich davon gehört. Beim Fahrstuhl angekommen drücke ich auf das Erdgeschoss. Die Metalltüren schließen sich, schließen mich ein. Sie schotten mich von allem was passiert ist ab, als wäre ich in einer anderen Dimension in der es nicht mehr zählte, wo Anonym steckte und was es mit No. 7 auf sich hat. Schwer atmend lehne ich mich gegen die Wand. Ich fühle mich so abgenutzt wie
ein alter Turnschuh, aber nicht so einer, den man danach in die Tonne haut, sondern einer, den man gerade erst zu Recht gelaufen hat. Einen, der mir passt und mit dem ich den Lauf meines Lebens beginnen will. Ich schließe die Augen und lasse meinen Kopf zurückrollen. Sanft prallt er gegen das kühle Metall der Fahrstuhlwände und klärt die dickflüssige Hitze in meinem Hirn leicht. „Wo sind sie…?“, meine Stimme klingt wie die eines Verdurstenden. „Schon außerhalb des Gebäudes, Foster.“ Lloyd antwortet so unerwartet durch den Lautsprecher, dass ich zusammenzucke und meine Augen schmerzend
herumzucken. Außerhalb des Gebäudes… „Was ist mit Eve und Limbardt?“ „Priorität liegt auf unserem Hintermann, Josh Bloom. Bald kommen sie in seine Reichweite.“ Ich massiere meine Schläfen. Sie fühlen sich an, als würde ein unsichtbarer Druck sie zusammenpressen, genauso wie sich mein Kehlkopf anfühlt. Als wäre er nach innen eingedellt. Mir wird schlecht. Er ist der Grund, warum ich so schlecht Luft bekomme. Bei jeder Bewegung des Halses schießt der Schmerz durch ihn hindurch, genau durch die Stelle, wo die Fingerknöchel des Häftlings sich in meinen dünnen Hals
gebohrt hatten. Ich schlucke und ringe nach Atem, ein Prozess der mir so einiges abverlangt. „Aber… Josh hat an die 70 Mann zur Verfügung.“ „Zweifelt Ihr etwa an seinem Sieg?“, er klingt amüsiert. Aber es ist nicht der Zeitpunkt sich zu amüsieren! „Ich kenne ihn, das gibt Grund genug!“ Der blonde Junge mit den blauen Augen, der mir immer was zu Trinken anbietet und mir diese Blicke hinterherschickt… „Die Dame ist für uns kein Ziel, CP verhindert es… aber der Häftling. Bei ihm entsichert sich die Waffe sofort.“ Seine Augen… Selten haben sich Augen so einzigartig in mein Gedächtnis gebrannt. Ohne jeglichen Schimmer,
dunkel wie die Nacht selbst. Leblos. „Fragt sich nur ob man trifft“, schneidet Lloyds Antwort meinen Stolz in zwei Hälften. Ich beiße mir auf die Lippen und stolziere durch die sich öffnenden Fahrstuhltüren hindurch. Ich hole Luft. Rasselnd schneidet sie in meine Lungen. Den Sitz meiner Turnschuhe testend, klopfe ich mit der Spitze zwei Mal auf die Platten des Bodens. Weich federt das Gummi des Turnschuhs, eingelaufen… fertig zum Rennen. Ich renne los und ignoriere die Luftnot und den Schmerz in meinem Hals. Soweit meine Beine es hergeben laufe ich den langen, weißen Gang entlang, denn ich muss so schnell wie möglich in
die Zentrale. Rechtzeitig komme ich eh nicht mehr zu Josh, geschweige denn nach draußen. Aber ich will sehen wie die Frau fällt. Wie ihre stolzen Augen sich mit Angst füllen… In meinem Kopf rasen nur die Worte Lloyds. Josh ist unsere letzte Chance. Er hat das Gebäude umstellt, er ist das Auffangnetz und eigentlich steht er dort nur, weil wir ihn weit weg vom eigentlichen Plan haben wollten. Und was jetzt? Jetzt steht er als letzter Ausweg im strömenden Regen und wartet auf Fleur mit ihrer entsicherten Waffe und auf No. 7, dessen Faust mich niedergestreckt hatte, als wäre ich aus
Papier. Ein kleines, gefaltetes Figürchen, dass man hin und her schob, nur um es nachher in den Müll zu schmeißen. Quietschend halten meine Turnschuhe an, ich stolpere überrascht nach vorn, realisiere erst im Fallen, was meine Augen ohne denken schon verarbeitet hatte. Was…?! Ich fange mich stolpernd an der Wand ab. Mein Atem geht rasselnd und keuchend, aber ich höre es nicht mehr. Ich höre gar nichts mehr. Ich sehe nur noch. Das klinische Weiß des Ganges strahlt mir in die Augen und peitscht meinen Verstand. In einem gewaltigen Kontrast dagegen sticht das rot geradezu unterschwellig ins Auge. Es
ist dasselbe Rot wie das auf den Lippen Fleurs. Es ist genauso rein und voll. Die Hände vor dem Mund geschlagen taumle ich zurück. Ich will nicht glauben, was ich sehe. Wie abstrakte Kunst erscheint mir das Gesehene. Ein martialisches Gemälde… Rechts von mir liegen zwei Männer, groß wie Schränke, auf dem Boden. Das Gesicht nach Unten, das Rot um sie herum. Über ihnen an der weißen Wand sind Beulen und Spritzer zu sehen. Weiter vor mir im Gang liegen drei weitere. Einer hat den Arm seltsam unnatürlich verdreht, er atmet noch. Langsam kehrt der Ton zu mir zurück. Mit jedem hechelnden Atemzug wird es lauter in meinem Kopf und schließlich
reicht es um mich aus der Starre zu lösen und auf den noch atmenden Mann zu zustürmen. Ich rutsche das letzte Stück auf den Knien und reiße die schwarze Strumpfhose auf ohne es zu merken. Ein blaues Profil flackert auf. Luc Canses. Meine Finger, seltsam bleich, krallen sich in seine Uniform. Ich verkrampfe meine Muskeln, versuche ihn umzudrehen. Ein Stöhnen wie von einem Fels dringt an meine Ohren. Ich selbst beiße die Zähne zusammen und schaffe es schließlich Canses auf die Seite zu drehen. Ein erschöpftes Gesicht blickt mich an, von Schweiß überzogen. Ich ziehe meine Finger zurück. Meine Augen huschen zu
dem verdrehten Arm und wieder wird mir schlecht. „Was ist hier passiert?“, frage ich kühl. Meine Übelkeit tief in mir versteckt. „Der Häftling…“, er schnappt nach Luft. Seine Stimme ist genauso trocken wie die meine. „Er ist besser als jeder von uns.“ „Was meinen Sie damit, Canses?“ Seine Brust hebt und senkt sich, der Schweiß läuft. Ich sehe wie sich seine Lider schließen wollen, als wäre er müde. Nein! Aus einem Impuls heraus packe ich die Hand des verdrehten Arms. Der Körper des vor mir Liegenden verkrampft sich und ein schmerzerfülltes Keuchen schneidet
durch die Luft. „Hören Sie mir zu: Ich bin Kommissarin Joan Foster und ich muss alles wissen um die da draußen zu informieren, verstanden? Was haben Sie gemeint, Canses? Bleiben Sie wach!“ Der Schweiß benetzt meine Hand, aber ich lasse seinen Arm nicht los. Würde ich es tun, er würde sofort ohnmächtig werden. Die Übelkeit bringt mich zum würgen. „Er ist schnell… schneller als die Entsicherung der Waffe… nicht zuerst auf die Frau… schießen… der Junge ist… die Gefahr… Er ist schnell.“ „Danke, Luc Canses“, Ich lasse die Hand los, aber immer noch steht sie verdreht in der Luft. Unnatürlich und
verkrampft. „Eve Levander… Kommandant… Er hat ihn… angeschossen…“ Angeschossen? Den Jungen… immerhin. Ich drehe mich von Canses weg. Ich weiß, dass er gerade ohnmächtig wird, wie ich es gesagt hatte. Ruckartig stehe ich auf und richte meinen Blick gen Decke. „Haben Sie das gehört, Lloyd? Der Junge ist angeschossen.“ Keine Antwort. Kein Rauschen. Nichts. Ich werfe den Kopf zurück und steige über den reglosen Canses hinweg. Wenn Lloyd mir nicht antworten will muss ich halt zu ihm persönlich! Doch um ehrlich zu sein komme ich keinen Schritt weit. Ein bläulich blasses Profil hält mich auf.
Einsam flackert es ruhig über dem reglosen Körper des Mannes, welcher zusammengesackt an der Wand lehnt. Als würde er warten. Eve Levander. Ich starre ihn an. Reglos liegt er da. Die Augen geschlossen, keinen Atem auf den Lippen. Dafür rinnt ihm Blut aus dem Mundwinkel und seine Hände sind in letzten Bewegungen um seinen Hals geschlossen. Ich verbanne jegliches Gefühl der Traurigkeit und Wut in mir. Ohne jegliche Zier vorm toten Mann knie ich mich vor ihm nieder und ziehe die steifen Finger einer nach dem anderen von seinem Hals. In mir würde ich am liebsten davon laufen. Bloß nicht das noch flüssig schillernde Blut sehen.
Ich versuche die Gefühle zu ignorieren, die in mir hoch kochen, als ich das einsam aufflackernde Hochzeitsfoto sehe. Robin Schmidt. Seine Frau lächelnd an seinem Arm. Ich schüttle mich und blicke angestrengt auf den atemlosen Hals, von dem ich wie in Trance einen Finger nach dem andere löse. Und wie ich es geahnt hatte, sieht dieser Hals nicht mehr normal aus. Er ist seltsam eingedellt und ein Bluterguss hat sich dort, wo der Kehlkopf sein sollte, angestaut. Schmerzhaft haben sich seine Finger um die Kehle gekrallt, als diese von der Schwelung blockiert wurde und keine Luft mehr durchließ. Die leblose Hand klatscht dumpf auf den
weißen Boden. Ich starre ihr hinterher, immer noch selbst reglos. Sie liegt neben ihm, direkt neben seiner Hose, aus deren Tasche eine Zigarette ragt. Die eine Zigarette, die Lloyd ihm vorm Eingang in die Hosentasche gesteckt hatte. Mit dem Kommentar „Halt mal Kurz.“ Aber Eve würde sie nie wieder zurückgeben… Meine Augen saugen diese Momentaufnahme noch auf, ziehen sie in sich hinein; ich kann mich nicht losreißen. Erst viel später ist es das einzige, was ich von unserem Spezialeinsatz in dieser Nacht noch genau sagen kann. Eve Levander, ein Mann den ich nie vergesse. Egal, wie
sehr sie verschwimmt, meine Erinnerung. Eins weiß ich aber mit Gewissheit und ich weiß es auch schon, als ich im Gang stehe und auf seine verkrampften Finger starre. Josh die Pfeife wird es nicht schaffen, sie aufzuhalten. Nicht Johanna Fleur und auch nicht Häftling No.7. Er ist ein Idiot.
Ich wache mit unglaublichen Kopfschmerzen auf. Es klingelt in meinen Ohren. Tausend Messer bohren sich in meine Schädeldecke und zertrümmern sie gnadenlos – genauso wie das Geräusch der Tastatur, welches sich in mein Gedächtnis stampft. Immer wieder. Klack. Klack. Klack… Es ist seltsam, denn ich bin nicht benommen, denn trotz all des Schmerzes gibt es dort ein Ziel, welches den Nebel meines Hirns durchstößt: Ich muss ihn kriegen! Ruckartig fährt mein Kopf hoch und meine brennenden Augen richten sich auf den Computerbildschirm wenige
Zentimeter vor ihnen. Auf meiner Wange brennen die Abdrücke der Tastatur auf der ich eingeschlafen bin. Was für eine Ironie des Lebens? Ich versuche meine Augen offen zu lassen und blinzle in das Grelle blau des flimmernden Bildschirms. Beißend hell. Zu hell! So müde! Von der Last der Müdigkeit sind meine Schultern gebeugt. Im unnatürlichen Licht des Bildschirms kann ich mein abwesendes Spiegelbild ausmachen, wie es sich selbst träge zublinzelt. Was für Wrack, denke ich. ES ist ein seltsames Gefühl mal wieder in den Spiegel zu sehen. In den bläulich schimmernden ungewollten Spiegel meines Arbeitsplatzes.
Unnatürlich helle Augen stieren mich aus tiefen Schatten an, bleich wie Papier hebt sich meine Haut farblich kaum von den Wasserstoffblonden Haaren ab. Meine zartrosanen Lippen sind rau und brennen an den Mundwinkeln. Ich sehe aus, als hätte ich seit Monaten nicht mehr die Sonne gesehen. Vielleicht hab eich das auch nicht. Das einzige Mal, wo ich wirklich draußen war, war bei dem letzten Einsatz gewesen und der war bei Nacht. Egal! Ich klatsche meine Hand auf die Wange und erhebe meine Stimme gebieterisch in den abgedunkelten Raum:
„Kaffee!?“ Ich warte keine Antwort ab. Meine langen dünnen Finger tanzen schon flink über die Tasten und dieses verhasste Geräusch lässt mich jedes Mal s im Innern zusammenzucken. Klack. Klack. Hinter mir höre ich Schritte herannahen, aber ich drehe mich nicht um. Klack. Klack. Klack… Ich scrolle die Akten, analysiere jeden wichtig erscheinenden Fakt, verlange meinem müden Gehirn Höchstleistungen ab. Mit einem dumpfen Geräusch lehnt sich derjenige, der herankam, an meinen Schreibtisch, stellt aber keine Kaffeetasse ab. Aber ich brauche dieses Getränk um weiter machen zu können,
um endlich etwas zu erreichen! „Kaffee!“, wiederhole ich gebieterisch und strecke meine Hand aus. „N-Nein“, antwortet Josh mir zögerlich und von Null auf Hundert jagt mein Puls an die Decke. Dieser IDIOT! Zwei Tage war es her, dass ich dort gestanden hatte. Im Kontrollraum des Hochsicherheitsgefängnisses. Und um ehrlich zu sein hatte ich nichts anderes gemacht als nur dort zu stehen – abgesehen vom Atmen natürlich. Für alles andere fehlte es mir einfach an Durchsetzungsvermögen gegen meine Frustration. Lloyd und ich waren alleine gewesen. Er saß nach wie vor auf dem
Stuhl, die Beine auf das Schalterpult gestapelt und seine letzten Schokoladenvorräte am zermalmen. Die Luft war bereits schlecht gewesen, so schlecht, dass vom Atmen auch nicht mehr die Rede war. Eher vom Filtern. Aber das war alles egal gewesen und das einzig Wichtige hatten wir vergeigt. Eher gesagt ein gewisser Josh Bloom hatte es vergeigt. Stille lag über dem kleinen Raum und Stille zerriss meine Gedanken. „ES- Es tut mir Leid…“, stammelte dieser Idiot doch allen Ernstes durchs Mikro. „Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erklären, dass sie es mit fünfundsiebzig
Mann nicht geschafft haben eine Frau und einen Minderjährigen auszuschalten?“, ich hätte geschrien, kämen die Worte aus meinen Mund. Aber das taten sie nicht. Sie säuselten zwischen den Lippen von Jacob Lloyd hervor, gewohnt abfällig. Noch nicht ein Mal Schokolade oder Zigarette entfernte er zum Schimpfen aus seinem Mund. „Wir hatten ein Problem! So hören Sie doch…!“ Ich hielt es nicht mehr aus. So lange hatte ich darauf hingearbeitet endlich einen Beweis zu kriegen und jetzt war er uns so einfach aus den Händen geflutscht. Ich griff nach dem Mikrophon und brüllte mit meiner
schmerzenden Stimme schrill: „Du willst mir ja wohl nicht erklären, dass es FÜNFUNDSIEBZIG MANN nicht geschafft haben ZWEI aufzuhalten?! Josh, du Idiot, höre auf zu stammeln und sei mal endlich ein MANN und erkläre mir gefälligst, was das alles zu bedeuten hat!“ Und er erklärte es mir. Ich hatte seine Worte kaum glauben können und ich hatte sie auch nicht glauben wollen. Ich hatte nur dagestanden und zugehört, während der Gestank meine Kehle wund scheuerte. „… sie kamen heraus und ich rief sie sollten sich ergeben, Klausel so und so… sie liefen weiter… der Junge vorneweg… Und nun ja – Wir konnten
nicht schießen. Alle dieser Männer hätten geschossen, egal welcher Befehl, aber sie konnten nicht, verstehst du, Joan? Das Criminal Profiling hat es verhindert. Beide Personen waren psychisch stabil und beide hatten keine Attentate verübt. Wir konnten nichts machen…“ „Ihr habt ja wohl versucht einen Zugriff zu starten, oder? Ihr wart FÜNFUNDSIEBZIG!“ „Und warum habt ihr sie nicht überführt?! Es tut mir Leid, Joan, ehrlich. Aber dieser Kerl war unglaublich schnell. Ich gebe zu, ich habe zu spät reagiert. Ich hätte früher den Befehl geben sollen. Aber ich war
perplex, Joan! Versteh mich doch bitte…“ – Ich hatte ihn nicht verstanden. Ich hatte aufgelegt. Wieder war Stille in den Raum eingekehrt und auf den Monitoren an der Wand vor mir konnte ich das Gemetzel im Flur aus der Vogelperspektive betrachten. Ich konnte Eve Levanders Haarschopf von oben sehen, zusammengesunken an der Wand. Genauso wie ich den Korridor sehen konnte, in dem immer noch überall dicke Glassplitter herumlagen. Alles war schief gelaufen. Wir hatten es vermasselt! Ich war so frustriert und wütend, dass ich keine Worte mehr fand. Alles was ich zu Stande brachte war ein
jämmerliches Würgen und ein Schluchzer, welcher aber nie meine Augen erreichte. Ich weinte nicht. Das letzte bisschen Würde behielt ich, auch wenn ich es mir nicht nehmen konnte wie ein Dreijähriger auf dem Boden herumzutrommeln. „Interessant“, sagte Lloyd schließlich, immer noch regungslos von seinem Stuhl herab. Ich schwieg. „Sie konnten auf ihn schießen, Joan Foster, Josh Bloom aber nicht. Interessant…“ Ich runzelte die Stirn. Niemals würde ich den Schrecken vergessen als ich das Profiling gestartet hatte. Die Gestalt im Dunst… seine Psyche war komplett schwarz angezeigt worden. Wollte Josh
mich zum Narren halten? Jeder Depp hätte da schießen können. „Das kann nicht stimmen“, sagte ich und stand wieder auf. Ich reckte das Kinn hoch und starrte wieder auf die Monitore. Noch einen Sieg würde ich No.7, Anonym und Johanna Fleur niemals wieder gönnen. „Warum?“, fragte Lloyd wortkarg. „Warum?“, ich musste fast lachen. Aber es war ein freudloses Lachen. „Weil die Psyche weitaus mehr als 90% labil war, da entsichert sich jede Waffe mit Freuden! Es kann nicht sein, dass jemand den Wahnsinn verliert und auf unter 50%
kommt!“ „Warum?“ Ungläubig starrte ich ihn an. Lloyd war verrückt, hatte ich gedacht. Aber in den nächsten Stunden sollte ich erfahren, dass er durchaus Recht hatte. Oder wenigstens den richtigen Riecher. Das Criminal Profiling Programm arbeitet vollkommen unabhängig vom normalen Profiling. Es ist etwas, dass in jeder Sekunde sich ändern kann. Aber das ist eigentlich unmöglich. Wer psychisch labil ist kann sich nur in vielen Jahren kurieren und dass auch nur sehr langsam. Jedenfalls im Normalfall. No.7 ist jedenfalls kein Normalfall. Ich hätte es wissen sollen, als ich die Verwüstung
