In dieser Nacht wandelten sich die Gejagten, ihre Augen leuchteten, quollen blutrünstig hervor, der Mund hechelweit geöffnet, triefende Sabberspuren, die ihnen die Hälse herunterlief.
Ich beobachtete sie von meinem Fenster aus, mein Kopf versteckt unter einer dicken Wolldecke und nur meine Augen hinter den dicken Brillengläsern lugten gerade so über das kühle Fensterbrett.
Die Gejagten huschten mit ihren spindeldürren Körpern über die Straße, beschienen von der blauen Neonschrift einer heruntergekommenen Pizzeria, die schon lange anstatt italienischer Köstlichkeiten Gras in kleinen Plastikbeuteln verkaufte.
Es nieselte leicht, ich sah die feinen Regenfäden im Schein der einzigen Straßenlaterne, diagonal vor meiner Wohnung. Eine der Gejagten war nackt bis auf einen zu große Büstenhalter, der einen tiefen Blick auf
die knochige Brust freigab; sie tanzte in ekstasischen Zuckungen, die Arme über dem Kopf verschränkt, den Blick zu Boden gesenkt. Ihr Becken wackelte vor und zurück, seitwärts und ich sah Gänsehautnoppen überall auf ihrem Körper. Es waren mindestens zehn Gejagte, alle ausgezehrt und klebrigfeucht von Regen und Speichel, alle mager, aber so voller vibrierendem Hass, alle auf Rache aus. Ich wusste, dass heute die richtige Nacht für sie gekommen war.
Seit gut einem Jahr beobachtete ich nun schon die Frauen. Meine Wohnung liegt in einem der verfallensten, bitterlich ärmsten Vierteln der Stadt, dort wo die Hausfassaden mit Graffitiflüchen, Kot und Straßenstaub beschmutzt sind, wo die Leute, denen noch etwas an ihrem Leben liegt, nur bei hellstem Sonnenschein vor die Türe gehen. Und dann meist auch nur in einen der Discounterläden,
die zwar eigentlich überall gleich aussehen, aber in meinem Viertel staubiger, ranziger sind, die Neonröhren flackernder, die Joghurtbecher alle seit Tagen abgelaufen.
Im Allgemeinen kümmert sich hier niemand um die Armut und den Verfall. Die Leute schlurfen resigniert durch die Gassen, reagieren nicht auf Fahrradklingeln und verrotten auf ihren speckigen Ledersofas. Hier gibt es kein einziges Fleckchen Gras, nur ausgedörrte, knorrige Bäume, die Stämme von eingeritzten Namen vernarbt.
Ich gestehe Ihnen jedoch, dass ich hier sehr gerne wohne. Niemand hat je verstanden, warum ich immer in der Nähe des Elends seien wollte. Früher war meine häufigste Antwort "Na, um Hilfsbereitschaft zu zeigen, sozial zu sein und all das." Aber der wahre Grund ist, dass ich ein sensationsgeiles Arschloch bin, ein Typ, der sich hinter seiner Nickelbrille versteckt, unter der Decke schwitzt, einfach um
einen gierigen Blick auf Geschehnisse werfen zu können. Ich verzehre mich nach dieser Spannung, der Angst, der verlotterten Kraftlosigkeit eines Beraubten, des gehetzten Schrittes eines Diebes oder Mörders und dabei sitze ich in meiner Wohnung im zweiten Stock, starre durch die getrockneten Regentropfen auf der Fensterscheibe und bin einfach froh, dass es mir nicht so ergeht.
Das ist es. Ich bin eingentlich einer von euch. Ein stinknormaler Mensch, der in seinem eigenen gutgeschützten Heim sitzt und freudig quietscht, wenn es draußen gewittert, aber er drinnen im Warmen bei einem beißendsüßen Drink sitzen kann, das Grollen belauschen.
Diese Sensationsgeilheit, die Lüsternheit nach Dingen, die nicht mich betreffen, die ich jedoch beobachte und verfolge, wie einen Actionfilm mit verwirrend schnellen Bilderfolgen, diese Geilheit hat mich hierher gebracht. In ein Viertel das nur nachts erblüht,
in den finsteresten Farben des Lebens, den Schattierungen des Todes und des fauligen Atems vom Abschaum der Welt.
