ANNELIESES AUSFLUG IN DIE ZUKUNFT
Anneliese hat gerade ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Ihre Freundinnen waren gekommen und hatten Geschenke mitgebracht. Sie hatten gemeinsam gespielt, hatten Kuchen und Torte gegessen und Kakao getrunken. Jetzt freute sich Anneliese schon, endlich allein zu sein und einen Blick in die Bücher zu werfen. Von den Eltern und Tante Erika hatte sie sich wieder jede Menge Lesestoff gewünscht. Lesen war ihre Lieblingsbeschäftigung. Das war viel interessanter als „Blinde Kuh“ und derlei Gesellschaftsspiele. Ritter- und Heldensagen liebte sie besonders.
Aber noch aufregender war der Blick in die Zukunft. Das war überhaupt das Aufregendendste. Und es war ihr Geheimnis. Ihres und das der alten Frau, die am Stadtrand wohnte.
„Darf ich noch fort gehen?“, fragte Anneliese. „Ich möchte der alten Frau gerne ein Stück Torte bringen.“
„Ja, ja, geh nur, mein Schatz.“
Mama wusste, wie gerne ihre Tochter diese Frau besuchte.
Anneliese versuchte, ihre widerspenstigen Haare mit einem roten Band zu bändigen. Aber es half nichts, rein gar nichts. Denn sie standen eigenwillig und steif wie Borsten nach allen Seiten.
Dann griff sie nach einer Jeansjacke und warf sie über ihre knochigen Schultern – Anneliese war nämlich dünn wie eine Bohnenstange und auch fast so lang. Also, nicht ganz so dünn, aber lang und dünn war sie schon.
Und es war auch nicht die Torte, die sie unbedingt noch bringen wollte, es war ihr Geheimnis, das sie nach diesem langweiligen Nachmittag mit den Freundinnen lockte.
„Oma!“, rief sie – und auch das war ein Geheimnis – sie durfte die alte Frau „Oma“ nennen, doch sie hatte es noch niemandem erzählt.
„Oma!“, rief sie also, als sie in die dunkle Stube gestürmt kam. „Oma, ich habe Geburtstag und bringe dir ein Stück Torte!“
„So, so, du hast Geburtstag. Was wünscht du dir denn von mir?“
„Dass du in deine Kristallkugel schaust und mir erzählst, was du in der Zukunft alles siehst.“
Die alte Frau lächelte und trat an den Glasschrank. Auf einem roten Samtkissen lag die geheimnisvolle Kugel, die sie nun vorsichtig heraus nahm. Behutsam, fast zärtlich fuhr sie mit den Fingern darüber.
„Na also“, sagte sie, „so wollen wir halt schauen, was sie uns erzählt.“
Sie hielt die funkelnde Kristallkugel mit beiden Händen umfangen, während sich ihr Blick in sie hinein zu bohren schien.
„Annelie“, sagte sie – sie sagte nicht „Anneliese“, sondern immer „Annelie“.
„Annelie, ich weiß nicht, ob dir gefällt, was ich da sehe – das sieht ziemlich trostlos aus.“
„Erzähle, Oma, bitte, erzähle!“
„In vielen, vielen hundert Jahren wird unsere gute, alte Erde ganz anders aussehen. Der Klimawandel schreitet voran, es wird immer wärmer werden. Naturkatastrophen häufen sich und unser Planet hat nicht mehr die Kraft, sich zu regenerieren. Alles verdorrt. Ich sehe überall nur Wüste.“
„Auch bei uns? Auch wo dein und unser Haus stehen, wo unsere Stadt ist und der schöne große Wald hinter deinem Haus?“
„Ja, auch da. Nur Wüste und am Himmel eine sengend heiße Sonne, die alles verbrennt.
Ja, und riesige Metallschüsseln, Sonnenkollektoren. Auch viele Antennen sehe ich, und Röhren, die aus der Erde heraus ragen. Dazwischen ein paar verhungerte Kakteen.“
Anneliese beugte sich über Oma und starrte in die Kugel.
Stimmt. Da war nur Wasser, viel Wasser, und sonst nur Wüste. Schrecklich!
Wo waren die Menschen? Wo gab es Städte?
Als Anneliese so gebannt in die Kugel starrte, fühlte sie sich in sie hineingezogen. Eine geheimnisvolle Energie zog sie immer tiefer hinein – und plötzlich fand sie sich in der Wüste unter einer riesigen Metallschüssel, in der sich die Sonne tausendfach spiegelte.
Ein junger Mann entstieg einer Luke aus diesen geheimnisvollen Rohren im Wüstenboden und sah das Mädchen freundlich an. „Hallo!“, sagte er. „Du musst dich nicht fürchten.“ Der Mann konnte nämlich Gedanken lesen und wusste, wie unheimlich Anneliese zumute war.
„Du wolltest in die Zukunft schauen – nun bist du da. Herzlich willkommen! Meine Tochter hat mich gebeten, dich hier abzuholen.“
Er nahm sie bei der Hand, öffnete wiederum die Luke und bestieg mit ihr einen Lift. In Windeseile brachte sie der Fahrstuhl in die Tiefe der Erde hinab.
„Weißt du“, erklärte der Mann dem verdutzten Mädchen, „oben ist es zu heiß. So haben die Menschen ihre Städte entweder auf dem Meeresboden gebaut oder tief unter der Erde – und zwar in mehreren Etagen.“
„Aber wie könnt ihr denn ohne Luft, Wasser und Licht leben?“
„Gut. Das Wasser holen wir uns aus unterirdischen Seen. Luft durch unsere vielen, vielen Schachte und Licht und Wärme von der Sonne. Unsere Sonnenkollektoren liefern uns alle Energie, die wir brauchen.“
Der Lift hielt an und ein Mädchen empfing Anneliese.