im Flur gesehen hatte und er mich so ohne Weiteres fast getötet hatte, aber ich hatte es nicht sehen wollen. No.7 ist kein Computerfreak den ich erschießen könnte… er ist ein ganz anderer Gegner. Jemand, dem man nicht zu nah kommen sollte. Und jemand dessen Psyche anscheinend von komplett stabil auf nicht mehr zu retten umspringen konnte; und das in wenigen Sekunden. „Geht’s noch?! Entweder du verpisst dich oder du gibst mir, was ich will, du Mistkerl! Keine halben Sachen, kapiert! Ich werde ihn schnappen also behindere mich nicht dabei mit deinem Gesülze!“ In seinen blauen Augen schimmert ein
seltsamer Ausdruck, bleich ist ihre Farbe, flimmernd wie der Bildschirm. Das passt nicht zu diesem Idioten. Normalerweise ist er der einzige im Raum der es fertig bringt eine menschliche Wärme auszustrahlen. Jetzt ist auch er mit Eis überzogen. Aber das scheint er selbst nicht zu registrieren. Mit vor Schrecken kleinen Pupillen starrt er mich an. Seine Hände zittern. „Ich erkenne dich kaum wieder, Joan…“ Ich weiß, ich bin ein Teufel, ich weiß, es ist ungerecht. Na und? „Du hast mich ja auch nie gekannt!“, er ist ein Idiot du n ich hasse ihn dafür, dass ich ihn nicht hassen kann. Wenn er doch wenigstens absichtlich Fehler machen würde! Dann
hätte ich kein schlechtes Gewissen ihn anzubrüllen! Ich schüttle mich. Das kann nicht sein! Ich habe kein schlechtes Gewissen, rede ich mir ein. So etwas kann ich nicht gebrauchen. Ich muss nach vorn sehen und die Vergangenheit ignorieren. Ich kann mich nicht mit ihr auseinandersetzen, wenn die Gegenwart gerade so brenzlig voranschreitet. „Und jetzt gib her!“, fauche ich und greife nach der Tasse, schneller als er es für möglich gehalten hätte. Das Getränk verschüttet und landet auf meiner Bluse. Heiß brennt der Kaffee in meine Haut. Aber das ist seltsam unwichtig, denn ich spüre es kaum noch. Warum kann ich diesen
Trottel nicht hassen?, durchfährt es mich. Verstört ruckt mein Kinn nach oben und mein Blick durchbohrt seine Augen. Sie sind blau, ebenso wie die meinen. Aber seine sind warm, meine kalt. Er soll aufhören mich so anzusehen! Ich springe schwankend auf, die Arme vor der nassen Bluse verschränkt. „D-Das tut mir Leid!“, winselt der Trottel hinter mir, aber ich habe mich schon zum Gehen umgewandt. „Das sollte es auch“, zischt es zwischen meinen Lippen hervor wie heiße Luft. Was mache ich hier nur? Ich lasse mich von ihm ablenken… Seufzend lasse ich mich wieder auf den Schreibtischstuhl
nieder und reibe gedankenverloren über meine Wange, auf welche immer noch der Abdruck der Tastatur brennt. Ich wende mich wieder dem Bildschirm zu. Josh kann bis nach dem Fall warten, wenn ich ihn hoffentlich nie wieder sehen werde. Aber er will nicht warten:“ Willst du es nich abwaschen gehen?“ „Es gibt wichtigeres“, nuschle ich und beuge mich wieder vor. Wenn das Criminal Profiling bei No.7 nicht funktioniert, stehen wir einem noch viel gefährlicheren Gegner als Anonym gegenüber. Denn anders als Anonym kann No.7 uns durchaus auch physisch fertig machen. Damit setzt er uns unter
Druck, denn jetzt kann er auch uns jagen… „Was?“, stammelt Josh hinter mir. Seine blonden Haare sind ihm fast vor die Augen gewuchert, fällt mir aus den Augenwinkeln auf. Hinter den Strähnen liegt ein bekümmert Schatten, aus dem die Augen nahezu wässrig hervorblinzeln. „Halt den Mund und lass mich in Ruhe!“, herrsche ich und fahre mir über die nasse Bluse. Warum musste ich unbedingt eine weiße anziehen? Die ist jetzt sogar noch durchsichtig geworden… „Warum starrst du mich so an?“ Ich sehe wie seine Lippen sich zitternd
öffnen, zögerlich wie die eines Kindes. Ich höre wie er scharf den Atem einsaugt und wie er dann losbricht: „Soll ich dir etwa beim Krepieren zu sehen?“ Ich stocke für einen Moment zu lange. Er hat mich doch wirklich aus der Fassung gebracht? Ich beschließe, dass ich ihn nicht mit Brüllen und Keifen verscheuchen kann. Schnaubend wende ich mich wieder meinem Bildschirm zu und blicke in meine kalten blauen Augen in der Spiegelung des Monitors. So kalt… „Der Raum ist dunkel, also tu nicht so, als würde mein Anblick so viel her
machen.“ „Joan!“ „Hm?“ Wenn wir aber als erstes Anonym aus der Reserve locken können, müsste No.7 weniger eine Gefahr sein. Wenn man sich auf ihn vorbereiten kann, müsste es doch sicherlich gehen. –Oder etwa nicht? „Du klebst nur noch vor dieser Röhre wie ein Internetjunkie!“ „Ich bin kein Junkie, ich will diesen Fall bloß zu Ende bringen, behindere mich bitte nicht, Bloom.“ „Und was tust du, wenn du ihn abgeschlossen hast?“ „Dann beginne ich den nächsten, dass ist ja wohl klar. Das ist mein Job als
Kommissar.“ Joshs Gesicht taucht vor dem Monitor auf. Er hat sich über meine Schulter gebeugt, sodass ich durch die Spieglung genau in seine Augen blicken kann. Bewusst blicke ich auf alles andere, nur nicht auf ihn. „Und was ist dann dien Job als Mensch?“ ‚Und wieder fahre ich hoch. Mein Blick springt nur für einen kurzen Blick von den Fakten weg und wird sofort vom Sprühen der Funken in seinen Augen in Bann geschlagen. ER… dieser Idiot… „Rede nicht von Dingen, die du selbst nicht verstehst.“ „Du hältst mich für einen totalen Idioten, ich weiß. Aber ich verstehe
allmählich dass du nicht weißt wie unmenschlich und verletzend du auf andere wirkst!“ „Ich wirke nicht so Josh!“, ich hole Luft und spüre wie sie seltsam kalt meine heißen Lungen erfüllt, nur um gleich wieder abgekühlt nach draußen geschickt zu werden. „Wach aus deiner Traumwelt auf und sie auch mal das Schlechte in der Welt; ich bin genauso wie ich mich verhalte, was sollte es mir nützen mich zu verstellen? „Du bist nicht so!“, er dreht den Stuhl auf dem ich sitze schwungvoll herum.. Wütend kralle ich meine Nägel in die lederne Armlehne um nicht gleich im nächsten Moment wie eine Furie auf ihn
zu stürzen. ER hält den Stuhl an, als ich genau auf Lloyds Sofa blicken kann. Ich sehe überall den Müll, ein riesiger Berg, der dass Sofa fast verschluckt. Und aus diesem Berg kringelt sich ein Rauchfädchen und ragen zwei Füße überkreuzt hervor. Schon seit wir wieder zurückgekommen waren, in jener Nacht, hat Lloyd sich nicht von der Stelle bewegt. „Aber wenn du so weiter machst, wirst du zu genauso einem Sozialarsch krepieren und dein Herz in eine verdammte, egoistische Maschine verwandeln! Vielleicht bist du ja stolz auf das, was du selbst in der siehst, aber du bist jämmerlich, denn du täuschst
dich selbst…“ Endlich lösen sich meine Nägel aus dem aufgekratzten Leder und ballen sich zu einer Faust. Der Schlag in seine Magengrube kommt für ihn so unerwartet, dass er mitten in seiner Predigt würgend nach Luft schnappt. Aber mich erfreut dieser kleine Triumph nicht, denn dieser Idiot von Bloom hat mich soeben in einem Wortduell vernichtend geschlagen. „Was muss ich tun, damit du aufhörst mich mit diesem Mist voll zu labern?“, frage ich düster ohne auch nur ein Zittern in der Stimme. Wenn ich ganz ehrlich bin, so weiß ich nicht, ob er Recht hat. Ob ich mir etwas vormache, oder ob ich wirklich so
kaltherzig bin. Eins weiß ich aber: Ich bin zu faul um mich jetzt noch zu ändern. „Was willst du von mir?“ „Dass wir kurz eine Pause von diesem Ort machen.“ „Soll das eine Einladung auf ein Date sein?“, meine buschigweißen Augenbrauen schnellen ungerührt nach oben. „Nun ja…“, unangenehm tritt er von einem Fuß auf den anderen. Ich seufze. Wie hatte ich mich nur von ihm aus der Reserve locken lassen können? Das war mehr als peinlich. „Okay, von mir aus.“ Hiermit gestehe ich mir zu, eine fatale Dummheit gemacht zu haben. Eigentlich sollte ich jetzt in der Zentrale sitzen, wo
mein Platz ist und wo meine Arbeit sich türmt, aber nein, ich sitze stattdessen diesem blauäugigen Engel gegenüber und strahle höchst frostige Stimmung aus. Ich komme mir vor wie die Maschine in der Schlittschuhhalle, welche immer die Bahnen glattschleift: kalt, besser man kommt ihr nicht zu nah und wenn sie endlich weg ist legt man sich, wegen ihrer sauber verrichteten Arbeit, auf die Nase. „Sag doch bitte irgendwas…“, jammert Josh und weicht schon wieder meinem Blick aus. Ich grummle nur irgendwas und blicke mich meinerseits um. Es überrascht mich, dass ich mit meiner Stimmung die Wände immer noch nicht
mit Eis überziehen konnte. Noch strahlen sie tapfer mit ihrer Farbe wie verschütteter Champagner Wärme aus. Wie lange sie noch durchhalten, kann ich bei meiner Laune gerade nicht sagen. Genau so wenig wie ich sagen kann, jemals zu vor in einem solchen Cafe gesessen zu haben. Es ist komplett darauf ausgelegt Wärme in die Herzen der Besucher zu stampfen, ein weiterer Grund, warum ich mir wie der Elefant im Porzellanladen vorkomme. Entnervt seufze ich und stütze desinteressiert meine Backe in die flache Hand. Es klatscht unangenehm. „Hat dir schon mal einer gesagt, dass Charme nicht deine Stärke ist?“, versucht
Josh die Situation aufzulockern. Idiot. Ich blicke ihn demonstrativ nicht an, die Pop-Art Gemälde an der Wand sind interessanter als seine verzweifelten Gesprächsversuche bei denen er gezielt von einem Fettnäpfchen zum anderen stolpert. „Lloyd sagt das ungefähr dreihundert Mal am Tag.“ „A-ha“, kommt es zögerlich von meinem Gegenüber. Peinliche Stille. Ich könnte los schreien vor Verzweiflung! Erst schleppte er mich hierher und jetzt druckst er nur herum wie von der Eismaschine überfahren! Aber ich sage lieber nichts, denn laut meinem Gewissen hatte er ja irgendwie
Recht gehabt und so weiter… Daher stelle ich mich lieber darauf ein, die nächste Stunde im Schweigen zu verbringen und lege meinen Kopf auf den Tisch. Das Nickerchen am Arbeitsplatz vorhin hatte bei Weitem nicht ausgereicht um mein Schlafbedürfnis zu stillen. Und anstatt Josh die ganze Zeit über anzustieren und mich über ihn zu ärgern, kann ich die Zeit auch gleich sinnvoll nutzen. „Joan…?“ Oder vielleicht auch nicht… Wenn er ejtzt stottert, denke ich mit aufkochender Wut, springe ich über den warmherzig gestalteten Tisch und schlage ihm das pastellfarbene Tischbein
ins Gesicht - Ja, das war eine schöne Vorstellung. Aber Josh druckst ncicht zum nächsten Fettnäpfchen, stattdessen fragt er ruhig: „Was hältst du von No.7?“ Ich richtemihc auf und schaue direkt in seine blauen, runden Augen. In ihnen öffnet sich eine träumerische Weite wie beim Blick aufs endlose Meer. Er ist kein Realist, er ist ein Träumer. „Gefährlich“, antworte ich und versuche meine Gedanken von seinen Augen wegzulenken. „Er ist vor allem schwer einzuschätzen… Ich habe keine Ahnung was er als nächstes tut.“ „Da sagst du was“, seufzt Josh und fährt sich mit einer Hand durch die Haare, sodass der Pony für den Bruchteil einer
Sekunde komplett die Sicht auf die markante Stirn freigibt. „Aber was ich meine ist die Frage, was ist seine Verbindung zu Anonym. Es gibt genügend gefährliche Schwerverbrecher, warum dann ihn?“ „Er ist sein Verbündeter, ganz einfach.“ „Ja aber Warum?!“ Ich runzle die Stirn. Bis jetzt interessierte mich nur, was für Fähigkeiten No. 7 haben könnte. Die Verbindung zu seinem Befreier hat mich nie wirklich interessiert. Warum auch? Ich weiß, dass die beiden sich zusammengetan haben, also sind beide Feinde. Schlusspunkt. Anonym brauchte jemanden, der uns auch physisch unter
Druck setzen kann. Er selbst scheint sich ja nur darauf zu verstehen, uns technisch dumm dastehen zu lassen. Obwohl er bis jetzt ja auch nicht mehr gebraucht hat um die Polizei auszuschalten. In Grübeleien vertieft, kaue ich auf meiner Lippe herum: „Wer anonym ist, kann nicht zu Rechenschaft gezogen werden, weil er unsichtbar, ein Geist ist. An sich bräuchte er keinen Schläger.“ „Ja und als wäre das nicht genug, hat Anonym sich nicht nur einfach einen Schläger ausgesucht. No. 7 kann irgendwie das CP austricksen. Es war blütenweiß als ich schießen wollte
und…“ „… als er mich angriff war es schwarz wie die Nacht.“, wieder schaue ich in seine unergründlichen Augen und muss zum ersten Mal heute Lächeln: „Du bist ja doch noch zu etwas nütze, Josh Bloom.“ „Wie immer charmant, Joan“, sagt er komplett ernst. „Ich habe noch etwas weiter recherchiert, was No. 7 angeht, weil ich wissen wollte, wie es sein kann, dass er das CP ohne auch nur auf ein Handy oder dergleichen zu gucken austrickst. Oder woher Anonym das wissen könnte… Jedenfalls habe ich damit begonnen seine Gefängnisgeschichte zu analysieren. Er
hat vor knapp fünf Jahren einen gewissen Herrn Dr. Ravenstein kaltblütig ermordet, der Fall war ziemlich kompliziert, jedenfalls scheint es so, da er sich über Jahre in die Länge gezogen hat. Schließlich wurde er ins Hochsicherheitsgefängnis von South City überführt, lebenslange Haft war das Urteil. Und dafür haben sie vier Jahre überlegt. Das ist doch unsinnig, oder? Er hat alles gestanden, schon in der ersten Woche des Verfahrens, und doch hat das Gericht vier Jahre gebraucht, bis sie ihn verurteilt haben.“ Ich kaue immer noch auf meiner Lippe herum. Da ist wirklich etwas faul, das kann man nicht ausschließen. Vor
allem… Das kann ja wohl kaum wahr sein. „Er ist ja nicht gerade alt, No. 7. Wann hat er den Mord begangen?“ „Es ist bekannt, dass er wegen Mord in Untersuchungshaft war als er 12 war.“ 12… Ich schlucke, meine Kehle ist plötzlich ganz trocken. Aber warum bin ich so geschockt? Wahrscheinlich weil ich immer noch ein so flaues Gefühl habe. Das ist es nicht, was mich beunruhigt. Ich hatte schließlich seine leeren Augen gesehen, gesehen wie seine Hände arbeiteten und gesehen wie wenig in seinem Profil stand, blank, genauso wie sein Gewissen. Ich schlage mit der Faust auf den Tisch: „Josh, in seinem Profil stand, verurteilt wegen
Mordes an ZWEI Personen!“ Er blickt mich überrascht an. Ich beuge mich gespannt nach vorn. „Du hast nur von einem gewissen Dr. Ravenstein gelesen, wegen dessen Tod er als er sechzehn war verurteilt wurde. Was, wenn er mit zwölf schon Mal jemanden ermordet hatte, er aber nicht strafmündig war. Was, wenn er in der Untersuchungshaft erst den Mord begangen hat, für den er für immer weggesperrt wurde? Und wer war überhaupt dieser Ravenstein?“, ich überlegte kurz und ließ die Schultern sinken: „Und was interessiert mich dieser Mist überhaupt!“ Josh seufzt: „Wenn du den Gesuchten kennst, kannst du seinen nächsten Schritt
erahnen.“ Oder, denke ich nüchtern, du sympathisierst mit diesen Arschlöchern. Nicht, das mir das passieren könnte, aber bei Josh bin ich mir nicht so sicher. Er scheint mein Schweigen als Beendigung des Gesprächs zu urteilen, jedenfalls weiß er auch nicht wie er wieder anfangen soll. Das peinliche Schweigen rückt immer näher. Es kommt langsam und bedrohlich… und einschläfernd.mit einem lauten Klonk landet meine Stirn wieder auf der blitzend sauberen Tischplatte. Wahrscheinlich ist sie danach nicht mehr sauber. Keine Ahnung wann ich das letzte Mal geduscht
habe… Josh stuppst mich sachte an der Schulter. Ich vergrabe mein Gesicht unter den Händen. Lass mich in Ruhe!, hätte ich am liebsten gerufen. Aber nein, er hat ja recht. Aufstehen tue ich trotzdem nicht! Aber er scheint mich auch gar nicht wach kriegen zu wollen. Er sagt nur: „Ich bestell uns mal was“ und wahrscheinlich winkt er jetzt einen Kellner heran. jIch seufze und spüre, wie der Atem von der Tischplatte zurückprallt und meine Nase umwölkt. Ich hasse dieses Gefühl, vom klebrigen Atem. Mit meiner Montagmorgenmiene rappele ich mich also wieder von der Platte hoch und verfolge mit meinen
Eisstecheraugen wie der herbei gewunkene Kellner sich einen Weg zu uns bahnt. Sein Name ist Jean Pollock und genauso wie das komplette Cafe strahl er einen französischen Charme aus, der selbst als er auf meine finstere Miene trifft, sich nicht verflüchtigt. Obwohl, ich bilde mir ein, dass seine Mundwinkel kurz gezuckt haben. Wie gewohnt sehe ich mir sein Profil an. Das Foto darin ist von einer schrecklichen Qualität, aber es ist trotzdem gut. Ganz einfach, weil es erwärmend ist. Auf dem Foto sitzt er auf dem Boden, wahrscheinlich zu Hause, und hält eine Dreijährige mit zwei Zöpfchen im Arm. Etwas verdattert blickt das Kind in die
Kamera, während der Mann so breit grinst, dass man schon fast denken könnte, er könne die Kleine in einem Bissen verschlingen. Seine grauen Augen mustern mich kurz und seine blank weißen Zähne blitzen mir entgegen. „Guten Tag, mein Herr, meine Dame!“ Ich schaue ihm nicht in die Augen, ich schaue auf die Zähne. Sie sehen gar nicht aus, wie die eines Fleischfressers, denke ich desinteressiert. „Wir wollten bestellen…““, murmelt Josh, wieder zum schüchternen Etwas geworden. Seien Stimme stottert wieder so durch die Gegend. Genau so wie sie mich unglaublich aggressiv macht.