Grundsätzlich habe ich nichts gegen Frauen, aber ich verstehe sie nicht. Als ich zum ersten Mal beobachtete, wie eine Gruppe dünner Frauen in kniehohen Lackstiefeletten durch die Tür gegenüber von meiner Wohnung verschwand, war mein erster Gedanke: "Das sind waschechte Prostituierte, ein Klischeebild von billigem Modeschmuck und falschen Pelzmänteln."
Und erst Tage später kamen die Frauen -drei Stück waren es am Anfang und ich bemerke gerade, wie treffend der Begriff Stück ist, denn genauso wurden sie behandelt- aus dem Haus heraus. (Im Übrigen ein besonders ekliges Steingebäude, mit pissedurchtränkten Ecken und verrammelten
Türen und Fenstern) Ihr Erscheinungsbild war
getrübt, verblasst, das Makeup in Schlieren verwischt. Sie sahen todeserschöpft aus, blinzelten verkrampft in die Sonne. Ich bin ehrlich zu Ihnen, ich habe mir nicht gedacht "Ich muss die Polizei anrufen und Hilfe holen!"; nie hat mich Panik gepackt, wenn ich die Frauen in Gruppen zu Tür reingehen sah und sie wenige Tage später gebrochen herausgewankt waren. Zerstört.
Abwarten war meine Devise. Ich ließ mich auf dem Elend dieser Frauen nieder, wie eine fette Hummel auf einem mickirgen Blütenhaupt. Etwas Größeres, Dramatischeres würde geschehen und ich würde dabei sein. Aber irgendwann, nach ein paar Monaten, knickte diese Blume ein- nicht unter meinem Gewicht, aber unter einer Last, die in dem Haus herrschte.
Eines nachts, es war eine klebrige Sommernacht, Mücken und Fliegen surrten träge
gegen meine Fensterscheibe, die Hitze floss noch immer zäh wie Kerzenwachs durch den Raum, eines nachts sah ich das Grauen. Ich wischte mir unaufhörlich, gespanntnervös über den Schweißfilm auf meiner Oberlippe und starrte nach draußen auf die Straße. Es waren nun schon einige Tage vergangen, seit vier Frauen das Drecksloch, die Katakombe betreten hatten und ich wartete in meiner voyeurischen Haltung auf ihre Entlassung aus der Hölle. Als die Erste von ihnen heraustorkelte ahnte ich noch nicht, welch grausame Szene sich gleich vor mir abspielen würde.
Ganz deutlich sah ich den fetten Armwulst, der sich aus dem Türspalt schob, dunkle Behaarung und grapschende Wurstfinger. Erst als ich ein paar mal ungläubig meine Augen zusammengekniffen hatte, und genau in dem Moment, in dem die Hand die geflüchtete Frau um die Taille packte, wurde mir klar, wie riesig der Arm und die Hand waren. In einer
monströsen Geste drückten die Finger sich um die Frau, umfassten ihre komplette Mitte mit einem Griff. Der Handteller allein hatte den Durchmesser eines Klodeckels.
Mit angehaltenem Atem beobachtete ich das angstverzerrte Gesicht des Mädchens, ihre stierenden Augen auf die dunkle Gasse, in die sie hatte flüchten wollen, ihre strampelnden Knochenbeine, als das Monstrum sie hochhob und wieder durch die Tür zog.
Ihr blondzerzauster Schopf stieß dabei dumpf gegen den Türrahmen, aber viel lauter hallten ihre Schreie nach.
Von da an packte mich eine Mischung aus Neugier und verkrampfter Angst. Wer -oder besser was- wohnte mir gegenüber? Was spielte sich dort drüben genau ab und warum kamen und gingen die Frauen? Wussten sie nichts von der Gefahr und dem Monster im Inneren des Hauses? War es ihnen egal und sie
waren auf Geld angewiesen?
Ich blieb nach dieser Nacht noch fünf weitere Tage beinahe bewegungslos am Fenster sitzen, ohne zu essen, zu trinken. Nur einmal ging ich in mein schimmelbefallenes Bad und würgte zittrig schleimige Galle ins Waschbecken.
Aber keine der vier Frauen kam je wieder aus der Hölle.
