Mit leerem Blick starrte er auf den Stein.
Juliane
05.03.1972 – 26.08.1993
In den letzten Wochen saß er täglich auf der kleinen Bank, den Kopf in die Hände gestützt und starrte auf den Stein.
Keine Bewegung. Keine Emotionen.
Nur stundenlanges Verharren und Starren auf den Stein.
Er strich sich mit der Hand über sein Gesicht, als müsse er sich der Gegenwart bewusst werden.
Ein tiefer Seufzer aus dem Innersten seiner
Seele und ein gemurmeltes „Ach Jane“. Traurig und niedergeschlagen verließ er diesen Ort.
Tag für Tag.
„Ihr habt die junge Frau wohl sehr geliebt?“
Eine schlanke Hand legte sich auf seine Schulter und er zuckte erschrocken zusammen.
Er hatte die Frau nicht kommen gehört und so riss ihre leise melodische Stimme und die sanfte Berührung ihn aus seiner Reglosigkeit.
„Verzeiht. Aber ich wollte Euch nicht erschrecken. Ihr saht so verloren aus, dass ich dachte, Ihr benötigt vielleicht Hilfe, ein offenes Ohr, aufmunternde Worte. ... Ihr gestattet?“
Damit setzte sie sich neben ihn auf die Bank.
Erstaunt schaute er die Frau aus großen Augen an.
Sie war alt. Sehr alt. ... Oder doch nicht?
Er zwinkerte. Schüttelte den Kopf.
Was ... wie ... ?
Schneeweißes Haar war in leichten Wellen nach hinten zu einem Knoten im Nacken gebunden. Ihr Gesicht ... obwohl von vielen kleinen Falten durchzogen, wirkte es doch jung und vital. Es musste wohl an den graugrünen Augen liegen, die ihn so lebenslustig anschauten und ... war da nicht ein kleiner Funken von Schalk zu erkennen? Auch war ihre Haut keinesfalls von der Sonne gebräunt und von den Jahren wettergegerbt, wie so oft bei älteren Menschen zu sehen war.
Sie schien eher edel und zart wie Porzellan. Ihr gesamtes Äußere besaß eine Note von besonderer Eleganz und doch einer unaufdringlichen Schlichtheit. Auffallend ... sie trug feine ecrufarbene Glacéhandschuhe.
Wie alt mochte sie wirklich sein?
„Ich sehe, ich habe Euch überrumpelt. Verzeiht einer alten Frau.“, sprach sie ihn erneut an.
Er wollte gerade etwas erwidern, als die ätherisch schöne Unbekannte weiterredete: „Ihr fragt Euch sicherlich, wer ich bin und was ich von euch möchte. Ach ja ... und ich sehe es in Eurem Gesicht. Ihr würdet zu gern wissen, wie alt ich bin.“
Ein Lächeln umspielte ihren noch immer schönen kirschroten Mund und ihre Augen
versprühen große Lebensfreude.
Ihre Aura schlug ihn in ihren Bann.
„Glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass ich sehr alt bin, schon viel gesehen und erlebt habe, aber das Schicksal mich noch immer auf dieser Erde wandeln lässt und es mir noch nicht vergönnt ist, mein Haupt zur Ruhe zu betten. Ich denke, das Leben hält noch eine weiter Aufgabe für mich breit, bevor es für mich so weit ist. Keiner kann seinem Schicksal entgehen.“
Nach einer Pause fuhr sie fort: „Ich sehe Euch seit Wochen, tagein, tagaus, hier verweilen. Starr sitzt Ihr da und schaut auf diesen Grabstein und dieses einsame Grab. Es ist eine wundervoll gelegene Ruhestätte. Überwuchert von diesem wilden Efeu spricht
sie jedoch von großer Verlassenheit. Keiner, der sich darum bemüht.“
Fragend schaute sie ihn an.
„... Nun mein Freund, wollt Ihr mir Eure und ihre Geschichte nicht erzählen?“
Noch immer schaute er sie nur an, als wäre sie nur eine Erscheinung, ein Traum, eine Einbildung. Er war so fasziniert von dieser Dame, dass er, ohne sich dessen bewusst zu sein, seine Lethargie abschüttelte. Es kam ihm auch nicht in den Sinn, so wie sonst zu hinterfragen, seit wann sich jemand für seine Geschichte, für sein Leben interessierte. Stattdessen wendete er seinen Blick hinüber zum Grabstein und plötzlich rann eine einzelne Träne über seine Wange. Nie hatte er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen.