„Der Herr von Tisch 12 lässt Ihnen das hier vorher bringen“, sagt Jean Pollock mit seinem Kannibalenlächeln. Er stellt zwei Cappuccino vor uns auf den Tisch. Sie dampfen noch und der Schaum lädt zum liebkosen ein. Aber das ist mir getrost egal. Der Mann von Tisch 12… „Außerdem wünscht er Ihnen eine gute Mittagspause-“ Ich sehe auf und bemerke Josh, dessen Gesichtsausdruck gerade von verdutzt zu unheilvoll wandelt. Zum ersten Mal seitdem wir uns kennen, so denke ich, empfinden wir das gleiche. „Wo ist Tisch 12?!“, schießt es schließlich wie vom Flitzebogen aus mir hervor. Josh
Augen rollen sich vielsagen nach rechts. Ich gebe mir aber ekine Mühe unauffälllig zu sein. Mein Kopf schnellt herum und meine Augen verengen sich fixierend auf der Suche nach der Beute. Es dauert keine Sekunde und ich habe Tisch 12 ausgemacht. Es ist der Tisch neben den Toiletten, in der hintersten Ecke des Cafes. Wie Klischeehaft! Ein Mann mittleren Alters winkt mir unverhohlen zu. Er hat kurze braune Haare, welhce ihm strubbelig nach allen Seiten hin abstehen. Das Lächeln auf seinen Lippen ist von einem ganz anderen Kaliber als das von Jean Pollock, welcher zum Tresen zurückgekehrt ist. Dieses Lächeln ist
nicht ungewollt unheimlich, es scheint so, als wäre es darauf trainiert, dir einen Schauer über den Rücken zu jagen. ES sieht fast so aus, wie das, welches ich vom Weihnachtsmann in Erinnerung habe. Nur so erwähnt: Ich hatte Weihnachten shcon immer gehasst. Von einer Sekunde auf die andere rutschen seine Mundwinkel nach unten, sein Interesse an uns ist verschwunden und er dreht sich wieder seinem Getränk zu. Ich aber wende mich nicht ab. Immer noch taxieren meine baluen Augen seinen Hinterkopf. Ich brauche keine sonderlich ausgefeilte Kombinationsgabe um ihn als jemanden zu identifizieren, der mit meinem Job zu
tun hat. Ein triftiger Grund zum Beispiel ist, dass ich gar kein Privatleben habe. Und er kommt mir überhaupt nicht bekannt vor, nur dieses Lächeln lässt mich böses ahnen. Ist er vielleicht einer von Anonyms…? Nein, denke ich herrisch und mein Kopf knallt wieder auf die Tischplatte. Warum sollte dieser Idiot etwas damit zu tun haben? Ich leide schon unter Verfolgungswahn. Aber… Ich überlege hin und her, versuche herauszufinden ob er jetzt etwas mit uns zu tun hat oder nicht, aber emine innere Diskussion währt nicht lange. Wütend fahre ich vom Tisch hoch: „Josh, kennst du diesen Idioten?“ „Nein,
ich…“ Ich stehe auf, nehme den Cappuccino mit und marschiere Richtung Tisch 12. Hinter mir höre ich, wie Josh unbeholfen hinter mir her stolpert, aber er kann mich nicht einholen. Der Herr von Tisch 12 hat mich verwirrt und dafür würde er büßen! Das ist das einzige, woran ich mir zu denken erlaube, während die Gummisohlen meiner Turnschuhe mein wütendes Stampfen in ein federndes Quietschen verwandeln, sodass es einiges seiner Entschlossenheit einbüßt. Er hat mich herausgefordert, er kann mich mal erleben! Im Gehen scanne ich sein Profil… Und
stocke. Die Tasse in meiner Hand beginnt zu zittern vor Wut. Über seinen braunen Haarschopf flimmert blau der Name Mad Crazy. Offensichtlicher hätte es nicht sein können! Bei ihm angekommen tippe ich ihm sanft auf die Schulter, während meine Wut mich zernagt. Er dreht nur den Kopf und blickt mich aus braungrünen Augen forschend an. „Entschuldigen Sie“, sage ich ohne die Miene zu verziehen. „Sie haben nicht zufällig uns zwei Cappuccino rübergeschickt?“ „Doch, habe ich“, antwortet er gelassen. Die feinen Fältchen an sienen Augen lassen ihn so aussehen, als ob er lächeln
würde, doch seine Mundwinkel sind unten. Ich hole tief Luft und zwinge mich zur Beherrschung: „Kennen Sie mich?“ „Nein.“ „Kennen Sie meinen Kollegen?“ „Nein, auch nicht.“ „Aha.“, die Luft entflieht meiner Kehle, so scharf wie ein Messer und mit ihr meine wunderbar angestaute Wut. Einem spontanen Impuls folgend nehme ich die Tasse und gieße ihren lecker warmen Inhalt über Mad Crazy. Bevor Josh noch reagieren kann, entreiße ich ihm sein Geschirr und schütte auch ihren Inhalt in dieselbe Richtung wie zuvor. „J-Joan!“, stößt mein Kollege
vollkommen zu spät hervor. Ich glaube, er hat zwar kapiert, dass der dort mit Anonym zu tun hat, aber in spontaner Nettigkeit hat er es für einen Augenblick wieder vergessen. Ein weiterer Grund warum gute Menschen ziemlich unnütz sein können. Ich falte die Hände zusammen und setze mich gegenüber von Mad auf das weiche Lederpolster der Bank: „Es tut mir Leid. Ich bin wohl ausgerutscht.“ Mad antwrotet nicht. Erist noch damit beschäftigt, sich heißen Cappuccino aus den Augenwinkeln zu wischen. Neben ihm sitzt noch jemand, der mir noch gar nicht aufgefallen ist. Er wirkt unscheinbar, in seinem weiten,
schwarzen Kapuzenpullig. Dieses Mal scanne ich sofort das Profil und meine Finger verkrampfen sich. Lauf!, schreit mein Hirn, aber ich schaffe es mit aller Macht in mir, die Angst niederzuringen. Ich hatte ihn nicht erkannt, weil das hier der letzte Ort ist, an dem ich mit seiner Anwesenheit gerechnet hätte und weil er zusammengekauert, halb hinter der großen Tasse vor ihm versteckt, überhaupt nicht so aussieht, wie ich ihn in erinnerung hatte. Dabei ist es so offensichtlich! Die karamellfarbene Haut, die dicken schwarzen Augenbrauche und das lange schwarze Haar, seine schokobraunen Augen scheinen überall hinzublicken, nur nicht
zu mir, aber ich bin da und starre ihn an. In seinem Profil steht Number Seven. Er kam mit zwölf in Untersuchungshaft, weil er jemanden ermordet hatte. Für seinen zweiten Mord an einem gewissen Ravenstein wurde er mit sechzehn verurteilt und vor kurzen, hatte er Eve Lavender den Gar ausgemacht. Er ist Mensch, denke ich schwer atmend, er ist ein Monster. Beruhige dich Joan! Ich atme ein und aus. Ein, aus. Ich will mich aber nicht beruhigen. Nicht durchs Nichtstun und herumsitzen! Ich schnappe den Kaffee Latte vor Mad und kippe ihm das dritte Getränk ins Gesicht. Sofort will ich nach dem Getränk von Seven greifen,
aber schneller als ich gucken kann, hat er es mit beiden Händen an seine Brust gedrückt und in Sicherheit gebracht. Nun blickt er mich aus den Augenwinkeln abwartend an, wie ein verschrecktes Tier, welches auf den nächsten Schlag wartet. Ich kann förmlich spüren wie seine Muskeln unter dem ausgebeulten Pulli immer noch angespannt sind. Trotzdem… Number Seven hatte in meiner Erinnerung einen viel bedrohlicheren Glanz. Er war derjenige gewesen, der mir beigebracht hatte, was Panik ist, wie es sich anfüht, wenn dien Herz explodiert und wenn das Hirn streikt. Jetzt wirkt es eher so, als müsse man ihn vor mir retten. Und wie
alt ist er eigentlich jetzt? Wie er mich so mit großen schokoladenfarbenen Augen ansieht, bezweifle ich, dass er älter als Josh oder ich sein könnte. Ja, ich schätze ihn sogar noch auf minderjährig. „DU scheinst mir ja ein ziemlicher Tollpatsch zu sein, Joan“, bemerkt Mad und unterbricht somit meine Analyse des verschreckten Häftlings No. 7. „Manchmal“, antworte ich und blicke wieder in Richtung Sevens „kann man seine Hände schlecht kontrollieren. Das Gefühl kennen Sie doch sicherlich auch.“ Anonym hat also noch mehr Anhänger als Johanna Fleur. Mad Crazy und No. 7, mit denen ich jetzt an einem Tisch sitze.
Josh mal außen vorgelassen. Ich kann weder schießen, noch kann ich sie k.o. hauen. Ich kann nichts tun, als ihr Verhalten zu analysieren, oder besser gesagt, mit ihnen zu kommunizieren. Also ist es am klügsten, jetzt etwas zu sagen. Ich öffne die Lippen und sofort bricht der ungezähmte Schwall los: „Wollen Sie mich eigentlich verarschen, oder was?! Mit so offensichtlichen Fake-Namen hier aufzukreuzen!!“ „Ja, wir wollen dich und diene Freunde an der Nase herumführen“, antwortet Mad ohne auch nur der Spur eines Lächelns im Gesicht. „Aber um das zu erkennen muss man kein Genie sein.“ Ich winke dem Kellner am Tresen: „Drei
Latte bitte!“ Ich würde den kompletten Laden leer kaufen, nur um alle diese wohl duftenden Flüssigkeiten als Feuerwaffen gegen Mad zu richten. Dieser wringt sein kariertes Baumwollhemd aus. Ihm scheint die komplette Situation zu missfallen, denn noch immer ist von einem Lächeln nichts in Sicht, eher mustert er mich mit unverhohlener Abneigung. Seven hingegen schlürft ziemlich abwesend aus seinem Becher, welchen er mit beiden Händen umschlungen hält. Immer noch verwirrt mich sein Anblick total. Er ist zu jung, zu zurückhalten und zu ängstlich. „Mich würde ja interessieren“, beginne
ich „Wie viele ihr denn jetzt seid. Ich hatte ja gedacht, ich hätte es nur mit einer Person zu tun.“ „Interessante Frage“, antwortet Mad grimmig. „War ja klar, dass Noir sich allein die Lorbeeren einheimsen will.“ „Anonym heißt also Noir, danke für die Info.“ Jetzt lacht Mad freudlos auf. Seine Augen verengen sich zu Halbmonden, welche mich taxieren: „So leicht ist es nun auch wieder nicht.“ „Noir ist also auch ein Fake-Name?“ „Ja, natürlich.“ Resigniert zucke ich mit den Schultern. Meine Finger kratzen über meine Wange. Unauffällig versuche ich das HH
einzuschalten. Aufnehmen. Denn egal wie viele Andeutungen Mad Crazy macht, etwas Brauchbares ist bestimmt dabei. „Um eins klarzustellen“, beginnt Mad ganz von alleine. „Noir würde niemals alles ganz alleine bewerkstelligen können. Wir sind eine Gruppe namens Yesterday und jeder von uns hat nicht übel Lust euch eure blinden Augen auszustechen.“ Ich lächle kalt. Wenn ich Informationen will, muss ich ihn aus der Reserve locken, ihn vergessen lassen, vorsichtig zu sein. „Was habe ich denn von dir zu erwarten, alter Mann?“ „Ach, ich bin aus dem Alter raus, wo
man noch mit dem Handy spielt. Ich mach lieber ein Feuerwerk und entspanne mich bei einem Gläschen Wein.“ Forschend springt mein Blick zwischen ihm und Seven hin und her. Aus der Reserve locken hat nicht funktioniert. Es hat beide vollkommen kalt gelassen. Seven beschäftigt sich immer noch eingehend mit seinem Kakao, ein Milchbart benetzt seine Lippen in derselben Farbe wie seine Augen. Zu zurückhaltend denke ich verwirrt. Aber das ist derselbe Junge, wie der, der Eve Lavender mit bloßen Händen umgebracht hatte. Mein Blick huscht zu seinen Fingern, mit den runden Fingernägeln
eingebettet. Der Ärmel des viel zu großen Pullis verschluckt fast seinen kompletten Handrücken, als wäre ihm kalt oder als wolle er die schändlichen Blutflecken verbergen. Als er meinen Blick bemerkt, setzt er kur den Becher ab und leckt sich wie eine Katze über die Lippen. Zu jung, scheißt es mir durch den Kopf, bevor ich es verhindern kann. Vor meinem inneren Augen blitzt das Bild von Eve Lavenders Frau auf… die rot bespritzte Zigarette… Meine Lippen zittern: „Ihr seid nichts weiter, als eine Bande von Mördern, welche aus purer Langeweile aktiv sind!“ „Langeweile?“, Mads Augenbrauen
schießen in die Höhe, aber ich sehe nur Seven an. Er schüttelt nur kaum merklich den Kopf. Zu ängstlich! „Ja, Langeweile! Ihr nennt es wahrscheinlich Revolution oder so was, aber eure Taten ergeben überhaupt keinen Sinn und kosten Leben!“, ich starre den Jungen an, welcher schluckt und dessen schokobraune Augen mal hierhin mal dorthin huschen. „ich lehne beides ab!“, erwidert Mad leicht verärgert. „Das mit dem Tod der paar Sicherheitsleute ist auch uns nicht gerade angenehm. Was wir wollen ist Gerechtigkeit, nenn es Revolution, wenn du so willst, aber ihr werdet schon noch erkennen was wir
bezwecken!“ „Zur Abwechselung könntest du mir es auch mal direkt sagen, anstatt nur Andeutungen zu machen!“ „Kleines Mädchen, du interessierst uns nicht, sie es ein und lebe damit! Die ganze Welt dreht sich nicht um dich und vertritt diene Idealen…“ „Aber sicherlich auch nicht die eines Verrückten und eines Mörders!“, fährt es Josh unerwartet dazwischen. Mads Miene verfinstert sich: „Manchmal muss man getötet haben um zu wissen, was ein Leben bedeutet und manchmal muss man verrückt sein um zu wissen, was ein klarer Verstand ist.“ Er steht auf und Seven klettert ebenfalls flink wie
eine Katze aus seiner Ecke hervor. Jetzt wo er steht, sehe ich, dass er Mad noch nicht ein Mal ansatzweise bis zur Schulter reicht. Zu jung – ein Mörder… Ich kann mich nicht mehr halten. Die Angst komplett vergessen und als unnütz in die Abstellkammer versetzt, stoßen sich meine federnden Turnschuhe vom Boden Ab. Der Stuhl poltert und kracht nach hinten, aber ich höre es nicht mehr, ich höre nur das Stampfen des Blutes in meinen Ohren. Ein, zwei, drei Schritte und ein Hechtsprung. Schon bin ich bei ihm. Mit einem wilden Aufschrei bekommen meine Finger noch so gerade die Kapuze des schwarzen Pullis zu packen, dann pralle ich gegen ihn und
reiße ihn mit mir zu Boden. Eve Lavender war gestorben – wegen ihm! Egal ob jung, zurückhaltend oder ängstlich, Mörder bleibt Mörder! Und ich bliebe Kommissarin. Im Fallen ramme ich ihm mein Knie ins Gesicht, feine Blutspritzer segeln durch die Luft, wie Rubine funkelnd. Vorbildlihc landen meine angewinkelten Beine hässlich knirschend auf seinen Armen. Die Erschütterung des Aufpralls lässt meine Zähne laut wie der Urknall aufeinanderschlagen. Es hallt durch meinen Schädel. Hin und her. Genauso wie der Fluch, welchen ich nicht über die Lippen bringe. Wie in Zeitlupe beobachte ich, wie Seven schmerzerfüllt
nach Luft schnappt, als jeglicher Sauerstoff aus seinen Lungen gepresst wird wie von Tausend Messerstischen getrieben. Sein Kopf wird nach hinten geschleudert, entblößt seinen schlanken Hals. Unter der Haut, einladend wie Karamell, kann ich den Puls rasen sehen und den Kehlkopf, welcher mit der entweichenden Luft nach oben schnellt. Es wäre so einfach… nur die Faust in diesen wehrlos hüpfenden Kehlkopf schmettern und alles wäre vorüber. Lichter aus – vorbei! Ich könnte es tun. Meine bleichen Hände währen dazu im Stande. So einfach könnte ich Seven erledigen… Meine Hände haben sich schon um seinen Hals geschlossen,
tödlich und unerbittlich, als ich mich blitzschnell besinne. Ich fasse seine Handgelenke und nagele sie mittels meines Körpergewichts auf den in charmanten Pastelltönen lackierten Fliesen fest. „Sie…“, keuche ich „Sind verhaftet!“ Ich hätte ihn so leicht töten können, aber morden ist falsch. Ich habe Gnade walten lassen, schärfe ich mir ein, aber es hilft nicht. Tief in mir drin steigt es auf wie bittere Galle. Der Hass auf mich selbst, weil ich zu schwach war es zu tun. Zwei schokobraune Augen blicken mich matt an. Dieses Mal weicht er meinem feurigen Blick nicht aus. Er sieht mich
nur an. Sag was!, fleht es in mir. Ich will dass er etwas sagt wofür ich ihm den Hals umdrehen kann. Etwas, damit ich meinem Hass freien Lauf lassen kann. Aber er sagt nichts. Immer noch ringt er nach Luft, Blut läuft über sein Kinn. Erst jetzt höre ich auch das Raunen der Cafegäste. Sie stehen alle, starren mich an. Ich verachte diese Gaffer, in deren Augen ich Angst lesen kann, weil ich Seven angefallen habe, in dessen Profil keine Straftaten eingetragen sind. Ich blicke zu Josh, welcher unangenehm berührt alle bittet, den Laden zu verlassen, aber keiner rührt sich. Elende Gaffer! Konnten sie nicht selbst
denken? Ich hole tief Luft und starre überlegend in Sevens Augen, welche mich fast flehend anschauen. Kommissare konnten zwar bei Verdacht auf Versuch einer Straftat handeln, sprich das System würde mich nicht verurteilen, solange ich vorschriftsmäßig handle. Was Seven angeht, so würde jeder Akt, den er jetzt verübt in das neue Profil eingetragen werden, Anonym hin oder her. Außerdem hatte er sich bis jetzt nicht gewehrt und bekommt immer nicht wirklich Luft. Mein Blick schießt zu Mad. Er steht wie versteinert da und starrt mich erschrocken an. Ebenfalls keine Gefahr. Da den beiden dank des
CPs aber nicht beizukommen ist, muss ich mir etwas anderes überlegen. Alles noch ein Mal überdenkend mach eich noch einen Atemzug, ruhig und wohltuend, dann erhebe ich herrisch die Stimme: „Ich, Kommissarin Joan Foster, muss Ihnen hiermit mitteilen, dass es sich hier um einen polizeilichen Übergriff handelt, dessen alle Anwesenden wichtige Zeugen geworden sind. Ganz im Sinne des Systems befehle ich Ihnen somit unter keinen Umständen dieses Lokal zu verlassen! Bewahren Sie Ruhe, bald werden unsere Kollegen eintreffen und die Lage klären. Außerdem darf niemand, abgesehen von der Polizei selbst, dieses Lokal
betreten.“ Große, runde Augen starren mich an. Wieder werfe ich einen Blick zu Josh: „Hol ein Messer, schnell!“ Mit genauso großen Augen wie alle Umstehenden starrt er mich an, doch das wärt nicht lange. Strauchelnd stolpert er zum Tresen und langt in verschiedene Schubladen, bis er mir ein Messer mit glatter handlanger Klinge reicht. Fest packe ich es mit der Rechten und halte es an die Kehle Sevens. Angst huscht kurz über das Schokobraun, doch ich rede mir ein, es nicht gesehen zu haben. „Du stehst jetzt ganz langsam auf und folgst mir, verstanden?“ Keine Antwort. Nur diese Augen, welche
mich ansehen. Die Iris eine schimmernde Farbe, die Pupille klein und schwarz. Ich sehe meinen Kopf in der Spiegelung wie den einer Puppe. „Verstanden?“, frage ich noch ein Mal mit Nachdruck. Heiß liegt seine Brust unter mir. Die Rippen schneiden geradezu scharf in mein Fleisch, jedes Mal, wenn er um einen weiteren Atemzug kämpft. Keine Antwort. Das Messer an seiner Kehle, packe ich mit der anderen Hand in seine samtweichen Haare. Ich verbiete mir jeden Gedanken und will aufstehen, ihn mit hochziehen. Dabei blicke ich fest auf seinen dünnen Hals, er scheint die Zähne feset zusammenzubeißen, vor
Schmerz oder zur Unterdrückung der Angst, ich weiß es nicht. Neben dem Kehlkopf, welcher so verlockend frei vor mir liegt, prunken zwei aufs Haar gleiche Narben. Verwundert halte ich kurz inne, ein Fehler! Seine Hand ist so schnell am Messer, dass ich den Moment verpasse zu reagieren. Fest umschließt er die Klinge, ich kann sie keinen Millimeter mehr bewegen. Blut rinnt geradezu spritzend zwischen seinen Finger hervor. Ich schaue ruckartig auf. Seine Pupillen sind groß und rund wie der Vollmond. Eben waren sie dohc noch klein wie ein Stecknadelkopf gewesen?! Immer noch krallen sich meine Finger in seine Haare. „Folgen Sie mir!“, presse
ich zwischen den Zähnen hervor, aber er rührt sich nicht. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, die wir so stehen. Beide das Messer umkrallt, sein Blut zwischen uns, wie es auf die charmant lackierten Kacheln tropft. Ich, eine Aura wie ein Kühlschrank, während sein Atem sich warm anfühlt, wenn er auf meinen Wangen zerschellt, wie Wasser Gletscher. Um ehrlich zu sein, denke ich in diesem Moment an nichts. Kein Hass wallt in mir, keine Rachegelüste brennen dne Verstand nieder. Nichts. Es ist, als wäre ich in diesen ausdruckslosen, kakaofarbenen Abgrund gestürzt. Ausdruckslos. Zu jung, zu zurückhaltend,
zu ängstlich. Er ist keine achtzehn Jahre alt. Er ist klein, dünn und sein Kehlkopf hüpft vor mir auf und nieder. Wer ist hier der Gejagte und wer ist der Jäger? Meine Trance wird von drei Dingen auf ein Mal durchbrochen wie eine Kettenexplosion. Zunächst ist da Joshs Schrei. Mein eiskalter Name hallt an den warmen Wänden wieder, das Echo kommt mir vor wie ein Todesurteil. Gleichzeitig bewegen sich Sevens Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben, oder hatte für mich der Ton aufgehört zu existieren? Aber nein, da ist ja noch Joshs Stimme… Ein Knie rammt sich in meinen Bauch. Luft?! Ich fühle mich schwerelos meine Krallen
lösen sich aus der schwarzen Mähne, ein blutiges Messer fällt klackernd zu Boden wie ein Kinderspielzeug… alles wird schwarz.
Schreib mir was!