Als der Sommer sich dem Ende neigte, musste ich eines nachmittags meinen Konservendosenvorrat erneuern und nachdem ich einkaufen war, zog es mich rein intuitiv in eine kleine Bar. Im Inneren roch es nach abgestandenem Zigarettenrauch, billiges Raumdeo versuchte dies zitronig zu überdecken, was eine eklige Mischung ergab, die mich komischerweise an die Schulklos meiner Collegezeit erinnerte. Ich setzte mich an die zerkratzte Bar, ließ unauffällig meinen schwerlidrigen Blick durch den dunklen Raum
schweifen. In einer Ecke links neben den Klotüren sah ich ein junges Mädchen mit kirschroten Haaren, die unordentlich zu zwei Zöpfen geflochten waren. Ihr müdes Gesicht wirkte nicht mehr jugendlich sondern schlaff und fahl und dunkellila Augenringe zeugten von Schlaflosigkeit. Sofort war ich mir sicher, dass sie eine von ihnen war. Eine Geschändete, Vergewaltigte und Gebrochene.
Ich hatte sie vor Wochen aus der Türe des Riesens gehen sehen, ihre kirschroten Haare wie eine flackernde Flamme im nächtlichen Wind.
Als der Barkeeper (fetter Wanst, getrocknete, salzighelle Schweißfleckenränder, ein aufgedunsenes Gesicht und kahlgeschoren) meine Bestellung aufnahm, winkte ich in die Richtung des Mädchens und bestellte einen Scotch für sie. Der Dicke nickte und watschelte mit müden Plattfüßen, um die Drinks einzugießen. Aus den Augenwinkeln, an dem
Rahmen meiner Brille vorbei, fixierte ich die Rothaarige, sah wie ihr der Drink gebracht wurde und der Dicke mit dem Kopf zu mir hinwies. Ich setzte mein freundlich, bedachtes Lächeln auf, formte mein Gesicht zu einer perfekten Maske aus Nächstenliebe.
Sie starrte mich an, mit milchiggrauen Augen, und es war wie eine Erlaubnis, ich durfte zu ihr, in ihre geschützte dunkle Ecke.
Was ich bisher aus meinem Leben gelernt hatte, war, dass Überraschungen den Menschen verletzlich machen und ihn dort erreichen, wo er am schwächsten ist. Du spannst deinen Pfeil, lässt ihn zischend los und er trifft direkt in den Knotenpunkt der Seele, krümmt deinen Gegenüber und lässt ihn in erschrockenstockenden Worten reden.
Die Frau war wie ein Fisch, mit feuchtglasigen Augen und schnappendem, schmallippigen Mund, biss sie sofort an und ich zog ihren mageren Körper mit einem Zug aus dem trüben
Wasser ihrer Gedankensuppe.
„Sie haben mir einen Drink ausgegeben.“ Ihre Stimme klang knarzig, knautschig, lange nicht mehr benutzt und doch so jung, noch nicht ausgereift. Ich setzte mich ihr gegenüber, die Hände auf den Tisch -Ich will dir nichts böses, ich habe keine Waffen bei mir.
„Ich habe Sie gesehen. Es ist erst einige Wochen her. Die Pizzeria Emilio? Das Steinhaus daneben?“
Ihr Kopf zuckte kaum merklich zurück, die Augen aufgerissen, ihre Hände griffen zittrig nach dem Drink.
„Ich habe Sie gesehen, wie sie in das Haus hinein gegangen sind und ich will wissen, was dort drinnen geschieht.“ Mit einer unerwartet groben Geste packte ich ihren bleistiftdünnen Arm und zog das Shirt zurück. Treffer. Dunkelgrünblaugelbe Flecken wie ein Blumenkranz um ihr Handgelenk. „Wer oder Was hat Ihnen das angetan? Ich bin hier, um
Ihnen und den anderen Frauen zu helfen, verstehen Sie?“ Was für eine Lüge. Ich wollte es rein aus selbstloser Neugier wissen.
„I-ich kann das nicht. Darf nicht darüber reden. Es hat es uns verboten. Oh Gott ogottogott.“
Ich spürte den aufmerksamen Blick des Dicken in meinem Nacken und ließ das Handgelenk der Rothaarigen los. „Reden Sie.“
Und ihre Augen blinzelten kein einziges Mal, während sie mit stierender Konzentration auf die Tischplatte sah und erzählte.
In dem Steingebäude, der Katakombe, wie ich sie noch immer nannte, lebte ein Wesen, was kein bisschen mehr der Spezies Homo Sapiens zugeordent werden konnte.