„Da bist du ja! Wie ich mich freue! Ich heiße Anifa.“
„Und ich ...“
„Anneliese. Ich weiß. Ich kenne dich ja. Weißt du, wir haben gelernt, in die Vergangenheit und in die Zukunft zu schauen. Unser Überbewusstsein hat alles gespeichert – und wir sind imstande, diese Informationen anzuzapfen. – Aber jetzt zeig ich dir unsere Stadt und bring dich zu Mama.“
Die Stadt gefiel Anneliese nicht. Zwischen Blöcken, alle von gleicher Farbe und Größe, liefen wie auf einem Schachbrett schnurgerade Straßen. Kein einziger Baum, keine einzige Blume, kein noch so kleines Stückchen Wiese.
Roboter wackelten in ruckartigen Bewegungen durch die wie mit dem Lineal gezogenen Straßen.
„Computer und diese Roboter machen alle Arbeit für uns“, erklärte Anifa, „wir müssen sie nur warten und kontrollieren. Sie berechnen, sie bauen, sind für die elektrische Versorgung zuständig und bereiten unsere Nahrung.“
„Eure Nahrung? Was esst ihr denn?“
„Nur künstlich erzeugte Lebensmittel oder wir schlucken einfach ein paar Tabletten.“
„Schrecklich!“, sagte Anneliese und dachte an die großen Wurstsemmeln mit Gurkenscheiben, die sie so gerne aß, und an die rotbackigen Pausenäpfel.
Aber schon stupste Anifa ihren Gast in einen der grauen Blöcke und stellte sie ihrer Mutter vor. Dann führte sie das Mädchen in ihr Zimmer. Anneliese sah sich um – das sollte ein Zimmer sein, ein behaglicher Wohnraum? Sie sah zwei Türen. Die eine, durch die sie gekommen waren, die andere – so erklärte Anifa – führte in einen Kleiderschrank. An der Decke baumelten zwei knallrote Hängematten. Sonst waren da nur Computer. Computer in allen Größen, das ganze Zimmer voll.
Anifa drückte auf einen Schaltknopf, die Matten sanken herunter und die beiden Mädchen nahmen auf den schaukelnden Sitzflächen Platz.
„Wozu brauchst du so viele Computer?“, fragte Anneliese.
„Na, wozu? Zum Lernen, zum Informieren. Jeder ist für was anderes zuständig.
Mit diesem kann ich mit meiner Cousine in Kontakt treten, ihre Familie wohnt in einer Stadt am Meeresboden. Ich war schon mal dort. Ihre Häuser sind bunt und in reicher Formenvielfalt. Manche gleichen großen Muscheln oder Schneckenhäusern, andere sind wie große, gläserne Kugeln, durch die man die Fisvche beobachten kann.
Mit diesem Computer hierbin ich mit einer Weltraumstation verbunden ... und mit dem da gelange ich in die Vergangenheit, wo ich dich aufgespürt habe ...“
"Du hast mich aifgespürt?"
"Ja, ich reise gerne in die Vegangenheit und beobachte die Menschen von damals."
"Von damals? Wie lange ist das denn schon her?“
„Warte mal – na ja, 1200 Jahre. Wir schreiben jetzt 3210.“
Anneliese geriet in Panik. Wenn sie jetzt nicht mehr zurück konnte – ein unvorstellbarer Gedanke!
„Kannst du mich auch wieder in die Vergangenheit zurück schicken?“
„Natürlich! Aber willst du wirklich schon fort?“
„Ja! Ich möchte wieder heim! Ich habe Angst!“
Anifa war zwar ein bisschen traurig, doch sie begleitete, zusammen mit ihrem Vater, Anneliese zum Lift. In Windeseile brachte er die drei nach oben ...
schon saß Anneliese auf dem heißen Wüstensand unter der riesigen Metallschüssel.
„Leb wohl!“, sagte Anifa, „Schade, dass du nicht länger bleiben willst. Vielleicht ein andermal? Ich habe mich über deinen Besuch sehr gefreut. Alles Liebe!“
Anneliese winkte matt, dann fielen ihr die Augen zu.
Als sie sie wieder öffnete, saß sie bei Oma in der engen, dunklen Stube vor der Kristallkugel.
Sie war ein bisschen benommen. „Jetzt muss ich aber heim. Mama wird sich Sorgen machen, weil ich schon so lange fort bin.“,
„Wieso denn, Annelie?“, beruhigte sie Oma, „Du bist ja erst ein paar Minuten bei mir.“
Anneliese konnte es nicht begreifen. Hatte sie geträumt oder war sie wirklich fort gewesen?
Als sie klopfenden Herzens nach Hause lief, beschloss sie, nie, nie mehr in Omas Kristallkugel zu schauen.
Sie fühlte sich in IHRER Welt viel, viel wohler und war glücklich, JETZT zu leben.
Wie schön und wohnlich war es in ihrem Haus und dem Garten mit den vielen Blume Wie bunt und schön war ihre Stadt und wie herrlich der Wald am Stadtrand, gleich hinter dem Haus der alten Frau!
Sie brach am Wegrand ein paar Blumen, roch intensiv daran und brachte sie Mama.
Von der fernen Zukunft wollte Anneliese nichts mehr wissen.
( C ) I. Höttinger