Ich schlage die Augen auf. Es ist wie ein Filmriss, denn ich weiß noch genau, was gefühlt vor wenigen Augenblicken geschehen ist. Eben war ich noch in diesem französischen Cafe, sein Knie hatte er zwischen meine Rippen gerammt und seine samtweichen Haare waren meinen Krallen entglitten… Ich hatte diesem viel zu jungen Seen ein Messer an die Kehle gedrückt. Ich hätte zuschlagen, zuschneiden können. Ich hätte das Leben in diesen schokobraunen Augen auslöschen können! Übelkeit rast durch meine Gedärme wie ein Rowdy auf der Autobahn. Ich presse
die Lippen zusammen und falte die Hände über meinem auch, welcher sich heiß anfühlt. „Wie geht es dir?“ Ich fahre hoch und gewahre schlagartig die komplett neue Szenerie. Ich liege im Krankenhaus, Josh steht neben mir. Unglaublich aber für mich sind diese Tatsachen noch viel zu komplex um sie sofort zu verarbeiten. Immer noch fühle ich Sevens scharfe Rippen unter mir nach Luft ringen. Wie die Lunge sich gegen mein Gewicht gestemmt hatte… Wütend balle ich meine Finger zu Fäusten, aber bevor ich noch mich selbst fertig machen kann, weil ich nicht zugeschlagen hatte, als ich die
Möglichkeit hatte, spült die Übelkeit jeden Gedanken weg. Eine unaufhaltsame Welle, die alles in mir wegreißt und nur Schutt zurücklässt, bahnt sich ihren Weg nach Oben. „Scheiße!“, presse ich gerade noch hervor, dann stolpere ich aus dem Bett, hechte durch den Flur und flüchte auf das am nächsten liegende Klo. Als ich über Schüssel hängende würge, jagt ein brennender Schmerz durch meine Lungen. Ich huste, was beim Kotzen ziemlich kontraproduktiv ist und drücke zittrig auf die Spülung. Rauschend verschwinden die wiedergekäuten Mahlzeiten auf nimmer Wiedersehen und mein Brechreiz ist ausgeschöpft.
Trotzdem bleibt der Schmerz in meiner Brust zurück wie ein lästiger Parasit. Ziehen erinnert er mich bei jedem Atemzug, dass Sevens Treffsicherheit bemerkenswert ist. Dieser Bastard hatte mit seiner Kniescheibe genau zwischen meine Rippen gezielt, und jetzt ist der komplette Bereich des Solar Plexus´ bläulich angelaufen. Das erklärt auch meine Ohnmacht. „Joan!“, Josh steht wieder hinter mir. Ist dieser Mann etwa mein Schatten oder Was?! Wütend presse ich die Lipppen aufeinander. Ich weiß, ich bin auf mich wütend und willl diesen Frust nur irgendwo abbauen, aber was bitteschön ist schlimm daran? „Ich hoffe“, presse
ich schmerzhaft hervor. „Du hast ihn nicht schon wieder entkommen lassen!“ Josh starrt mich von oben herab an. Es ist nicht Angst, was da seine Mimik beherrscht. Es ist etwas, dass ich zunächst nicht begreifen will, weil es mir zu absurd und zu verabscheuungswürdig vorkommt. Dabei ist sein Mitleid gar nicht so abwegig. Wie ein schwaches Mädchen kauere ich vor der Kloschüssel und kotze mir die Seele aus dem Leib! Ich bin angewidert von mir selbst. So sehr, dass es mehr schmerzt als Sevens gezielter Kniestoßt. So verdammt schwach! Mein Kopf klatscht gegen das weiße Porzellan. Überall riecht es nach
Desinfektionsmittel. Dieser Mief nach Krankenhaus und Versagen vohrt sich durch meine Nase und sich in mein Ihrn. Ich habe cersagt. Shcon wieder! Und hätte es erbärmlicher nicht sein können, so ist mir auch noch zum Heulen zumute. „Joan, ich…“ „Verschweinde!“, schreie ich seltsam schrill. Die Setimme klingt nicht wie die Meine. Sie ist fremd und schwach. Ich höre die tür ins SHCloss fallen und weiß, dass Josh so schnell nicht mehr mit mir reden wird,, aber das ist mir egal. Solange ich nur hier sitzen und meine Stirn am Porzellan der Kloschüssel kühlen kann, auf welchem es
sich nicht shcon weiß Gott welche Hintern bequem gemacht haben. Der Bewegungsmelder erfasst mich nicht mehr, weil ich in meiner Pose erstarrt bin, wie tot. Das Licht geht aus. Ich sitze still im Dunkeln, während meine Wangen feucht werden. Wie erbärmlich! Ich hatte Seven zwei Mal entwischen lassen… Die Szene im Cafe kommt mir wieder vor Augen als wäre es vor fünf Minuten passiert. Seine Lippen, welche sich flink bewegten, ohne auch nur einen Ton hervorzubringen. Was hatte er gesagt? Egal! Ein Sturzbach rinnt über mein Kinn. Ist es nicht alles egal! Schließlich hatte Seven die ganze Zeit über keinen
Ton von sich gebracht. Aber warum hatte er das eigentlich nicht? Angst? Fast hätte ich gelacht. Angst vor einem kränklichen Mädchen, welche still auf der Krankenhaustoilette rumheult! Nein, vor mir hat jetzt gewiss keiner Angst. Noch nicht ein Mal Josh. Wütend, oder eher mit dem Wunsch nach Wut, wische ich mir über die Augen. Ich trage immer noch dieselbe weiße Bluse, welche vorne ein wenig mit Blut gespritzt ist. Blut. Sevens Blut. Fast kommt es mir so vor, als wäre es mein Blut, welches tief aus meiner Brust quillt. Von dort, wo schon keine Wut mehr ist, sondern nu erbärmliche Verzweiflung.
Etwas verspätet springt der Bewegungsmelder an und meine wunden Augen werden mit Licht konfrontiert. Mein Blut. Sein Blut. Unser Blut. Was sind wir nur alle für bemitleidenswerte Auslaufmodelle? Mit wackligen Knien stehe ich auf. Ich fühle mich leer. Zu leer, fast einsam. Am liebsten würde ich jetzt kribbelnden Hass in mir spüren. Diese Elektrizität bis in die Fingerspitzen. Aber sie hat mich verlassen. Schon im Cafe hatte ich nur noch dieses dumpfe Nichts in mir gespürt. Es ist als hätte man mich halbiert. Als wäre ich nicht mehr Joan Foster. „So ´n Quatsch!“, gebiete ich
meinen eigenen Gedanken Einhalt. Ich bin wer ich bin und ich werde tödlich für Anonym sein! Um diesen Gedanken zu verinnerlichen blicke ich in meine stechenden blauen Augen im Spiegel. Sie sind kalt, wie ich. Strahlend blau wie Eis scheinen sie das Spiegelgas durchbohren zu wollen. Ich mag diese Augen, genauso wie die weißen Haare, welche mir zerzaust vom Kopfe abstehen. Die weißen, kaum erkennbaren Augenbrachen… Ich starre mich an, als würde ich mein Gesicht zum ersten Mal sehen und wissbegierig alles aufsaugen wollen: die kleine Nase, die zartrosanen Lippen, welche so rau wirken wie Schmirgelpapier, der dünne, lange Hals,
das spitze Kinn, die Ohren, welche fast so spitz sind wie die eines Elfen… All das bin ich, Joan Foster. Auch ohne Wut und Hass. Im Spiegelglas flimmert mein Profil. Bläulich blass baut sich das Hologramm zögerlich auf. Auch das bin ich, aber etwas hat sich verändert, das spüre ich. Ich weiß es, bevor es überhaupt in Buchstaben aufgereiht werden kann. Joan Foster 21 years old Commissar (suspended) Abuse of authority Das ist sie wieder. Die Wut. Elektrische Wellen jagen ein Grollen aus meiner Kehle. Seven hat sich laut System also
nur selbst verteidigt. Interessant, denke ich und balle die Rechte zur Faust. Die Fingernägel schneiden in mein Fleisch, aber es ist mir egal. Alles ist doch scheißegal! Ohne darüber nach zu denken schlage ich zu und zertrümmere den Spiegel. Jetzt steht wohl auch Sachbeschädigung in meinem Profil. Ich bin suspendiert worden. Einfach so. Das System hat mich gebrandmarkt, obwohl ich ihm hatte helfen wollen. Das war doch absurd, grotesk, verdreht! Es ist falsch, denke ich. Immer wieder: falsch, falsch, falsch! Im Takt meiner leisen Schritte hallt dieses so bittere Wort in meinem Kopf wieder. Falsch! Ich
gehe durch den Krankenhausflur, meine Rechte blutig geschlagen. Falsch! OB Seven und Mad entkommen sind? Ich glaube nicht, dass Josh sie daran irgendwie gehindert hat. Falsch! Ich beiße mir auf die Lippe. Alles geht den Bach runter! Es ist so, als würde ich dem Zerfall meines Lebens nicht stoppen können und jetzt bin ich auch noch dazu verdammt tatenlos zu zusehen. Jetzt wo ich vom System suspendiert wurde, kann ich unmöglich zurück in die Zentrale. Ich muss meine Tätigkeiten als Kommissar unweigerlich einstelllen oder ES würde mich endgültig verurteilen. Und was dann? Ich wäre wieder das Mädchen, mit
Schulabschluss in der Hand, vor isch ihr ganzes Leben aber keine Idee oder Chance, diesen vielen Jahren einen Sinn zu geben. Ich würde in Langeweile versinken. Ob Anonym, denke ich plötzlich, auch solch eine Wahl vor Augen gehabt hatte? Ich gebe zu, hätte mich jemand Menschliches suspendiert, ich würde ihn hintergehen, aber da sSystem kann ich nicht hintergehen. Aber er kann es. Für Anonym scheint das System nicht mehr zu sein als ein Vorgesetzter, denn genauso wie einen Menschen kann er es hinters Licht führen. Dabei ist es ein Netzwerk aus Milliarden von Menschen. Und überall sind Augen, die sehen, wie du mogelst
und diese Augen werden dich richten. Es ist bereits nachmittags, als ich durch die verglaste Fronttür nach draußen trete. Kühl bläst mir der Herbstwind durch die Bluse, welche mit neuem Blut bekleckert wurde. Die Cafeflecken von heute Morgen sieht man schon gar nicht mehr. Ich fühle mich irgendwie leicht, als ich den Weg nach Hause einschlage,. Der Fall, der mein Leben bedeutet hat, ist für mich vorbei. Der Mann, der meinen Stolz und meine Idealen in den Dreck trat, ist für mich gestorben. Und den rätselhaften Mörder, welcher mich jetzt schon zum zweiten Mal ins Krankenhaus befördert hatte, kenne ich nicht mehr. Sie
alle existieren nicht mehr in meiner Welt. Lichter aus – vorbei! Nur wenn all das nicht mehr da ist, was bliebt mir dann noch…? Ausnahmsweise hatte Lloyd seinen Stammplatz vorm großen Rechner abgegeben. Mit durchgedrückter Wirbelsäule stand er da und rauchte. Irgendwie einsam im schnieken Hotelzimmer, dachte ich nüchtern. Nachdem Vorfall mit Johanna Fleur hatten wir schon wieder den Standort gewechselt. Jetzt hatten wir uns im verträumten holländischen Viertel niedergelassen, eine Tat, die ich mir noch nicht erklären konnte, da jeder von
uns, abgesehen von Josh, wie ein Außerirdischer zwischen all dem Charme war. Limbardt saß gerade im heißgeliebten Bürostuhl vorm Rechner, welcher mehrere Hologramme in die Luft zauberte. Wir alle blickten gebannt über die Schulter des alternden Kommissars. Nachdem unser letzter Einsatz gelinde gesagt ein mächtig tiefer Griff ins Klo gewesen war, hatten wir mittels Abstimmung beschlossen, an dem Systemrat zu schreiben. Das war ein Rat bestehend aus drei Vertretern aller Länder, welche im Bund des Systems waren. Fast alle Länder dieser Erde also. Dieser riesige Rat beschloss in
unendlich langen Debatten minimale Änderungen am System und gaben diese an den Erfinder des Netzwerkes weiter: Masuyo Kiyoshi, ein Japaner, welcher im Studium nach Amerika ausgewandert war, wo er viele Jahre später mit seiner Erfindung die Welt bereicherte. Nur er konnte auf das System zugreifen. Und das auch nur, wenn der Rat es ihm befahl. So stimmten wir drei dafür, unseren Fall dieser Vereinigung bekannt zu machen und um Handlungsfreiheit zu gesuchen, Die Erlaubnis dazu hatte Limbardt schon vom Polizeichef eingeholt und so hatte er nur noch nach unserem Einverständnis gefragt. Die eine
Gegenstimme ging auf Lloyds Konto, aber da er außer unverständlichem Genuschel nichts mehr dazu sagte, hatten wir es abgeschickt. Ich hatte erwartet, dass es sehr, sehr lange dauern würde bis wir eine Antwort erhielten, schließlich bestand der Rat aus hunderten von Abgeordneten. Aber in unserem Fall hatten sie sich wohl beeilt, oder besser gesagt, sie hatten sich nicht lang damit befasst. Es konnte schließlich auch nicht schwer gewesen sein eine Ablehnung zu verfassen. Lloyd hatte nichts dazu gesagt, aber das brauchte er auch nicht. Wir nahmen es äußerlich alle mit einem Schulterzucken hin, aber innerlich brannten wir vor
Zorn. Wir waren wütend, weil uns alle schmähten obwohl wir uns für sie vollkommen verausgabten. Anonym hatte die Kontrolle über das System, über Milliarde Augen. Wie lange würde es dauern, bis er auch uns richten könnte? „Zuhause“ angekommen blicke ich die trostlose Hausfassade hinauf. Sie alle verachten uns. Jeder der Menschen dieser Stadt hat keine Ahnung, dass wir existieren. Die blicke der Gaffer im Cafe sind mir noch immer ins Gedächtnis gebrannt. Sie starren mich an. Verständnislos. Sie alle verstehen nichts! Noch nicht mal der Länderbund
des Systems. Sie müssten doch erahnen können, was für eine Gefahr ein Hacker im System widerspiegelt! Aber nein, stattdessen bringen sie UNS zum schweigen und nicht IHN. Weil sie nicht denken, dass er einen großen Schaden anrichten könnte, wir hingegen schon, wenn wir das alles populär machen würden. Wie starrsinnig diese Welt doch sein kann! Ich drücke die Wohnungstür auf. Irgendeiner von den anderen Untermietern ist immer wieder aufs neue so blöd und lässt sie offen. Meine Nase erschnuppert den vertrauten Geruch des abgestanden Hausflurs. Ich rieche die trockene Luft und das ätzende Putzmittel
zum Treppenwischen. Die Putzfrau war wohl in den letzten Tag mal da. Immerhin etwas. Ich trete ein und schließe die Tür hinter mir zu. Mit der Linken fische ich die Post aus dem Briefkasten, welcher, trotz der seltenen Leerung immer nur ein paar Rechnungen enthält. Post von einem Bekannten hatte ich schon lange nicht mehr erhalten. Auch auf meinem E-mailaccount nicht. Der Grund ist klar und mich eigentlich nie interessiert. Ich hatte kein Privatleben gehabt. Mein Leben war der Fall. Und jetzt ist es Nichts. Ich schlucke schwer und blicke das Treppenhaus hinauf. Gerade will ich den
Weg zu meiner Wohnung im Dachgeschoss einschlagen, als ich stutze. Auf den ersten paar Stufen hockt ein Junge, keine Ahnung wie alt er ist – mit Schätzen tue ich mich immer schwer. Er schläft. Sein Kopf ist auf seine Arme gefallen, welche die Beine fest umschlungen halten. Er hat sich wie eine Kugel zusammengerollt, wobei das zu große Sweatshirt seinen halben Körper verschluckt. Unschlüssig stehe ich vor ihm, die Post in der Hand und mit den müden Augen blinzelnd. Was soll ich machen? Um ehrlich zu sein, sieht der Junge aus wie ein Straßenpenner, obwohl in seinem Alter eher wie ein Ausreißer. Seine schwarzen
Haare quellen unter der bunten Häkelmütze hervor wie ein gewaltiger Strom. Der Pony bedeckt die komplette Stirn und steht nach allen Seiten hin ab. Die Haarspitzen kratzen über eine Brille, mit großen, fast quadratischen Gläsern. Pony und Brille verdecken eigentlich schon das komplette Gesicht. Gegen diese zwei Giganten wirken seine Nase und der Mund ziemlich klein. Gut, jetzt hatte ich analysiert wie er aussieht, aber das ändert trotzdem noch nichts an meiner Unentschlossenheit. Warum pennt ein Jugendlicher auf meiner Treppe? Ich seufze und entscheide mich, mich mit ihm auseinander zu setzen. Ich rede mir ein,
dass ich das tue, weil ich ihn hier nicht haben will, aber ich weiß, dass ich das aus Angst vor der Langeweile mache, welche mich unweigerlich überkommen wird, wenn ich in der Wohnung bin. Ich hole mit dem Fuß auf und ramme dem Jugendlichen ziemlich unsanft die Spitze meines Turnschuhs gegen das Schienbein. Er schreckt auf wie von einer Tarantel gestochen, taumelt auf der Stufe hin und her, rutscht aus und sitzt wieder auf dem Hosenboden. Seine großen Mandelaugen hinter der Brille blicken vollkommen verwirrt drein. „Was“, beginne ich, aber er lässt mich stocken, weil er etwas total Absurdes macht: er schlägt sich mit der flachen
Hand ins Gesicht, sodass die Brille knirscht. Dann seufzt er zufrieden. Erst jetzt blicken mich seine Augen an. Sie sind so grün wie Moos. „Was?“, fragt er mit rauer Stimme. Ich stampfe mit dem Fuß auf die Treppenstufe vor der, auf der er sitzt: „Was machst du in meinem Treppenhaus, du Vollhonk?!“ „Äh…“, er kratzt sich mit einer Hand am Hinterkopf und lächelt mich entschuldigend an. Dann verschwindet sein Lächeln urplötzlich als sei ihm etwas eingefallen, aber das stellt sich dann doch als Flop heraus: „Scheiße, bin ich etwa eingeschlafen?!“ Unglaublich, was für einen IQ der wohl
hat? „Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was du hier machst“, ich studiere sein Profil. „Nagori Jackson! Oder ich schmeiß dich hochkant zur Tür hinaus!“ „Sorry, aber ich hab grad auch keinen Plan.“ „Was?“ „Na ja“, er hebt die Schultern und wieder ist da dieses entschuldigende Lächeln. „Ich hab keine Ahnung wie ich hier her gekommen bin, Joan Foster. Das ist schwer zu erklären…“ Ich starre ihn wahrscheinlich an wie eine Verrückte. Dabei hat er hier eindeutig den Dachschaden. Was für ein Idiot! „Willst du mich VERARSCHEN?!“ „Ne, eigentlich
nicht.“ Ohne großartig nachzudenken packe ich ihn an der Kapuze und schleudere ihn die Treppe hinunter. „Raus hier! Du erinnerst dich doch hoffentlich noch daran, wie die Haustür aussieht!“ „Ne, eigentlich…“ „RAUS!“, mein ausgestreckter Finger schießt in meiner Vorstellung Laserstrahlen. Ein angenehmes Gefühl, diese Rage. Ich habe sie vermisst. Mein aufbrausendes Temperament ist also doch geblieben. Die grünen Mandelaugen huschen von meinem Gesicht, zu meiner Bluse, auf der immer noch die Blutflecken kleben, dann stolpert er ein paar Schritte
rückwärts, ohne mich aus den Augen zu lassen, dreht sich dann blitzschnell um und rennt zur Haustür. Auch ich drehe mich jetzt um und stampfe wütend die Treppe hinauf. Auch wenn ich es kaum glauben kann, so hat mich diese kurze Begegnung wieder in eine bessere Stimmung versetzt, auch wenn hinter meiner Wohnungstür das Nichts des Lebens auf mich wartet. Es ist als wäre es ein Wurmloch im Universum, welches mich in eine andere Welt hineinzieht. Und wenn wir schon bei der Weltenmetapher sind, dann kann ich auch sagen, dass es mich in den Himmel zieht. Es kommt jedem komisch vor, aber mich hat der Himmel noch nie
gelockt. Frieden. Das ist langweilig. Im Gegenzug zu diesem Rentnerparadies roch die Hölle für mich schon immer schwer nach Abenteuer. Ich seufze und drehe den Schlüssel rasselnd im Schloss herum. Wenn ich im Nichts versinken soll, dann soll es wohl so sein. Aber man kann sich ja auch schließlich wieder befreien, denn… Ein Finger tippt auf meine Schulter. Langsam drehe ich mich um und muss runtergucken um das entschuldigende Lächeln von IHM zu blicken. „Was zum…?“ „Sorry, aber ich bin halt ein bisle streng verpeilt, aber punkto ist, dass ich wieder weiß, was ich hier wollte. Okay,
vielleicht auch nicht ganz, aber ich wollte wohl was von dir… äh, Joan Foster.“, das kam mir ein bisschen zu schnell aus seinem Mund. Kurz bin ich verblüfft. Die Hand auf der Klinke starre ich auf ihn herab. Aber dieser stille Zustand währt nicht lange: „RAUS VERDAMMT NOCH MAL!“ „Ne“, sagt er vollkommen ruhig, die Hände in die Hosentaschen vergraben. „Ich rufe die Polizei!“, sage ich und schnippe mit den Fingern vor seiner Nase herum. Er zuckt zurück, seine Augen kleben an meinem Finger wie die eines Hundes am Leckerli. „Sicher, dass du mit deinen Kollegen jetzt reden
willst?“ „Ne“, sage ich im selben Ton wie dieser Junge vorhin. Nagori Jackson. Was für ein Scheißname! „Aber egal, Kleiner. Entweder du gehst jetzt, oder ich schick dich zurück an deine Eltern!“ Schon suche ich in seinem Profil nach seinen Eltern, aber er unterbricht mich: „Hey, ich wäre ja gegangen, aber die blöde Tür ist ja abgeschlossen!“ Oh. Deswegen lässt diese andere Untermieterin also immer die Tür offen. „Sag mal, bist du öfter hier?“ „Ne, du?“ „Ich wohne hier.“ „Na, das trifft sich ja gut!“, sagt er, nimmt mir den Schlüssel aus der Hand
und macht die Tür zu meiner Wohnung auf. Komplett ungläubig starre ich ihm hinterher. Er steht da, in MEINEM Flur und hält etwas unschlüssig den Schlüssel in der Hand. „Sicher, dass du hier wohnst, du guckst nämlich etwas verplant…“ „Wer bist du?“, frage ich immer noch perplex. „Äh…“, er kratzt sich hinterm Kopf. Stille. „In deinem Profil“, sage ich gedehnt. „Steht Nagori Jackson.“ Er wirft den Schlüssel hoch und fängt ihn wieder mit derselben Hand ohne hinzusehen. Es scheint, als überlege er, aber dann zuckt er mit den Schultern:
„Scheißname, aber danke fürs Erinnern.“ Es ist lange her, dass mir das das letzte Mal passiert ist, aber ich denke, der Typ hat es verdient. Mir klappt die Kinnlade herunter. Noch nie in meinem Leben bin ich einem so komischen Kind begegnet. „Mund zu, sonst kommen Fliegen rein“, murmelt er und dreht sich um. Ohne noch irgendetwas zu sagen geht er durch den Flur in meine Wohnung. In der Linken immer wieder den Schlüssel hochwerfend und wieder fangend. Und ich stehe auf der anderen Seite der offenen Tür und staune Bauklötze. Für diesen Augenblick ist das Wurmloch meiner Tür vergessen. Ich gehe ihm eiligen Schrittes hinterher und knalle die
Tür laut hinter mir zu. Langweilig wird mir jetzt garantiert nicht. Als ich ins einzige Zimmer der Wohnung komme, sitzt Nagori schon im Schneidersitz auf meinem Bett. Er wirft mir ohne hinzugucken den Wohnungsschlüssel zu. Reflexartig fange ich ihn mehr schlecht als recht, wende die Augen aber immer noch nicht von dem jungen im grünen Sweatshirt und der hochgekrempelten Jeans. Seine Chucks sind unterschiedlich. Einer rot, der andere violett. Und mit diesen Schuhen sitzt er jetzt auf meinem Bett und vertieft sich in ein zerfleddertes Notizbuch.