Sie beschrieb es als einen riesenhaften Fleischklumpen, groß wie ein Auto, mit gespannter Haut über dem fetten Bauch. Extremitäten behaart, nur der Wanst und das Gesicht nackt und rosaglänzend.
In meinem Kopf formte sich das Bild eines
Babys, ein pudriggemästetes Säugling, mit grotesk bepelzten Armen und Beinen, einem aufgedunsenen Polsterbackengesicht und herausquellenden, gierigen Augen.
"Was hat es mit Ihnen gemacht?"
"Wir... wir mussten es einölen." Das Wort kam aus ihrem Mund wie ein zittriger Würgereiz. Sie trank, die Schlucke hüpften ihren Hals hinunter, jeder Wirbel stach dabei hervor, wie eine Perlenkette. „Ich war nur einmal dort, mir war das einfach zu krass, aber manche Mädchen kamen öfter und sie erzählten, dass sie dieses Wesen pflegen mussten, es mit breiigen Futter fütterten und wuschen. Manche fanden es nicht schlimm -für das Geld taten sie grundsätzlich weitaus mehr. Aber ich war nach den zwei oder drei Tagen, die ich in diesem Haus war, so fertig, dass ich mir schwor, dort nie wieder hinzugehen. Dort drinnen“, sie senkte die Stimme zu einem erschöpften Seuftzen. „Dort drinnen gibt es keine frische
Luft. Es riecht obszön nach angebrannter Milch und Lavendelölen, aber in einer so eindringlichen Mischung, dass man es schmecken kann. Und die Luft ist dick und schwer vom Schweiß dieses Wesens, ganz eklig süß. Und man bekommt so Kopfweh davon. Man wird krank. Und ja ich war nur zwei, drei Tage in diesem Loch.“
Ihre Worte wurden kräftiger, mutiger sprach sie die Wahrheit aus -ich spürte ihre unterdrückte Wut. Begraben unter der Last des Schweigens hatte sich eine hitzige Aggression in ihr aufgestaut, und sie musste raus. Nicht nur mit Worten, sondern Taten mussten folgen.
Wir tranken unsere Drinks schweigend aus, ich verabschiedete mich und ging -mit auf den Asphalt gerichteten Blick und tief in die Hosentaschen vegrabenen Fäusten- nach Hause. Es dämmerte, Zeit in die sichere Wohnung zu flüchten, weg von dem brutalen Wahnsinn der Nacht. Mein Hut schützte mich schon jetzt vor
schmierig-gierigen Blicken der zwielichtigen Diebe, die mit schmutzigen Fingernägeln an meinem Geld zupfen wollten. Auf einer der wenigen Brücken, direkt neben einer erloschenen, ausgebrannten Straßenlaterne, blieb ich kurz stehen, starrte in die schlammig- vermüllte Brühe des Flusses, auf den verbogenen Fahrradreifen, der an die Böschung getrieben worden war.
Diese Stadt, dieses Viertel war so hässlich. Die Brut einer Wirtschaftskrise und der stillen Resignation der Menschen. Sie gaben noch auf, bevor sie versuchten dem Elend zu entkommen. Mit schnellen Schritten ging ich weiter.
Ich weiß nicht, ob es vielleicht sogar die Rothaarige war, die die Mädchen anschürte, ihre Wut und auf das fette Ungeheuer bündelte. Unser kurzes Gespräch war der Funken, es entzündete sich eine Flamme und
mit ihr wuchs der Durst nach Rache. Fast kann einem das Wesen leidtun, wenn man bedenkt, dass es nur von schönen Frauen gepflegt werden wollte, wie jeder einfach gestrickte Mann auch. Aber sein absonderliches Aussehen und die Unberechtenbarkeit, die daraus hervorging, machte es zu einer ekligen Gefahr, provozierte Wut und Ängste. Ich vermute, dass dabei auch die allgemeine Enttäuschung der Frauen mitwirkte, sie wurden täglich von Armut, assozialen Verhältnissen und Hunger aufgefressen und dieses Wesen, was ihnen zwar Geld bot, aber sie wie Abschaum behandelte, angrapschte und zwang, verkörperte insgeheim ihre schleimigtriefende Machtlosigkeit. Das Riesenwesen war genauso auf die Frauen angewiesen, wie sie auf sein Geld.