Das also ist meine Lage. Keinen Sinn mehr im Leben. Ein Fremder auf meinem Bett. Blut auf meiner Bluse. Ich bin reif für die Irrenanstalt. Seufzend gehe ich hinter die Küchentheke. Meine Finger streichen über die Staubschicht, welche sich schon auf ihr gesammelt hat. Was mache ich bloß hier? Alles kommt mir falsch und richtig zugleich vor. Und sobald dieser Junge verschwindet habe ich gar keinen Platz mehr. Nirgendwo. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und zwinge mich, trotz der Schmerzen in meiner Brust, tief ein und aus zu atmen. Der Schmerz holt mich in die Realität zurück und hält mich von
tiefgründigen Gedanken ab. Relativ positiv, so ein demolierter Solar Plexus. Ich richte mich auf: „Tee?“ Er hält nur einen Daumen nach oben, ansonsten regt er sich gar nicht. Er ist komplett in dem zerfledderten Büchlein vertieft. Als hinge sein Leben davon ab, es so schnell wie möglich durchzulesen. Überall rutschen Zettelchen aus den Seiten, auch scheint es schon so oft irgendwo heruntergefallen zu sein, dass die Ecken des Hartkartondeckels nicht mehr als solche zu erkennen sind. Ich wende mich ab und setze den Wasserkocher auf. Rauschend wird das Wasser erhitzt, und während das alte Gerät neben mir um das bisschen Wasser
kämpft, sichte ich den Vorratsschrank. Das einzige, das ich noch habe, ist Pfefferminztee, welchen mir meine Mutter irgendwann mal dagelassen hatte. Ich zücke zwei, drei Beutelchen aus der Packung und beobachte sie eine weile. Wann habe ich das letzte Mal Tee gemacht? Braucht man irgendeinen Filter wie beim Kaffee? Ich drehe die Zettelchen um und blicke auf die aufgemalte Uhr. Sechs Minuten Ziehzeit. Aha. „Weißt du, wie man Tee kocht?“ „Beutel in heißes Wasser, meist zwischen 4 und 10 Minuten Ziehzeit. Beutel raus und fünf Löffel Zucker drauf.“, sagt er immer noch nicht aufblickend. Ich nicke nur resigniert und
schalte den Wasserkocher aus, welcher fiepend verkündet hatte, dass er fertig war. Ich schütte Wasser in zwei halbwegs saubere Tassen und hänge die Beutel rein. Dann entscheide ich mich aufs Klo zu gehen. Wenn Nagori etwas klaut, konnte mir das ja auch egal sein. Als ich wieder heraus komme, habe ich mich umgezogen. Der Rock musste weg, er war viel zu beengend und die Bluse war sowieso hin. Jetzt trage ich ein altes Shirt und eine Jogginghose. Ich werfe einen Blick zur Seite und gewahre, dass der Junge immer noch in seinem Notizbuch vertieft ist. Seine Augen huschen hin und her, so schnell, dass sie schon fast verschwimmen.
Ich beobachte ihn eine Weile, beschließe aber ihn in Ruhe zu lassen. Sich meinem Kleidungsstil anpassend, schlurfe ich zur Theke zurück, fische die Teebeutel aus den Tassen und schmeiße sie in die Spüle. Dann hole ich den Zucker heraus und halte kurz inne. Nein, Zucker war ja eine Geschmackssache. Wie zerstreut ich einfach bin, wegen der Suspendierung. Es ist unglaublich… Also werfe ich den Zucker in die eine Tasse, rühre ihn mit dem Löffel noch ein Mal gut durch und trage dann beide Tassen zum Bett, worauf ich mich fallen lasse, sodass der Tee überschwappt und Nagoris Notizbuch noch ein bisschen
mehr demoliert. „Tut mir Leid“, sage ich ohne es zu meinen und drücke ihm die Tasse in die Hand. Er umschließt sie genauso wie Seven es im Cafe mit seinem Kakao gemacht hatte. Die Ärmel des Sweatshirts über die Handflächen gezogen um sich vor der Hitze zu schützen. Er nimmt einen Schluck und blickt mich forschend an: „Hast du Zucker reingetan?“ Ich nehme auch einen Schluck um sicher zu gehen, ob ich nicht die Tassen vertauscht habe. Aber es ist schon richtig so. Er hat den Tee mit den fünf Löffeln Zucker darin. „Ja, habe ich.“ „Teelöffel oder Esslöffel?“, fragt er und
nimmt noch einen Schluck. „Die Kleineren“, sage ich und nehme ebenfalls noch einen Schluck. Er steht auf und legt das Buch in seine kleine Umhängetasche, welche mir nicht aufgefallen war. Flink hüpft er durchs Zimmer, ohne die Flüssigkeit zu verschütten, nimmt die noch offenstehende Zuckerdose und kippt gefühlt die Hälfte in seinen Tee. Ich glaube, bei diesem Kerl kann mich nichts mehr überraschen. Wieder trinkt er etwas und lächelt. „Schon besser.“ Dann kommt er zurück und setzt sich wieder im Schneidersitz aufs Bett. „Und“, frage ich. „Weswegen bist du jetzt
hier?“ „Weil ich durch meinen Paps von eurem Fall gehört habe. Ein anonymer Hacker, welcher die Polizei herausfordert. Das Länderkomitee von Volldeppen hat zwar abgelehnt, ich helfe euch trotzdem. Aber ich hab mir dich etwas vertiefter in der Arbeit vorgestellt.“ Ich starre ihn an und meine Kinnlade klappt schon wieder herunter. Warum weiß er von der Abstimmung? Generell von unserem Fall? Dieser vollkommen kopflose Junge scheint also doch wichtig zu sein… Ich nehme einen Schluck Tee und noch einen. Er weiß also vom Fall… aber wie? „Wer bist du?“, frage ich forschend und blicke ihn
direkt an. Ich weiß, dass mein Blick furchteinflößend ist und das mache ich mir jetzt zu nutze. Jedenfalls will ich das, es funktioniert nur nicht. Nagori lächelt bloß und kratzt sich mit einer für ihn wohl typischen Bewegung am Hinterkopf. Die Beaniemütze rutscht daher hin und her und noch mehr strubbelige Haare quellen hervor. „Irgendwer, der euch helfen kann“, brummt er als Antwort und jetzt wirkt das Grün seiner Iris nicht mehr wie Moos, es schimmert so scharf wie Gift. Ich stelle meine Teetasse ab und schließe die Augen. Ich atme ein und aus, wie immer wenn ich mich beruhigen will, aber wie immer funktioniert es
nicht. Mein komplettes Leben dreht sich um diesen einen Fall, sogar der Idiot, der auf meiner Treppe geschlafen hat, hat mit ihm zu tun. Aber es ist vorbei… „Wie du in meinem Profil wahrscheinlich sehen kannst, Kleiner, bin ich suspendiert. Wenn ich weiter ermittele, hat das ein Nachspiel.“, ich mache die Augen wieder auf und schaue Nagori forschend an. Wie wird er reagieren? „Ich bin raus, ich habe nichts mehr mit diesem Fall zu tun.“ Er hebt nur leicht eine Augenbraue, aber ich weiß, was er sagen will, denn auch in meinem Kopf hallt es dumpf: Glaubst du eigentlich selbst an das, was du sagst? Nein, tue ich nicht. Immer noch kann ich
mich nicht damit abfinden in meiner tristen Einzimmerwohnung zu sitzen. Ich kann nicht hinnehmen, dass ich verloren haben soll. Aber es ist so. Das System, nein, die Gesetze haben entschieden. „Ich bin raus“, wiederhole ich noch Mal. Nicht um es ihm klar zu machen, ich muss es mir selbst erzählen. Ich bin weg, suspendiert. Dieser Abschnitt meines Lebens ist vorbei. Die große Schachpartie gegen Anonym verloren. Und jetzt sitze ich hier und trinke Tee. „So leicht“, Nagori lässt sich rückwärts auf mein Bett fallen, sodass das Lattenrost jammert. „gibt sich Joan Foster also geschlagen. Hätte ich nicht
gedacht.“ „Du hast keine Ahnung!“, herrsche ich und automatisch ballt sich meine Hand zur Faust. Ich kann nichts tun. Ich will, aber ich kann nicht. So ist es nun Mal. Daran ändert kann kein Mensch was. „Vielleicht habe ich die ja wohl“, meint Nagori brummelnd von Hinten. „Kein System ist sicher. Alles wird irgendwann ein Mal übertrumpft und alles hat eine Schwachstelle. Ich kapier einfach nicht, wie man denken kann, etwas vom Menschen Zusammenklamüsertes, sei godlike.“ Ich drehe mich nicht um: „Das System ist kein Gott, ich weiß. Aber es sind unsere Gesetze. Es ist so etwas wie ein
Zeuge, der einen auf Schritt und Tritt überwacht. Es ist unsere Gerechtigkeit.“ „Ne, eigentlich ist es ja nur so was wie Facebook, nur dass dieses Mal wirklich jeder Mensch dabei ist.“ „Willst du noch weiter unser Gerichtssystem vor einer Kommissarin in Frage stellen, oder vielleicht endlich verschwinden?!“, platze ich nun wieder auf hundertachtzig hervor. „Das System ist das System, es ist ein gewaltiger Speicher, ein großes Hirn wenn du so willst!“ „Also hast du dich von einem >HIRN< suspendieren lassen?“ „Hör sofort auf!“ „Ne, tue ich nicht“, antwortet er mit
einem schmollenden Unterton. „Ich dachte, dass ich hier etwas herausfinden könnte, aber ne, du willst mir ja erklären, dass du deinen Lebenssinn einfach aufgegeben hast, weil ein Scheißcomputer es online unter deinen Namen getippt hat.“ Seine Stimme ist immer mehr wie die eines kleinen Kindes geworden. Leiser und enttäuschter. Und das ist es, was mich wieder in den Normalzustand versetzt. Ich kann meine Finger wieder entspannen und langsam durchatmen, mein Kopf vollkommen verdreht. Noch nie hat mich jemand mehr verwirrt, als dieser Junge. „Was willst du herausfinden,
Kleiner?“ Ich erhalte zunächst keine Antwort. Langsam drehe ich mich um. Es passt nicht zu ihm, mir nicht zu antworten. Und genauso wenig passt dieser Gesichtsausdruck zu ihm. Ich kann es nicht deuten, was ihn beschäftigt. Seine Augen sind nach rechts gedreht, er scheint zu überlegen, aber ein seltsamer Glanz steht in ihnen, einer Sehnsucht gleich. Als ob er angestrengt etwas suchen würde. Als er merkt, dass ich mich umgedreht habe, schaut er mich mit seinen großen Augen an. Kurz pustet er seinen Pony nach oben, damit die Haare nicht seine Sicht verbergen. Ein Lächeln breitet sich aus, wobei er die
Lippen aufeinander lässt und sich die Mundwinkel kräuseln wie die Wasseroberfläche eines Sees, in den man einen Stein wirft. „Keine Ahnung“, sagt er leise. „Vielleicht fällt es mir wieder ein, wenn du mir alles über den Fall berichtest.“ Ich seufze: „Warum sollte ich das tun?“ Er hebt kaum merklich die Schultern an. „Es sind immer noch streng vertrauliche Informationen. Dass du überhaupt davon weißt ist schon unter aller Sau. Ich kann dir wirklich nicht mehr verraten. Tut mir Leid.“ Seine Augen mustern mich. Aber nicht feindselig, sondern interessiert. Scharf zieht er die Luft zwischen die Zähne ein
und lässt sie pfeifend wieder entweichen. „Mein Vater ist Masuyo Kiyoshi. Er hat das System entwickelt und ich weiß wie man es bedient.“ Mein Hirn hat lange gebraucht, um diese Tatsache zu verarbeiten. Immer noch kann ich nicht anders, als Nagori zu mustern. Die großen Mandelaugen, die schmächtige Gestalt und die wuschligen, kreuz und quer abstehenden, Haare. Er ist der Sohn von Masuyo Kiyoshi, dem Entwickler des Systems. Vor knapp sieben Jahren war es eingeführt worden und hatte diesen Mann zu einer Ikone gemacht. Er, der ein Gerechtigkeitssystem konzipiert hatte,
welches überall Augen hatte. Eines, das auf kein menschliches Beisein mehr angewiesen war. Eines, das man nicht bestechen, oder durch Emotionen manipulieren konnte. Und dieser Mann der angeblich einzige, der den Zugriff hatte. Angeblich. Hier sitzt die wahrscheinlich einzige Ausnahme vor mir. Sein Sohn! Wieder huscht dieser innerlich suchende Ausdruck durch Nagoris Gesicht. Nur einen Augenblick lang, aber lang genug um ihn zu analysieren. Für diesen Wimpernschlag nur, hat der Junge wie ein alter Greis ausgesehen. Wie jemand, der sich an die Frische der Jugend zu erinnern versucht. Aber sofort ist es
wieder hinfort gespült. Jemand hat einen Stein ins Wasser geworfen und seine Mundwinkel kräuseln sich. „Erzähl mir alles!“ „Aber…“, ich stocke. Immer noch schlägt mein Herz schnell. Es ist aufregend, denn die Tür zurück in meinen Beruf ist zum greifen nahe. Er kann alles wieder rückgängig machen, er kann alles wieder ins Lot bringen. Ich scanne sein Profil. Dieses Mal schaue ich auch nach dem Alter und allen anderen Daten. Er hieß Nagori Jackson, der Nachname von seiner amerikanischen Mutter. Sie war vor knapp 14 Jahren verstorben. Ein Jahr nach seiner Geburt. Jetzt ist er 15 Jahre
alt. Fünfzehn. Ich hatte ihn zwar so um den Dreh geschätzt, dennoch wirkt es seltsam auf mich. In diesem Alter hatte ich verstanden, dass mein Platz im Leben gar nicht existierte, dass ich ihn mir bauen musste, erkämpfen, wenn man so wollte. Damals hatte es klick gemacht und ich hatte begonnen die Langeweile und die Normalität zu verabscheuen. Und auch wenn das lange her ist, so ist die Zahl fünfzehn in mein Herz eingebrannt. Für mich ist dies das Alter, indem die Träume in den Schlamm getreten werden und man gezwungen wird, die Augen für die trostlose Realität aufzureißen. In diesem Alter ist er jetzt. Nagori Jackson, väterlicherseits
Kiyoshi. Er lebt bei seinem Vater in New York, früher noch zusammen mit seiner älteren Schwester Ayame, aber sie verstarb vor fünf Jahren. Woran steht dort nicht. Genauso wie alles andere dort nicht steht. Es ist weder eine Schule noch sonst etwas angegeben. Ich schlucke schwer, lecke mir über die Lippen und öffne den Mund und dann… rinnt es aus mir heraus wie Wasser aus einem Quell. Die lange Geschichte von der Partie meines noch jungen Lebens. Ich beginne vor zwei Jahren, im strömenden Regen, als Anonym an mir vorbeilief. Als er mir seine Künste zeigte. Ich erzähle von meiner Wut, die ich seitdem verspüre. Wie ich von ihr
angetrieben wurde und ja, ich sage ihm sogar, dass es mir mehr darum geht, nicht zu verlieren, als um die Gerechtigkeit. Mein Stolz ist das, was zu kokeln begonnen hatte. Dann komme ich zum Widersehen im Gefängnis. Johanna Fleur, wie wir sie verfolgt haben. Eve Lavender, welcher niedergestreckt am Boden lag und Seven, dessen Psyche als komplett schwarz angezeigt wurde. Sofort danach erzähle ich vom Cafe. Von Joshs Gedanken, was mich wundert, da ich ihn immer noch für einen Trottel halte, und von der Begegnung mit Mad. Ich schildere genau, wie Seven auf meine Worte reagierte, oder eher nicht
reagierte. „… Nun ja, er hat irgendetwas gesagt, denke ich. Jedenfalls bewegten sich seine Lippen. Keine Ahnung, was er da sagen wollte. Er hatte sich die ganze Zeit passiv verhalten, ich hatte nicht gedacht, dass er noch ein Mal so aufdrehen würde.“ „Noir, also Anonym, Johanna Fleur, Mad Crazy, Number Seven… das sind also eure Gegenspieler“, brummelt er. Nagori sitzt wieder im Schneidersitz neben mir. Auf seinem Schoß liegt das zerfledderte Notizbuch. Er blättert aufgeregt darin hin und her. Im Laufe der Geschichte ist er immer hibbeliger geworden. Er hatte begonnen in sein Buch zu kritzeln, mich mit großen Augen anzusehen oder
gedankenverloren mit dem Finger unaufhörlich gegen die leere Teetasse zu kratzen – eine schrecklich nervige Angewohnheit. „Gehen wir sie doch ein Mal Schritt für Schritt durch… Noir. Das Wort Noir bedeutet auf Französisch schwarz oder dunkel. Genau lässt sich nicht schließen warum er sich so nennt. Sein Ziel ist…“ Ich fahre mit seinen Gedanken fort: „Aufmerksamkeit, eine Revolution. Er will die Gerechtigkeit des Systems in Frage stellen, und ich glaube auch seine Sicherheit.“ „Das ist alles, was wir über ihn wissen, oder?“, fragt Nagori immer noch in sein Buch starrend.
Ich nicke. „Dann wäre da Johanna Fleur. Über sie wissen wir rein gar nichts.“ „Genauso wenig wie über Mad.“ „Und über Number Seven“, es ist zum verzweifeln, denke ich seufzend. „Ne über den wissen wir schon etwas.“ Ich hebe die Augenbrauen geringschätzig: „Und was, bitteschön?“ „Er hat zwei Menschen ermordet. Einen, während seiner Untersuchungshaft, laut Josh Bloom. Ihn anzugreifen ist das letzte, was man tut, wenn man noch ein langes Leben haben will. Er war zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt worden und dazu kommen noch seine
Verhaltensweisen.“ „Und er kann das CP manipulieren.“, füge ich hinzu. Nagori sieht mich fragend an: „Wie jetzt?“ „Du weißt schon, mal ist seine Psyche schwarz, mal weiß. Eigentlich ist sie bei einem normalen Zustand grau.“ „Aber warum manipuliert er es?“, fragt er wieder. Ich schaue ihn zweifelnd an: „Habe ich doch gerade erklärt.“ „Ne, du hast nur gesagt, dass seine Psyche mal so mal so ist. Das ist zwar nicht normal, aber auch nicht unmöglich.“ „Halt Stopp!“, fahre ich ihn an. „Wie
soll das denn bitte möglich sein?“ Wieder lächelt er und blickt mich durch seinen Pony hindurch verschwörerisch an. Ich habe das unangenehme Gefühl, dass er mich für ein Dummerchen hält. Aber das bin ich nicht. Er ist nur bescheuert. „Überleg doch mal! Mal ist seine Psyche schwarz, mal ist sie weiß. Wann war sie denn schwarz? Als er dich angriff, oder besser gesagt sich selbst und Johanna beschützte. Als er wegrannte, war sie weiß. Von einer Minute auf die andere, zuerst hat er aggressiv angegriffen, danach ist er wie ein Angsthase geflohen. Eigentlich würde das keinen Sinn ergeben, aber wenn man das weiter verfolgt… Im Cafe
wirkte er anders auf dich. Unschuldig, meintest du doch, oder? Ich wette mit dir, als er den Kakao leckte, war seine Psyche weiß und als du zum Messer gegriffen hast, war sie schwarz. Schade, dass du keine Waffe hattest, um das zu analysieren.“ „Was macht dich da so sicher?“, frage ich und versuche mich genau an Sevens Verhalten zu erinnern. „Du hast von einem kleinen Detail erzählt, als wäre es dir selbst kaum aufgefallen: seine Pupillen. Du meintest sie seien klein gewesen, als du ihn überrumpelt hast und als er selbst angriff, seien sie groß gewesen. Pupillen werden groß, wenn sich das Sichtfeld
urplötzlich verändert, oder der Geist verwirrt wird. Auf gut deutsch, wenn du Drogen schluckst. Aber Seven hat keine Drogen genommen, aber dennoch wurde sein Geist getrübt oder sagen wir >verändert< als er sich verteidigte. Seine Psyche wurde schwarz. Und da er in einem Gefängnis mit etablierter Nervenheilanstalt war ist es gar nicht so abwegig, dass er an Schizophrenie oder so was in der Richtung leidet. Wenn er zwei Persönlichkeiten hat, ist es möglich, dass er von einem Augenblick auf den nächsten von schwarz auf weiß wechseln kann.“ „Ist das nicht ein bisschen weit an den Haaren herbeigezogen?“, frage ich
abschätzig. Dabei weiß ich selbst, dass man nicht etwas ausschließen kann, nur weil es weit hergeholt ist. Alle Dinge passen in das Bild zweier Persönlichkeiten. Alle. „Man kann zwar Namen und Daten ändern, aber das CP scannt immer den Träger, egal wie er heißt und woher er kommt. Wahrscheinlich hat Noir auch gerade deswegen Seven ausgewählt, weil er von allen in dieser Anstalt dort, ein Kampfmaschine ist und gleichzeitig vor dem System unschuldig.“ „Das wäre ein genialer Gefolgsmann“, sage ich in Gedanken. Genau der Richtige für Noir. Jemand, der dass manipulieren kann, auf das er keinen
Zugriff hat. Damit hat Anonym alle Bereiche abgedeckt. Er hat sich eine Verteidigung gebaut, die uns schwer zu schaffen machen wird. „Dann könnte man das noch weiter denken: Woher kommt diese Schizophrenie. Das kann von so kommen, ist aber meist traumatisch bedingt. Man erschafft sich eine Persönlichkeit, welche das Trauma erträgt, beschützt somit die andere, vollkommen gesunde.“ „Es könnte mit dem ersten Mord zusammenhängen.“ „Könnte…“, antwortet er. Gerade will er den Mund aufmachen, aber ich unterbreche ihn: „Das führt zu nichts,
wenn wir jetzt wild herumphantasieren. Was wir brauchen sind Tatsachen! Und eine Tatsache ist, dass das System komplett sicher ist, nur dein Vater kennt die Zugangsdaten und den Weg, wie also ist Anonym dahinter gestiegen?“ Wieder diese Geste, mit der er sich am Hinterkopf kratzt. Mittlerweile weiß ich, dass das entschuldigende Grinsen nicht weit sein kann. „Kennst du jemanden im Freundeskreis deiner Familie, der euch nachspionieren könnte? Wenn er sich jeden Schritt von deinem Vater abgeguckt hat, dann müsstest du ihn doch kennen.“ Seine Augen weichen mir aus und das entschuldigende Lächeln wird breiter.
„Ich habe keine Ahnung“, brummelt er nicht in meine Richtung. Wie oft hat er das an diesem Abend eigentlich schon gesagt? Zu oft eindeutig. Wovon hatte er den überhaupt eine Ahnung? So wie er da auf meinem Bett hockt, ein zerfleddertes Notizbuch auf dem Schoß, die schlabberige Sweatshirtjacke von den schmächtigen Schultern rutschend, die Brille schief und die Haare ohne erkennbaren Haarschnitt… - und war das eigentlich extra, dass er zwei verschiedene Schuhe trägt? – verliere ich irgendwie die Hoffnung. Aber welche Hoffnung sollte man sich fragen? Ich bin immer noch suspendiert. Sevens Schizophrenie hin oder her. Ich war
suspendiert. Allein. Tot. In meinem Bauch beginnt es heiß zu werden. Es ist nur ein jämmerlicher Abklatsch von Wut, ein Häuflein Elend von Aggressivität. Aber dieses Kribbeln lässt mich nicht los. Es zieht sich zusammen und hält meinen Magen wie in einer geballten Faust fest. Egal was ich mache, es ist doch unabwendbar. Dadurch, dass ich ihm alles erzählt hatte, hatte ich doch nur meine Erinnerungen wieder aufleben wollen, ich hatte mir etwas vorgespielt. Weder konnte er mir helfen. Noch konnte ich zurück. „Warum erzähle ich diese ganze Scheiße…?“, frage ich und lege meine beiden Hände auf meinen Bauch. Auf ein
Mal komme ich mir unglaublich kränklich und ausgezerrt vor. Dabei habe ich schon lange gewusst, dass der Stress mir die Kilos stiehlt und die stickigen Räume meine Gesundheit rauben, aber ich hatte genug Herzblut gehabt um es zu ignorieren. Jetzt habe ich nichts, was mich davon ablenkt, dass meine Hände zu blass und zittrig sind, dass die Schatten unter meinen Augen so schwarz sind wie ein Schminkfehler und dass mein Bauch sich heiß zusammenzieht. „Weil du so bist, wie ich es mir vorgestellt habe“, antwortet Nagori auf meine rhetorische Frage. „Als ich dein Profilfoto gesehen habe, hatte ich im
ersten Moment Angst vor dir, doch dann dachte ich mir, dass diese Person nicht gefährlich, sondern nur einsam ist und das bewusst. Du baust dir selbst deine Wälle, hoch und steil damit niemand sie besteigen kann, du willst, dass nur die Leute dein Herz erreichen, welche es über diese Mauer geschafft haben. Du möchtest nur die kennen, die es in deinem Leben wert sind. Die anderen sind für deine Zielstrebigkeit nur Ballast.“ Die Worte klingen in meinem Schädel wie in einer Glocke. Sie hallen von der einen Seite zur anderen. Ich merke wie mir schwindelig wird. Schon längst ist mir so schlecht, dass die ich diese Hitze
nicht mehr meiner elendig verreckten Wut zuschreibe. „Danke“, sage ich. Meine Stimme dringt viel zu leise zwischen meinen kalten Lippen hervor. „Wenn du mir sagen willst, dass Charme nicht meine Stärke ist, dann hab den Mut es mir ins Gesicht zu sagen, das machen sowieso alle.“ „Ich will nur sagen, dass du nur dir nützliche Leute magst und genauso wie du liebe ich Herausforderungen. Mal sehen wie lange ich brauche, bis wir Freunde sind!“, er lacht und seine grünen Augen funkeln wie Gift. Dieser Idiot, denke ich und die Hitze steigt langsam brodelnd auf. Ich spüre wie sie meine Brust zu übermannen droht
und wie der Wunsch allein zu sein, damit mich niemand mehr ansieht, in mir aufwalkt wie ein Sturm: „Verschwinde“, flüstere ich, während ich meine Fäuste gegen die Schläfen drücke. „Bitte verschwinde einfach und vergiss, was ich dir erzählt habe!“ Sein Lächeln verschwindet angesichts meines ernsten Untertons. Er nickt mit zusammen gepressten Lippen und steht auf. „Keine Sorge, morgen werde ich dich nicht mehr kennen.“ „Gut so.“, presse ich angestrengt hervor und zwinge mich in seine Augen zu blicken, welche grün schimmern wie nasses Moos. Sie sind unbedarft, gar nicht so voller Sorgen wie die eines
Erwachsenen. Sein Blick ist der eines Menschen, dessen Welt noch groß und voller Möglichkeiten ist. Er scheint meinen Augen nicht länger standhalten zu können und dreht sich um. Das zerfledderte Heft in der Hand stolpert er zum Ausgang. An der Tür wirft er noch einen Blick zurück. Immer noch starre ich ihn an und als er das merkt kann ich sehen, wie ein Schauer über seinen Rücken läuft. Die Brille schräg auf der Nase und die Haare zerstrubbelt verschwindet er aus meinen Augen, aus meinem Leben. Weg. „Als ich dein Profilfoto gesehen habe, hatte ich im ersten Moment Angst vor dir, doch dann dachte ich mir, dass diese
Person nicht gefährlich, sondern nur einsam ist und das bewusst. Du baust dir selbst deine Wälle, hoch und steil damit niemand sie besteigen kann, du willst, dass nur die Leute dein Herz erreichen, welche es über diese Mauer geschafft haben. Du möchtest nur die kennen, die es in deinem Leben wert sind. Die anderen sind für deine Zielstrebigkeit nur Ballast.“, das hatte er gesagt. Und es stimmt. Ich weiß schon lange, dass ich ein ziemlich unfreundlicher Mensch bin, ich weiß schon lange, dass mein Herz ein Eisblock ist, doch es hat mich nicht gejuckt. Das Problem ist nur, dass ein Mensch mit Wärme in sich in der Einsamkeit länger lebt als der Kalte,
welcher nach wenigen Stunden erfriert. Ich werde erfrieren. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein. Ich denke, ein Damm in mir ist gebrochen und ich werde niemals zu meiner Geistesstärke zurückfinden, weil alles futsch ist, für das es sich zu kämpfen lohnt. Aber mir ist nicht aufgefallen, dass ich nicht weine. Innerhalb meiner Sicht bin ich so gut wie ein Toter: Ich tue nichts, ich kommuniziere nicht, für andere existiere ich nicht. Die Langeweile ist schon längst in meine trägen Glieder gefahren und dennoch schluchze ich nicht in mein Bett. Nicht dass ich das bedauere, es fällt mir noch nicht ein Mal auf, dass ein winziger
Funke tief in mir drin die Tränen immer noch einfriert. Der Wille nicht aufzugeben, der Stolz frostiger denn je. Ich denke nur, ich bin gebrochen, dabei lebe ich. Ich bin nicht tot, ich schlafe nur.
Schreib mir was!
Wach, als wäre ich in Eiswasser getaucht, komme ich aus dem Bad. Es ist schon lange her, dass ich so ausgiebig geduscht habe. Meine Fingerkuppen sind verschrumpelt und ich fühle mich im gesamten wie ein eingelaufenes Handtuch. Mit diesem wabbligen Gefühl in den Beinen gehe ich, auf dem Weg schmutzige Wäsche wegtretend, in Richtung Küchenecke. Mit einem Schnipsen auf die alten Kassettentasten springt mein altes Museumsstück von Radio an und trällert die Charts runter, welche ich schon alle
nicht mehr kenne, solange habe ich in der Versenkung gehaust. Die Zeit, in der ich mitten in meinem sogenannten Leben verbracht hatte, wird mir noch mehr bewusst, als ich den Kühlschrank öffne und mit runden Augen auf die wenigen Auslagen starre. Eigentlich sagt man ja immer: besser wenig als nichts, aber jetzt hätte ich lieber Nichts in meinem Kühlschrank, denn Nichts richt nicht so wie wenig Vergammeltes. Deprimiert knalle ich den Kühlschrank wieder zu. Die eine fast leere Plastikflasche kippt schon wieder um, dasselbe ist mir beim Öffnen passiert. Seufzend lasse ich mich auf den Hintern plumpsen und sitze nun in
einer alten Schlafanzugshose und einem abgewetzten Shirt unter der Küchentheke. Ich sitze hier in einer Wohnung ohne etwas zu Essen. Überall ist Staub und an der Decke tummeln sich beängstigend viele Spinnen. Ich hatte meine Umgebung vollkommen aus den Augen verloren. Ich hatte vergessen, dass das Leben Facetten braucht um glücklich zu machen. Aber das braucht es doch nicht wirklich!, denke ich sofort. Entnervt schließe ich die Augen. Ich habe gar keine Idee, was ich mir von meinem Leben erhoffe, nur dass ich mir diese Frage nie wieder stellen möchte. Ich möchte, dass mein Leben so gut und
spannend wird, dass ich keine Zeit habe darüber nachzudenken. In einer Wohnung die so aussieht wie die einer Toten wird das auf jeden Fall nicht der Fall sein. Aber es wohnt ja auch eine Tote drin. Niemals könnte ich jetzt etwas anderes anfangen als das, was ich tat. Ich könnte Anonym nicht vergessen, ich könnte meine Entschlossenheit nicht vergessen und auch nicht das brennende Gefühl im Herzen wenn ich dem Ziel auf den Versen war. Aber es war mir immer entwischt. Ausnahmslos. Ich ziehe mich an der Kante der Theke hoch und gehe wieder ins Bad zurück. Ich muss einfach wissen, wer ich bin. Was ich will. In gewisser Hinsicht kann
mir der schmutzige Spiegel über dem speckigen Waschbecken eine wage Antwort liefern. Er ist glatt, und gefühllos, ein Gegenstand. Und er kann mir zeigen wer ich bin, denn ich weiß es nicht. Ich atme gefasst aus und schlage die Augen auf. Forschend huschen sie im Spiegel hin und her, erfassen jedes Detail von meinem Gesicht. Hinter mir manifestiert sich mein Profil wie ein blauer Schatten. Meine Augen huschen über die Buchstaben. Bald werde ich dieses ungewohnte Wort lesen. Meine Suspendierung entziffern. So fremd in meinem Profil. Verwirrt lese ich mir in einem Sekundenbruchteil noch Mal das
durch, was ich bin. Joan Foster 21 years old Commissar Wo ist das: Suspendiert wegen Missbrauch der polizeilichen Autorität? Wo ist die Anklage? Wo ist der Grund, weshalb ich mich quäle? Wo ist er hin? Mein Herz macht einen Sprung und ich muss Freudentränen wegblinzeln. Der Funke tief in mir drin verströmt so plötzlich Licht wie der Urknall. Die gewaltige Explosion jagt das Blut durch meine Venen und lässt meinen Schädel dröhnen. Ohne Verstand reiße ich die Wohnungstür auf und stürze ohne Abzuschließen die Treppe hinunter.