Während ich heute hinunter auf die Straße blicke, verflechten sich Zweifel in meine
Gedanken: Das, was ich hier tue, dieses Beobachten, ist auch eine Form von Ausnutzung, ich beklaue den Menschen ihre Intimsphäre und werde unweigerlich Teil von ihr. Ich bin genauso ein fettes, schwitzendes Wesen, versteckt unter einer kratzenden Decke und hinter dicken Brillengläsern.
Aber nun der letzte Akt der Geschichte. Hier war nun also die gebündelte Flammenwut, hier brannte sie schwarze Löcher in die Nacht, in die Seelen der Frauen. In dieser Nacht wandelten sich die Gejagten in Jäger. Sie ergriffen die Macht, schöpften aus ihren ausgezehrten Körpern das letzte bisschen Kraft und Energie. Ich weiß nicht warum, aber der Begriff "Gejagte" passte so gut: Gejagte von dem alltäglichen Albtraum des Lebens, Gejagte, hin- und hergerissen zwischen Niederknien und sich für Geld opfern oder sich aufbäumen gegen den Druck. Gejagte, die auf ihrer Flucht so viele Abzweigungen hätten
nehmen können. Die letztendlich den Weg der Rache einschlugen und dadurch zu Jägern wurden. Vielleicht brandeten Drogenwellen in ihrem hohlen Inneren, vielleicht hatte aber auch der Wahnsinn der Situation sie zu diesen aufgescheuchten Irren gemacht.
Aus der Gasse links vom Steinhaus des Riesen kam schreiend wie quietschende Reifen auf nassem Asphalt die Rothaarige, das grelle Kirschrot als einzige Farbe in dem Grau der regenübertünchten Nacht. Mit hetzenden Wortlauten scheuchten sich die Frauen zusammen, kurz wurde es ganz still, dann knisterten ihre Sätze wieder in dem Straßenschacht und sie bewegten sich wie ein Schwarm zittriger Silberfische zu der Tür des Steinhauses.
Ich sah die Frauen nie wieder.
Wäre ich nicht so fett und faul geworden und hätte ich mir nicht geschworen, mich nicht mehr
in fremde Angelegenheiten einzumischen, dann hätte mich der Neugierdrang unvorsichtig in die Höhle des Riesen gesogen, hinein zu dem menschlichen Abgrund, den unmenschlichen Geschehnissen. Der hilflosen Gewalt eines Riesen.
Mir fehlt die aufgeplusterte, aufkeimende Natur, mir fehlt das saftigsatte Grün und die stacheligen Grashalme von weiten Wiesenteppichen. Mir fehlt die keimfreie, staublose Lunge, mir fehlt das unbeschwerte Einatmen, der Geruch der wässrigen Frische nach einem Regenschauer über wogenden Maisfeldern. Mir fehlt das Vogelgezwitscher und das dumpfe, tiefe Grollen von Gewitterstürmen. Mir fehlen die Jahreszeiten, der Wechsel der Farben, rotorangegelbgrüne Baumkronen. Mir fehlen spiegelglatte Seeoberflächen im Winter und die rauen Knoten von Rinden. Mir fehlt der natürliche Schmutz und Dreck der Natur und ich ersticke
in meiner Wohnung.
Mein Bauch wächst jeden Tag, während ich auf ihm meine Styroporteller mit fettiger Fastfood- Substanz abstelle und aus dem staubigen Fenster sehe. Das einst so locker sitzende Brillengestell wird nun von meinen fetten, aufgedunsenen Backen nach oben und hinein in die Augenhöhlen gedrückt. Bin ich ein Querulant? Mir kann man es einfach nicht recht machen und meine täglich gemurmelten Beschwerden und Schimpfgesänge bringe ich zum schweigen, indem ich mir mein Maul vollstopfe.
Ich wachse jeden Tag. Nicht nur in die Breite, nein, auch meine Knochen schieben sich in wehklagend-dumpfen Ziehen auseinander, alles wird größer und größer.
Unter jedem meiner Atemzüge knarzt der Boden. Jeder Telefonanruf, um mir Futter zu bestellen, wird mühsamer. Meine Lunge rasselt nach jedem Satz.
Ich glaube ich brauche Hilfe.
Jemand der mich einölt und meine schwieligen Füße massiert.
Nur ein kleiner Scherz.