Sollen doch noch mehr Helferchen auf diesen Stufen pennen und mir durchs Leben helfen! Sollen doch noch mehr kommen und wie Nagori mich am Leben erhalten. Er hat das System geändert. Wer sonst könnte es tun? Er, dieser kleine, vollkommen verplante Junge. Er hat mir geholfen. Mich gerettet. Wiederbelebt. Ich lebe wieder. Ich kann es in jeder Zelle spüren. Ein Kribbeln, elektrisierend… so wie ich es liebe! Ameisen laufen durch mein Blut. Ihre kleinen Füßchen kitzeln bei jedem winzigen Schritt. Ich spüre, wie mein Kopf allmählich wieder den Motor anschmeißt und sich meine Gedanken ordnen. Der dumpfe Schleier fällt von
ihnen ab und sie schießen wieder wie Pfeile durch meinen Schädel und lassen mein Herz flattern. Es schlägt nicht wie ein kleines Vögelchen mit den Stummelflügeln, nein, es ist ein gewaltiger Adler, welcher seine Beute endlich wieder im Blick hat! Ich sprinte im Schlafanzug über den Bürgersteig in Richtung Hauptstraße. Niemand ist auf den Straßen. Ich bin allein und unter mir liegt die stille Stadt zu meinen Füßen. Meine geliebten Turnschuhe lassen mich in den bewölkten Himmel schweben, so federnd waren sie noch nie, auch nicht als sie neu waren. Ich fühle mich, wie ein Held. Ich, die unerbittlich für Gerechtigkeit
kämpft, auch wenn ich noch keinen Sieg errungen habe: Die Stadt schlummert unter mir wie ein hilfloses Kind, nackt blitzt der Asphalt im grellen Grau der Wolken, zwischen denen einzelne Sonnenstrahlen meinen Weg erleuchten, als ob jemand mir ein Zeichen senden wolle. Frischer Wind, der durch meine Flanellhose fährt und das Karomuster schlackern lässt, sodass meine Stelzenbeine den Fels in der Brandung bilden. Eigentlich ist dieses Bild trübe für mich. Langweilig und trostlos. Aber jetzt, jetzt ist es die Welt! Es ist meine Welt. Das wofür ich kämpfe und es empfängt mich mit einer Euphorie die mir kein episches Orchester hätte geben
können. Ein erleichtertes Lachen dringt aus meiner Kehle. Zunächst leise und glucksend, doch dann bricht es aus mir heraus wie ein Glücksschrei. Ich bin wieder auferstanden! Mein Lachen wallt über die leere Straße, hallt von den hohen Häuserwänden wieder und dringt durch die grauen Fenster. Wie ich aussehen muss: Im Schlafanzug und Turnschuhen mitten auf der Straße, die Hände in den Hosentaschen vergraben, auf meinem Gesicht ein breites Grinsen und aus meiner Kehle das Lachen einer Psychopathin. Irgendwie bescheuert sind wir aber alle, oder? Jeder hat irgendwo in der Psyche eine Leiche begraben, das kann niemand abstreiten. Aber ich weiß,
wo mein Grab ist: die Angst vor der Langeweile. Andere Leute genießen sie, ich bekomme regelrechte Panikattacken, wenn ich ohne Ablenkung meinen eigenen Gedanken ausgeliefert bin. Wenn ich nichts ändern kann. Wenn meine Welt nur noch eine Welt ist, wenn diese Stadt nicht mehr mir gehört, wenn die Straßen mich nicht mehr mit Euphorie beschenken, mir nur ihre trostlose Seite zeigen… dann fühle ich mich leer, tot, lichter aus- vorbei. Mein Lachen verebbt und ich renne los. Mein Herz wummert so laut, dass ich nicht anders kann, als es auszupowern. Ich fühle mich, als würde ich gleich explodieren. Außerdem will ich so weit
wie möglich von meiner Wohnung weg, in der sich immer noch die tödliche Langeweile staut. Ich muss weg von ihr, nie wieder soll sie ihre Klauen nach mir ausfahren. Noch ein Mal schaffe ich es garantiert nicht, meine Welt wieder zurückzugewinnen. Ich renne und renne. Die Straße führt bergab. Meine Füße brennen, und meine Muskeln streiken schon, aber es ist mir egal. Ich laufe einfach, aber wohin? Zurück in mein Leben, schallt es sofort von innen heraus. Natürlich weiß ich, wo ich hin muss. Zurück zum exzentrischen Lloyd, nutzlosen Josh und zum schweigenden Limbardt. Sie alle dürfen ihn nicht ohne mich bekommen,
niemals! An der Hauptstraße angekommen stehe ich auf ein Mal mitten im Gedränge. Leute schauen mich komisch an, ich starre zurück. Fast so, als wäre ich jahrelang blind gewesen, schnappe ich jedes Detail auf, aber ich muss mich beeilen. Zügig überquere ich den Bürgersteig, schubse dabei unachtsam Passanten aus dem Weg und stelle mich an den Bordstein. Meine Augen huschen hin und her – ich suche nach einem Taxi. Zwar ist mir immer noch nach Laufen zumute, aber wenn ich bis zum Quartier durchsprinte, bin ich vielleicht wirklich tot und aller Euphorie zum Trotze, wiegt der gesunde
Menschenverstand mehr. Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas Gelbes aufblitzen und sofort springe ich auf die Straße. Ein schwarzer Kombi packt schliddernd die Kurve und sein Autospiegel streift mich, als der Fahrer mich anbrüllt und dabei lautstark auf die Hupe drückt. Ich blicke nicht zurück, ich schaue geradeaus auf das näherkommende Taxi. Das einzige, das der Fahrer im schwarzen Kombi erhält ist der ausgestreckte Mittelfinger meiner Faust. Heute bin ich unbesiegbar. Mit schnurrendem Motor hält das Taxi direkt vor mir. Auch wenn ich kein Geld habe, reiße ich die Beifahrertür auf und springe auf den ledernen Sitz. Ich
schenke dem Fahrer keine große Beachtung, mustere den Durchschnittstypen nur kurz und blicke dann gerade aus. „Ich muss zum Holländischen Viertel und zwar schnell!“ Er blickt mich an. „Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie Geld dabei, Joan Foster.“ „Herr Martín, ich bitte Sie, fahren sie einfach! Ich verspreche Ihnen zu zahlen. Als ob ich als Kommissar gegen das Gesetz handeln würde.“ Ich blicke ihn durchdringend an. Er nickt nur, schon in den frühen Morgenstunden gelangweilt von seinem Job. Armer Schlucker, denke ich und schnalle mich an. Kaum, dass das Taxi losgefahren ist,
drücke ich mit einer Hand auf das HH. Es dauert nicht lange und ich habe die Nummer von Josh gefunden. Es dauert genau vier Sekunden, bis er drangeht. Seitdem jeder Mensch sein Handy im Ohr stecken hat, geht das generell viel schneller, da man das Piepen dann überhaupt nicht mehr ignorieren kann. „Hallo? Josh Bloom hier.“ „Joan. Ich komme zu euch, ich habe ein paar interessante Dinge herausgefunden. Sag Limbardt er soll Sevens Lebenslauf herausfinden und zwar haarklein!“ „J-joan!“, ich kann mir förmlich ausmalen, wie seine Augen rund werden wie Teller. „A- Aber du darfst nicht kommen!“ ich genieße diese
Vorstellung. „Warum nicht?“ „Du bist suspendiert! Es tut mir ja leid, aber… du…“, er verliert sich und ich muss fast lachen. „Hör zu: Ich bin wieder dabei, vertrau mir, verstanden?“ Eine lange Stille folgt. Kurz denke ich schon er hat aufgelegt, aber dann registriere ich, dass das >Vertrau mir< ziemlich fehl am Platz war. Ich seufze: „Mach dir nicht ins Hemd, okay? Ich bin bald bei euch und jemand muss das Taxi bezahlen.“ Ich lege auf und starre aus dem Fenster. Josh hatte mich das letzte Mal gesehen, als ich kurz vorm Nervenzusammenbruch ihn angeschrien
hatte. Er hatte mir helfen wollen, aber er konnte es nicht und daher hatte ich ihn auch nicht da haben wollen. Irgendwie hatte Nagori Recht gehabt. Er hatte gesagt, dass ich mir Wälle um mich selbst baue, keinen an mich heran ließ, außer sie schafften es diese gewaltigen Mauern zu überwinden. Ich bin kaltherzig, ich weiß, aber ich kann nun mal nichts daran ändern, dass Menschen, welche mir zu nichts weiterhelfen können, mich innerlich aufregen. Sie machen mich aggressiv und wecken keineswegs das Gefühl in mir, ihnen zu helfen. Ja, meine Freundschaft muss man sich wirklich verdienen. „Ich will nur sagen, dass du
nur dir nützliche Leute magst und genauso wie du liebe ich Herausforderungen. Mal sehen wie lange ich brauche, bis wir Freunde sind!“ Um ehrlich zu sein, hatte mir noch nie jemand wirklich geholfen. Nagori ist der erste gewesen. Und das nicht grundlos: er ist der erste, der meine Sicht von Freundschaft ohne Widerworte hingenommen hat. Selbst in der Schule waren alle immer distanziert mir gegenüber, weil ich ein Einzelkämpfer war und immer noch bin. Ich hatte niemandem geholfen und mir hat niemand geholfen. Wie du mir, so ich dir. So läuft die Welt und es ist das erste Mal, dass ich jemandem etwas schuldig
bin. Und dann auch noch einem fünfzehnjährigen Jungen, der noch nicht mal wusste wie er hieß. Ich muss lächeln. Nagori Jackson. Wenn ich in der Zentrale fertig sein werde, werde ich nach ihm suchen, und wenn ich die ganze Stadt durchkämmen muss! Er hat es verdient. Zwar hat er den Wall noch nicht erklommen, aber er ist schon weit über dem Boden. Noch nie war mir jemand so sympathisch gewesen, wie dieser Jugendliche, welcher wahrscheinlich noch die Schulbank drückt. Elegant parkt das Taxi vor dem Hotel, in welchem wir unsere vorübergehende
Zentrale eingerichtet haben. Gegenüber kann ich das Cafe sehen, in welchem ich auf Seven und Mad getroffen war. Durch die großen Scheiben kann ich erkennen, dass es immer noch so trügerisch charmant wirkt wie eh und je. Nichts ist dort passiert. Alles ist bedeutungslos. Alles vergeht und alles wird vergessen. Oder, wie ich in diesem Fall vermute, möchte angestrengt vergessen werden. Aber ich werde mich immer daran erinnern, an den größten Fehler, den ich je gemacht habe. Ich werde nicht vergessen, wie es ist, wenn sich vor die eine selbst aufgebrochene Schlucht auftut und du hineinfällst, ohne dich festhalten zu können.
„Was ist mit meinem Geld?“ Ich schrecke hoch und schieße den Taxifahrer sofort mit einem scharfen Blick ab. Danach schaue ich aus dem Fenster und sehe Josh vor dem Hotel stehen. Er trägt sein übliches hellblaues Hemd mit weißen Tupfen, den ordentlichen Topfschnitt und die gute dunkelblaue Hose. Seine blauen Augen sehen mich an. Etwas seltsames, Unbekanntes liegt in ihnen. Kurz stutze ich und muss schlucken. In Josh rechter Hand klemmt zwischen den Fingern eine Zigarette. Sie qualmt erbärmlich wenig. „Mrs. Foster?“, die Stimme von Martín klingt ziemlich unangenehm in meinen
Ohren. Ungehalten reiße ich meine Tür auf und steige forsch aus dem Wagen aus. „Was wird das bitteschön?!“, wird er etwas energischer, aber ich winke nur Josh herbei. Hastig joggt er zu mir herüber, als hätte er mich gerade erst bemerkt, dabei hat er mich schon lange vorher gesehen. Er weicht meinem Blick aus und beugt sich stattdessen zum Taxifahrer herunter um zu bezahlen. „Eine reizende Freundin haben Sie sich da angelacht!“, brummt Martín mit nicht dem leisesten Anflug eines Lächelns. Josh brummt nur missmutig und drückt ihm ohne zu zählen ein paar Scheine in die Hand, dann knallt er die Tür zu und geht zögerlichen Schrittes zurück ins
Hotel. Mit einer fahrigen Geste nimmt er einen Zug und schmeißt die Zigarette dann auf den Boden, wo er sie mit dem Schuh austritt, dann setzt er seinen Weg fort. Ich folge ihm durchs Foyer, wo mich die Frau an der Rezeption anstarrt als wäre ich aus einem Fantasyfilm entsprungen. Josh hingegen richtet seinen Blick überhaupt nicht auf mich. Kein Mal. Er schaut mal hier hin, mal dorthin. Dabei kann ich genau spüren, wie unangenehm ihm die Situation ist, dass er die ganze Zeit an mich denkt. Er hat meine Anwesenheit nicht vergessen, ganz im Gegenteil. Im Fahrstuhl angekommen werden wir zu zweit auf engem Raum
eingeschlossen. Ich kann förmlich spüren wie es für Josh zu wenig Luft zwischen uns ist. Seine Intimsphäre scheint größer zu sein als die schmucke Kabine und ich bin ein Eindringling. „Du rauchst“, stelle ich fest, nur um irgendetwas zu sagen. Nicht dass es mir unangenehm ist und dass mir irgendetwas an Josh liegt, nein, ich will meine hellen Gedanken nicht gleich ins Düstere meines Einzelkampfes werfen. „Du bist im Schlafanzug“, sagt er und fährt sich durch die blonden Haare, was kurz seinen Pony aus dem Gesicht fegt. „Hat da etwa wer Schlagfertigkeit gelernt?“ „Spar dir deine Ironie für Lloyd auf“,
erwidert er leise, ohne mich anzusehen. Ich hebe die Augenbrauen. Natürlich hatte ich keinen euphorischen Empfang erwartet, aber ich hatte auch nicht erwartet, dass Josh dermaßen verstört ist. Ich seufze: „Sorry für das Anschreien und so.“ Keine Antwort. „Hallo? Es tut mir wirklich Leid, Josh!“ Jetzt sieht er mich an und in seinen Augen sehe ich immer noch die Weite des Meeres. Unglaublich. Ein Träumer. „Egal ob es dir Leid tut, du wirst es immer wieder tun. Es ist dir doch sowieso egal.“ „Ich mag dich halt nicht und ich kann dich zu nichts zu gebrauchen – das ist eine Tatsache, die ich dir von Anfang an
klargemacht habe. Tut mir Leid, wenn du zu blöd bist um mir zu glauben.“ „Weißt du“, sagt er nach einer kurzen Stille und blickt zur Fahrstuhldecke: „Es war ganz entspannend ohne dich. Ich weiß ja nicht, warum du so penetrant jeden in deinem Umfeld mit Beleidigungen bombardierst, aber ich hatte es satt!“ Die Fahrstuhltüren gehen auf, aber wir bleiben stehen. Beide mit vor der Brust verschränkten Armen, beide den anderen fixierend. „Ach, und deshalb hast du mich auf einen Cafe eingeladen?“ „Du hast mir beigebracht, dass es wirklich schlechte Menschen gibt. Manchmal frage ich mich, ob ich
wirklich für das Richtige arbeite, oder ob es nicht besser ist, wenn Anonym dich und Lloyd zerschmettern würde.“ Ich durchbohre ihn mit meinem Blick, aber er zündet sich nur noch eine Zigarette an und geht. Im Hotelzimmer angekommen, müssen sich meine Augen erst ein Mal an das Dämmerlicht gewöhnen. Die goldgelben Vorhänge sind zugezogen, sodass nur ein wenig Sonnenlicht in den Raum sickert. Die Hauptlichtquellen sind aber die Monitore und Hologramme, welche in der Luft tanzen, wie Fliegen, dirigiert von Lloyd, welcher seinen Platz auf der Couch anscheinend seid meinem
Fortgang nicht verlassen hat. Desinteressiert hebt er nur eine Augenbraue, als er mich eintreten sieht. Doch dann, als er routiniert mich gescannt hat, halten die langen blassen Finger inne. Erst jetzt sieht er mich wirklich an, so als würde er mich sehen und nicht durch mich hindurch. Seine grauen Augen mustern mich, seine Lippen drehen die Zigarette gedankenverloren hin und her. Ich sage nichts, lasse ihn nur gucken und sich selbst einen Reim daraus machen. Mit verschränkten Armen stehe ich im Eingang und muss unwillkürlich an Joshs dumme Worte denken. Er hatte gesagt, dass er es schon nicht schlecht
fände, wenn Lloyd und ich untergehen würden. Dieser verdammte Verräter! Wegen ihm waren wir in dieser Lage! Er hatte Seven nicht abfangen können und er hatte wirklich noch nie auch nur irgendeine Info reingebracht, die uns weitergeholfen hätte. Er ist ein arroganter Idealist, denke ich mürrisch und beginne ungeduldig mit den Fingern auf meinem Schlafanzugoberteil zu tippen. Auch der alte Limbardt mustert mich von oben bis unten. Es ist ihnen allen aufgefallen. Es ist unübersehbar. Selbst durch die rauchgeschwängerte Luft kann man genau sehen, dass ich wieder im Dienst bin. Einfach so. Ich lächle wissend und blicke genau in
das Grau um Lloyds Pupille. Soll er doch gucken! Soll er sich doch dran den Kopf zerbrechen! Limbardt ist der erste der reagiert. In der Stille des dunklen Raumes wirkt das Klicken seiner Dienstwaffe seltsam laut. Ungläubig brauche ich ein bisschen um zu verarbeiten, was er da tut. Er zielt auf mich. Ich fühle mich wie von einem Laster überfahren. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Gut, auch wenn ein Jubelschrei mich wiederzusehen ebenfalls nicht zu erwarten war, dass hier ist etwas komplett anderes! Es ist etwas viel Gefährlicheres. „Wie ist die Suspendierung gelöscht
worden? Stehst du mit Anonym in Kontakt, Foster? Antworte!“, seine Stimme ist ruhig, aber er hält die Waffe fest. Ich starre ihn immer noch überrumpelt an. Doch dann verstehe ich. Es macht Klick in meinem Kopf und sofort werde ich zum Laster, der alle überrollt: „Du spinnst wohl! Davon mal abgesehen, dass du sowieso nicht schießen kannst, wegen des CPs, denkst du doch wohl nicht, dass ich mich mit diesem verabscheuungswürdigen Verbrecher zusammentun würde!?“ Ohne mich aus den Augen zu lassen, steckt er die Waffe wieder zurück in seinen Mantel. „Also“, nuschelt Lloyds vertraute
Stimme vom Sofa „hat er es verändert, ohne eine Kommunikation. Eine weitere Herausforderung. Er will, dass wir weiterhin mit aller Macht versuchen ihn zu fassen.“ „Nein!“, sage ich energisch und stampfe mit dem Fuß auf. „Es war nicht Anonym.“ „Wer?“, nuschelt er gewohnt kurz angebunden. Im Hintergrund sehe ich wie Josh die Arme vor der Brust verschränkt hält und mich beobachtet. Idiot! „Es war Nagori Kiyoshi, der Sohn von Masuyo Kiyoshi. Und ihr wisst genau, wer das ist!“ „Und das sollen wir dir glauben?“, fragt
Josh zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Ich kann es euch beweisen, wenn ich ihn wiederfinde. Er muss noch irgendwo in dieser Stadt sein. Er kann es euch beweisen.“ Zweifelnde Blicke. Ich spüre sie. Wie oft in meinem Leben habe ich sie gespürt und gehasst! Ich mag es nicht, wenn alle nur das aggressive Mädchen sehen. Wenn mir niemand etwas zutraut. Aber dieses Mal zweifeln sie an der Richtigkeit. Was mich eigentlich nicht wundern sollte, da ich es selbst kaum glauben kann. Schließlich hatte Nagori in meinem Treppenhaus geschlafen und darüber komplett vergessen, dass ich sein
Reiseziel war. „Er will uns helfen“, sage ich. „Nagori meinte, dass er hierhin gereist wäre um uns so was wie Handlungsfreiheit zu sichern, ohne dass die Behörden es wissen können. Lasst mich ihn herbringen und ihr könnt ihn selbst fragen, okay?“ Wieder diese zweifelnden Blicke. Aber ich sage nichts mehr. Wenn ich jetzt ausfallen würde, wäre es vorbei, dann glaubt mir nämlich keiner mehr. Auch wenn ich Recht habe. Innerlich seufze ich wegen soviel Starrsinn. Doch schließlich geben sie nach. „Deine Überprüfung ist wichtig“, nuschelt Lloyd und beißt in eine neue Schokoladentafel. „Wir suchen ihn per
Profillistung der Polizei, Sie ziehen sich was an.“ Ich will schon protestieren, aber Lloyd hört mir schon gar nicht mehr zu. Er hat den Searcher der Polizei geöffnet und beginnt mit der Suche durch die Listen der Polizei. „Du musst nach Nagori Jackson suchen“, sage ich und drehe mich um, um irgendwo brauchbare Klamotten herzubekommen. Ich habe jetzt keine Zeit um noch ein Mal nach Hause zu fahren. Ich muss zurück sein, sobald sie ihn ausfindig gemacht haben. Aber dann bringt es doch sowieso nichts, wenn ich weggehe. Das ist schließlich eine Sache von fünf Minuten, wenn es normal läuft.
Als hätte Limbardt meine Gedanken gelesen, legt er mir eine schwere Hand auf die Schulter und dreht mich um. Er riecht muffig nach lange im Schrank hängenden Kleidern. „Du fährst jetzt nach Hause. Wir holen ihn. Wenn er wirklich Bescheid weis, wird das kein Problem sein. Aber wenn du mal ganz hypothetisch wirklich Kontakt zu Anonym hast, können wir dich mit ihm nicht allein lassen. Verstanden, Foster?“ „Ja!“, sage ich widerwillig und mache seine Hand von meiner Schulter los. Seufzend stehe ich vorm Spiegel in meinem Badezimmer. Ich hatte nicht gedacht, dass meine Wiederkehr so
unspektakulär ausfallen würde. Aber dafür arbeite ich einfach mit den falschen Leuten zusammen. Weder Lloyd noch Limbardt würde es auch nur in den Sinn kommen zu irgendeinem Anlass ausgelassen zu sein, und Josh scheint von mir überhaupt nicht mehr begeistert zu sein. Aber ich hatte wenigstens erwartet, dass sie mich mit Fragen bestürmen würden, dass sie tellergroße Augen machen würden. Aber nein. Nichts dergleichen. Stattdessen hielt man mir den Pistolenlauf entgegen und verhörte mich. Nur um mich fünf Minuten später wieder vor die Tür zu setzen. Aber Nagori würde ihnen schon sagen, dass er mein Profil geändert hat.
Er ist klug genug sofort die Lage zu erfassen und ich glaube auch, dass er erfreut sein wird, die anderen Ermittler zu treffen. Wie er sich die wohl vorgestellt hat? Immer noch wollen mir seine Worte über mich kaum aus dem Kopf gehen, aber ich ignoriere sie zunächst. Momentan kann ich nur herumsitzen und meine Gedanken sammeln, und zwar die brauchbaren und nicht die gefühlsduseligen. Außerdem hatte ich mir beim Imbiss gegenüber einen großen Döner geholt, welchen ich in Rekordzeit verputzt hatte. Jetzt bin ich damit beschäftigt den Mülleimer wiederzufinden. Hatte ich in dieser Wohnung überhaupt einen hingestellt?
Hm. Gute Frage. Keine Antwort. Wie immer, wenn es um meine Wohnung geht. Ich habe schon die komplette Küchenecke abgesucht und jetzt ist das Badezimmer dran. Gerade will ich mich auf die Knie niederlassen um an den eingestaubten Schrank unterm Waschbecken zu kommen, da piept es fast schmerzhaft laut in meinem Ohr. Erschrocken fahre ich hoch und knalle mit dem Hinterkopf gegen das Porzellan des Waschbeckens. Schwarze Flecken tanzen vor meinem Blickfeld und fluchend drücke ich auf das HH, welches endlich verstummt, stattdessen höre ich Lloyd: „Joan Foster, Sie haben uns etwas zu
erklären.“ Keine Schokolade und keine Zigarette, jedenfalls hört es sich so an. „Was soll ich zu erklären haben?“, frage ich, meinen Hinterkopf reibend auf dem Badezimmerboden liegend. Ich habe alle Viere von mir gestreckt wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. Gedankenverloren starre ich an die Decke und versuche Lloyds Worte zu verstehen, die Kopfschmerzen machen mir das nicht gerade leicht. „Nagori Jackson erinnert sich nicht an Sie, Joan Foster. Auch kennt er uns nicht, oder Anonym.“ Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht und lasse sie auf meinen Augen
liegen. Ein mulmiges, schleichendes Gefühl der Angst tappt in meinen Gedärmen hin und her, wie ein Panther mit samtweichen Pfoten. Es ist wie ein Hauch einer Ahnung, aber das Gefühl ist da, tief in mir drin. „Hören Sie mir bitte zu, Lloyd. Nagori hat mein Profil geändert. Er ist der Sohn von Masuyo Kiyoshi.“ „Ja, das ist er, aber er kennt Sie nicht.“ „Glauben Sie mir bitte, oder warum soll ich Sie anlügen!“, und warum sollte Nagori sie anlügen. Warum verleugnete er mich. Konnte es wirklich sein, dass Anonym, Noir, mein Profil geändert hatte. Als Provokation. Niemals! Es war Nagori gewesen. Er hatte mich besucht,
mich dazu gebracht alles preiszugeben und im Austausch dafür hatte er mich befreit. Er hatte selbst gesagt, dass er versuchen wolle mich zu beeindrucken. Genauso wie er gesagt hatte, dass er in diesem Fall auf dem Laufenden sein wolle. Warum log er also die anderen Ermittler an. „Er lügt“, sage ich bestimmt. „Und Sie?“ Meine Finger krallen sich am HH zusammen. Es ist, als habe der Panther in meinem Leib die Krallen ausgefahren. „Bitte glauben Sie mir!“ „Warum sollte ich?“ Mir bleibt die Luft weg. Das hatte gesessen und mit einem Mal spüre ich,
wie armselig ich bin, dass ich keinem wichtig bin. Noch nicht ein Mal denen, mit denen ich die letzten Monate zugebracht hatte und das rund um die Uhr. Sie verachten mich genauso wie ich sie. Sie misstrauen mir. Ich schlucke schwer und hole Luft: „Kann ich Ihnen noch irgendwie beweisen, dass ich die Wahrheit sage?“ Stille. Schweigen. Misstrauen. Schon fast denke ich, er hat aufgelegt. Es würde zu Lloyd passen, das Gespräch einfach zu beenden, wenn es für ihn keinen Sinn mehr bringen würde. Aber er hat nicht aufgelegt. Stattdessen höre ich das Knacken von brechender Schokolade und ein Nuscheln: „Kommen
Sie her!“ Erst jetzt legt er auf. Zwei Sekunden später bekomme ich eine Nachricht mit der Adresse. Sie sind in der Altstadt, nicht weit von hier. Ohne noch ein Mal zu zögern stehe ich auf. Mein Hirn fühlt sich komplett verknotet an, von der Anstrengung die Lage zu erfassen, oder besser gesagt, die Gründe für die Lage zu entdecken. Warum verleugnet Nagori mich? Warum will mir Lloyd nicht ein kleines Bisschen Glauben schenken? Warum misstrauen sie mir so sehr? Wütend und mit dem mulmigen Gefühl ihm Bauch schnappe ich meine Autoschlüssel und mache die Tür auf. Ich sprinte die Treppe hinunter, durch
den Hausflur und nach draußen. Mein verbeultes kleines Auto steht schief auf zwei Parkplätzen. Ich hatte es von der Zentrale geholt, als ich mich umziehen sollte. Alles ist wieder wie in jener Nacht, als wir in das Gefängnis eingedrungen waren: die knittrige, weiße Bluse und der blaue Rock, meine ausgetretenen Turnschuhe auf dem Gaspedal und ich am Steuer meines Fahrzeuges. Ohne weitere Gedanken zuzulassen drifte ich ein Mal über den Parkplatz vor dem Miethaus und hinterlasse einen Halbkreis aus Bremsspuren auf dem Asphalt. Der Alte war schon fast verblichen. Jetzt prunkt jedenfalls ein
Neuer in dickem Schwarz darüber, unübersehbar. Ich schieße auf die Straße und rase hinunter in Richtung Altstadt, nur noch Nagori im Kopf, die Straße ist für mich eher surreal. Hupend weichen mir andere Autofahrer aus. Ein ausgestreckter Mittelfinger wird mir hingehalten, ich antworte mit derselben Geste ohne hinzugucken. Ich versuche mir das komplette Gespräch mit ihm in Erinnerung zu rufen. Wort für Wort. Vor allem der Schluss ist wichtig. Was hatte er gesagt? Er wolle mich beeindrucken um den Wall, den ich um mich selbst gebaut hatte, zu erklimmen. Ja, das weiß ich noch. Aber was ist dann passiert? Ich
habe das Gespräch mit einer weiteren Wutattacke beendet, so wie ich fast jedes Gespräch beende. Was hatte ich gesagt? Wie hatte er reagiert? Mit Vollgas rase ich über eine rote Ampel und nehme fast einen Fahrradfahrer mit. Aber nur fast. Ich hatte gesagt, er solle verschwinden. Okay… und er solle alles was ich ihm erzählt habe vergessen. Ich schlucke. Wahrscheinlich sagt er deswegen nichts und tut so als würde er mich nicht kennen. Er hatte ja schließlich auch geantwortet, ich solle mir keine Sorgen machen, er werde mich ab morgen sowieso nicht mehr kennen. Ja, das hatte er gesagt.
Mit quietschenden Reifen halte ich zwei Blocks von der Adresse entfernt in einer gigantischen Parklücke. Trotzdem habe ich dem Vordermann das Nummernschild verbogen und meinem Scheinwerfer einen weiteren Sprung eingebrockt. Egal. Ich springe aus dem Auto und knalle die Tür hinter mir zu. Fast schon denke ich das alte Gefährt würde von dem Rumms auseinanderfallen, aber es hält wacker stand. Sobald ich mir dessen versichert habe, sprinte ich los. Kurz werfe ich noch einen Blick auf die Nachricht, die mir Lloyd geschickt hat und biege ohne zu Zögern ab. Meine Turnschuhe fühlen sich heiß an, wie sie
endlich wieder zum Verfolgen genutzt werden. Die Meter fliegen nur so unter ihnen dahin. Bald bin ich da! Bald kann ich Nagori sagen, dass er nicht mehr lügen soll, es ist nicht weiter schlimm, denn dank ihm bin ich wieder eingestellt. Wie es sich herausstellt, ist die Adresse von einem Schnellbackshop, wie es sie in der City an jeder Ecke gibt. Dort bekommt man billig, irgendetwas zu essen, was auch nur im Entferntesten mit Bäcker zu tun hat. Von außen sieht der Laden weniger gastfreundlich aus, er sieht aus wie jede dieser Buden: Bunte Reklame an den blanken Schaufenstern,
innen sieht man unbequeme Höcker mit fettig glänzendem Polstern. Die Theke streckt sich durch den ganzen Laden und gelangweilte Bürger schieben jeder ein Tablett vor sich her um dem gelangweilten Kassierer ihr auf der langweiligen Arbeit verdientes Geld in die Hand zu drücken. Ein Ort, den ich selbst nicht unbedingt aufgesucht hätte und auch Nagori hätte ich es nicht zugetraut, sich in dieses Loch des Nichts zu begeben. Aber ich kenne ihn nicht, versuche ich mir in Erinnerung zu rufen. Es ist seltsam. Er scheint mich genau zu analysieren zu können, ich ihn aber nicht. Dieser Junge ist viel zu sprunghaft und seine Antworten waren
viel zu vage gewesen. Das einzige, dass ich über seinen Charakter sagen konnte, ist, dass er streng verpeilt ist. Ich stehe vor der immer wieder aufgehenden automatischen Tür und blicke durch das Glas nach drinnen. An einem Stehtisch kann ich Josh und Lloyd erkennen, beide eine Cola vor sich, die Lloyds ist schon ausgetrunken, während Josh sie gar nicht angerührt hat. Er scheint etwas zu beobachten und ich folge seinem Blick. Direkt vorm Fenster sitzt unscheinbar wie eh und je Nagori, blickt mit seinen lebendigen Augen nach draußen, als wolle er jede Kleinigkeit auffangen, welche vor dem Fenster vorbeilaufen könnte. Vor sich hat er
einen ziemlich großen Kaffeebecher stehen und ein belegtes Baguette, welchem er genauso wenig Aufmerksamkeit schenkt, wie mir. Sein Blick ist schon mehrfach über mich hinweggehuscht, ich konnte genau sehen, wie sich nichts in seinen moosgrünen Augen veränderte, als wäre ich für ihn auch einer dieser armen gelangweilten Teufel. Als wäre ich Nichts. Verwirrt runzle ich die Stirn und trete ein. Muffiger Backwarengeruch schlägt mir entgegen und sofort habe ich das Gefühl, meine Klamotten würden an meinen Gliedern kleben wie feuchte Fesseln. Ekelhaft. Ich schaue nach links, wo in der Ecke immer noch Lloyd und
Josh stehen. Beide schauen jetzt mich an. Keiner von beiden macht auch nur die geringste Anstalt mich zu begrüßen. Lloyd nicht, weil es seine Art ist, sich lieber für den Zuckerschock vor Josh zu interessieren und Josh, weil er momentan stinkig ist wie eine einfältige Ehefrau. Ich kann auf stachlige Worte von den beiden bestens verzichten und entscheide so, mich umzudrehen und sofort zu Nagori zu gehen. Wahrscheinlich hatte er mich eben nur nicht erkannt, oder er konnte sich selbst so gut im Griff halten, dass ihm keine Überraschung anzusehen war. Aber irgendwie denke ich nicht, dass er das kann. So kalt wirkte er auf mich nicht.
Als ich mich ihm gegenüber auf den klebrigen Hocker setze, blickt er mich zum ersten Mal direkt an und runzelt leicht die Stirn. Seine Augen huschen kurz nach links, als müsse er nachdenken. Dann murmelt er nur: „Hallo.“ Und beißt in sein Baguette als wäre ich immer noch Luft. Ich nehme einen großen Schluck aus seinem Kaffee Latte, was ihn gar nicht zu interessieren scheint. „Nagori“, beginne ich irgendwie stockend. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, weil vor mir ein Mensch sitzt, aus dem ich nicht schlau werde. Er sieht mich mit runden Augen an und nimmt ebenfalls einen
Schluck Latte ohne sonst irgendwie zu reagieren. Kein verschwörerisches Lächeln, kein Zwinkern oder auch nur ein Hauch Verständnis in seinen Augen. Leer. „hör zu: es geht um mein Alibi. Die denken, dass ich etwas mit Anonym zu schaffen habe und glauben nicht, dass du mich kennst und deswegen mein Profil geändert hast.“ Sein Blick weicht mir vehement aus. Aber ich lege meinen Kopf in die Richtung in die er guckt und erhasche ein kleines bisschen Besorgnis in seinen Augen. „Du musst nur sagen, dass du mich kennst und du es warst der es geändert hat. Nichts weiter. Außerdem wolltest du
doch in die Ermittlungen einsehen und die dort drüben sind die Hauptermittler - Jedenfalls einer von ihnen, der andere ist für nichts zu gebrauchen.“ Er kratzt sich mit der einen Hand am Hinterkopf, sodass die Beanie hin und her rutscht. Seine wuschligen schwarzen Haare hätten dringend mal geschnitten werden müssen. Sie würden ihm in die Augen hängen, wäre da nicht die dicke blaue Brille, mit den quadratischen Fenstergläsern. Hinter dieser Brille liegen seine Augen wie hinter einer Wand und dennoch wirken sie so lebensnah und wach… Und dennoch scheinen sie mich nicht zu erkennen. „Ich hab keine Idee, wer du sein sollst,
sorry.“ Ich schlucke und lecke mir angespannt über die Lippen: „Hör auf zu lügen. Du weißt sehr wohl wer ich bin, oder wer Anonym ist und genauso weißt du auch, wer die beiden dahinten sind.“, ich weise mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Lloyd und Josh, welche unsrem Gespräch ziemlich auffällig lauschen. „Äh… ne.“ Wieder beißt er in das Baguette und dreht sich zu Lloyd und Josh um. Ebenso unauffällig wie diese ihn feindselig fixieren mustert er sie genau, scannt in aller Ruhe ihre Profile und dreht sich wieder zu mir um. „Wie ne?“, frage ich irritiert. Das hier
wächst mir über den Kopf. „Ne, ich kenne dich nicht und die Exzentriker dahinten auch nicht.“ „Musst du aber!“, fahre ich auf. Es fällt mir schwer mich zu beherrschen. Ich bin verwirrt durch und durch. Natürlich lügt er, er war gestern bei mir zu Hause! Aber seine Augen zeigen ehrliches Desinteresse. „Warum denn?“, fragt er und blickt mich direkt an, während er weiter isst. Ich muss erst nach Worten suchen: „Weil… du mir gestern aus der Patsche geholfen hast, als ich ein riesiges Problem hatte. Weil du gesagt hast, dass du hier bist, mutterseelenallein, weil du das mit Anonym herausfinden willst und
weil du uns Handlungsfreiheit garantieren willst.“ „Jetzt weiß ich wenigstens, was ich in dieser Stadt mache“, grummelt er mit vollem Mund und schluckt schwer, während ich ihn entgeistert anstarre. „Sorry, dass ich mich nicht an euch erinnern kann, hab noch nicht nachgeguckt.“ Er greift unterm Tisch in seine Tasche und zieht den zerfledderten Notizblock heraus, welchen er schon gestern auf dem Schoß liegen hatte. er knallt ihn ziemlich unachtsam auf den Tisch und blättert grob bis zur letzten beschriebenen Seite durch. Ich beuge mich vor um zu lesen, was da denn steht, mein Kopf ein einziger Wust aus
Fragen, aber ich kann nicht ein Wort dieser krummen Schrift lesen, welche aussieht wie Vogelspuren. Nagori hingegen folgt den Zeilen ohne Probleme mit den Augen. Ohne sein Lesen zu unterbrechen murmelt er: „Ich hab also deine Suspendierung aufgelöst. Das erklärt so einiges…“ „Das musst du erst nachlesen“, frage ich komplett ungläubig. Ich wusste zwar schon, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat und dass er ziemlich vergesslich ist, aber die Person vergessen, mit der man den kompletten letzten Abend geredet hatte… Nagori antwortet mir mit einem Achselzucken und Nicken gleichzeitig.
Schließlich klappt er das Buch zu und dreht sich wieder zu Lloyd und Josh um. In seinem Blick lese ich kurzen Zweifel, doch dann huscht ein Glänzen durch das Grün so intensiv wie Gift. Er streckt seine schmächtige Hand nach oben und winkt als würden sie hundert Meter weit weg stehen, anstatt am anderen Ende des mickrigen Backshops: „Haaaaallo!“ Sein breites Lächeln mit geschlossenen Lippen erscheint auf seinem Gesicht. Es sieht aus wie das eines zufriedenen Froschs. Ich starre ihn immer noch an, als hätte ich einen Geist gesehen. Dieses mickrige fünfzehnjährige Häufchen Verpeiltheit hatte mich doch ernsthaft gestern gerettet! Und jetzt verdreht es
mir den Kopf wie es keine fünf Stunden Mathe gekonnt hätten. Auch Lloyd und Josh gucken überrascht, der eine mäßig, der andere macht fast tellergroße Augen. Doch dann erheben sie sich und kommen rüber, während alle Kunden des Backshops sie anstarren, genauso wie Nagori, welcher wieder neutral an seinem Kaffee schlürft. Sie setzen sich und Nagori stellt seinen Becher wieder ab. „Hallo, ich bin Nagori Kiyoshi - Jackson ist nur, damit mich nicht jeder Depp erkennt. Und ja es stimmt, dass ich Joans Profil ein bisschen aufgemotzt habe, aber ich denke, das liegt in euer aller Interesse, daher kann das doch hoffentlich unter
uns bleiben, okay?“, sein Engelslächeln und das Kratzen am Hinterkopf. Er sieht aus wie das bravste Kind, das man sich vorstellen kann. „Warum nicht sofort gesagt?“, nuschelt Lloyd, seine schiefergrauen Augen fixieren mit diesem trägen Ausdruck jede kleinste Bewegung Nagoris. Hinter dieser Trägheit verbirgt sich jedoch ein todbringender Verstand. Ich spüre wie ich mich anspanne, Nagori hingegen bleibt total natürlich: „Ich bin so vergesslich, dass wurde mir sogar schon diagnostiziert, also kann ich nur sagen; tut mir leid, dass passiert mir öfters.“ „Diagnostiziert?“, fragt Lloyd. Nagori greift sich in die hintere
Hosentasche und zieht einen ziemlich mitgenommenen eingeschweißten Ausweis heraus. Auf ihm ist ein Foto von ihm zu sehen, ungefähr im Alter von zehn. Soweit es möglich ist, sehen seine Haare noch zerzauster aus, außerdem blicken seine moosgrünen Augen nach links, wie es seine Angewohnheit ist, wenn er einen nicht ansehen will. In dicken Lettern steht dort: Nagori Kiyoshi Anterograde Amnesie Darunter stehen noch eine Telefonnummer und die Adresse einer Nervenklinik. Mir wird schlecht und heiß zugleich. Ich kann nicht anders als Nagoris moosgrüne Augen anzusehen,
welche hinter der dicken Brille und den zerzausten Haaren fast verschwinden. „Mein Hippocampus, der Teil der die Erinnerungen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis weiterleitet, ist ziemlich defekt. Deswegen kann ich mich an so ziemlich gar nichts erinnern, was gestern passiert ist.“ „Wie“, fragt Lloyd sobald Nagori den Mund zu gemacht hat. „weißt du, dass du unter Amnesie leidest?“ „Nun ja, das ist von Jahr zu Jahr schlimmer geworden, daher kann ich mich noch an ein paar Dinge erinnern, die Jahre zurückliegen, aber danach ist wirklich alles futsch. Außerdem verschwindet zwar die Erinnerung, aber
der Lerneffekt ist immer noch da. So kann ich Schachspielen, hab aber keinen Plan, wer mir das beigebracht hat.“ „Das ist fadenscheinig“, nuschelt er. Josh neben ihm nickt: „Du kennst uns nicht, hast vielleicht mal unsre Namen in den Blick notiert und dennoch erzählst du uns das und bist hier um wildfremden Menschen zu helfen. So blind vertraut doch niemand jemandem, den er nicht kennt.“ Mein Kopf fliegt rüber zu Josh, welcher die Arme auf den Tisch gestützt hat. Er hatte jemand so blind vertraut und jetzt tut er so, als hätte ich weiß Gott was getan. Mir wird das echt zu bunt, auch wenn er Recht hat. Doch bevor ich irgendetwas sagen
kann meint Nagori mit seinem Engelslächeln eiskalt: „Ich vertraue ausnahmslos Menschen, die ich nicht kenne. Ich kenne meinen Vater genauso wenig wie euch, auch wenn ich mal vermute, dass ich eigentlich bei ihm wohne. Ohne das Profiling wüsste ich gar nicht, wer mein Vater ist und dass der Rest meiner Familie tot ist.“ Ich höre Josh schlucken und sogar mir läuft ein Schauer über den Rücken. Nagori ist eine zweifellos warmherzige Person, aber er hat auch einen Verstand, der kein Pardon kennt und ein Schicksal, dass mich noch mehr verwirrt. Wie kann man so leben, ohne sich jemals an irgendwen zu erinnern? Wie kann man
morgens aufstehen und alles um einen herum ist fremd? So kann man doch gar nicht leben! Doch Lloyd denkt an etwas ganz anderes als wir. Er kennt kein Mitleid. Er kennt nur gefühllose Tatsachen: „Dein Vater hat das System entwickelt, nur damit du dich an ihn erinnern kannst, habe ich Recht?“ „Bingo“, antwortet der Junge matt lächelnd. „Es war nie dazu gedacht, auf die ganze Welt überzugreifen.“ „Und woher weißt du das?“ „Ich kann mich zwar nicht dran erinnern, aber ich weiß es, weil es zu etwas Gelerntem gehört.“ „Analyse“, sagt Lloyd immer noch
monoton sein Gegenüber anstarrend: „Dein Langzeitgedächtnis funktioniert gar nicht, aber dein Gehirn zieht dennoch die Schlüsse aus Taten und kann sie als Gelernt abstempeln. Praktisch wäre Mathe kein Problem und Geschichte jeden Tag neu für dich. Richtig? Dein Vater entwickelte das System um dein Gedächtnis zu ersetzen und dieses ist durch Anonym in Gefahr. Daher willst du uns helfen und Anonym fassen. Richtig?“ Nagori hebt die Schultern und kratzt sich am Hinterkopf. „Wahrscheinlich stimmt ´s. Aber irgendwie brennt in mir ein ungeheures Interesse, wobei ich nicht
sagen kann, warum.“ „Das heißt, dass wir nun eine eingeschränkte Handlungsfreiheit besitzen“, schlussfolgert Josh. „Und dass Mrs. Fosters Alibi von einem Amnesiepatienten stammt. Fadenscheinig also“, nuschelt Lloyd und seine grauen Augen huschen kurz zu mir. „Und es heißt“, erwidere ich mit fester Stimme und einem ziemlich beunruhigenden Gefühl in der Magengegend „dass Nagori bei uns mitarbeiten kann, er kann sowieso nichts preisgeben, da er alles wieder vergisst.“ Er sieht mich an und ein breites Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. In seinen
Augen leuchtet es wie Gift. Und irgendwie wird mir warm ums Herz. Ja, Nagori ist glaube ich der erste Mensch, den ich sympathisch finde. Ein fünfzehnjähriger Junge mit Vergesslichkeit diagnostiziert und einem einnehmenden Lächeln. Ich seufze schwer und frage mich, wie es jetzt weitergehen wird. Ich bin zuversichtlich, aber in wie weit kann uns jemand helfen, der noch nicht mal weiß, wie er heißt?