Erst ganz leise und stockend, dann ... gefangen in Erinnerungen und Schmerz begann er zu erzählen.
„Wir waren jung, unbekümmert und genossen das Leben in vollen Zügen. Wir kannten keine Grenzen, keine Verbote, machten uns keine Gedanken über unser Leben, über unsere Zukunft. Wir nahmen alles, wie es kam. Es flog uns nur so zu. Wir waren voller jugendlichem Übermutes. Wir gegen die Welt. Aber dann ...“
Er hielt kurz inne, als müsse er sich sammeln. Dann erzählte er weiter.
„Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit ihr zu
sagen, dass ich sie liebte. ... einfach so mitten aus dem Leben gerissen. Am Abend waren wir noch gemeinsam auf Piste und am nächsten Tag ... Sie war doch erst einundzwanzig. Das Leben ist so ungerecht.
... an diesem Tag hat das Biest von mir Besitz ergriffen. Es stachelte mich an, jeden Tag so zu leben, als wäre es der Letzte. Ich trieb von einem Exzess in den anderen. Ausschweifungen, Hemmungslosigkeit, Maßlosigkeit und Zügellosigkeit standen auf der Tagesordnung. Ausschreitungen jeglicher Art. Alkohol, Drogen, Bandenkriminalität ...
Bis ich eines Tages in eine Schlägerei geriet, bei der es fast um Leben und Tod ging. Das brachte mich wieder zur Besinnung. Ich fing an, gegen das Biest in mir zu kämpfen. Doch
das verheerende Ausmaß des Schadens, der in den Jahren bereits entstanden war, konnte nicht mehr gut gemacht werden. Ich hatte die dunkle Seite in mir gegen meine Familie, die meisten guten Freunde und eine sichere Zukunft eingetauscht.
Also versuchte ich, mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Weg von den Drogen. Neuer Job. Neue Beziehung. Es gab Höhen und Tiefen, Fortschritte und Rückschläge. Durch den ewigen Kampf war ich emotional nicht mehr gefestigt, nicht mehr ausgeglichen. Ich hatte Stimmungsschwankungen und das machte scheinbar die größte Liebe kaputt. Noch bevor das Biest in mir wieder die Oberhand gewinnen konnte, erkannte ich, was wahre Freundschaft ist. Einige meiner
alten Kumpels, die mich niemals aufgegeben hatten, standen zu mir. Halfen mir, über diese Zeiten hinwegzukommen. Ich setzte mich mit meiner Vergangenheit auseinander und bannte meine gesamte Gefühlswelt auf Papier. ...
Wenn mich das Biest wieder in seine Gewalt bringen wollte, ich schrieb ein Gedicht.
Wenn Depressionen mich in die Knie zwingen wollten, ich schrieb ein Gedicht.
Wenn tiefe Verzweiflung und Trauer über mich kam, ich schrieb ein Gedicht.
Ich schrieb mir alles von meinem schwarzen Herzen. Es war eine gute Zeit. Eine Zeit der Hoffnung, Zuversicht und des Friedens.“
Er schwieg. Er saß da und schwieg.
Gedankenverloren ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen. Er schien sich seiner Zuhörerin nicht mehr bewusst zu sein, bis diese ihn behutsam in die Gegenwart zurückholte.
„Das ist doch aber nicht Euer Grund, weshalb Ihr nach so langer Zeit jeden Tag hierher an ihr Grab kommt? Was ist Euch widerfahren? Wie geht Eure Geschichte weiter?“
Erstaunt schaute er auf die wundersame Frau mit der beinahe hypnotischen Ausstrahlung. Ein Funken des Begreifens und in seinen Augen widerspiegelte sich die Erkenntnis, dass er nicht allein war.
„Meine Geschichte ... wie ging sie weiter ... Warum komme ich hierher ...“.
Es war eher ein Flüstern, fast als spräche er
nur zu sich selbst. Er betrachtete seine Hände, legte sie dann in seinen Schoß und schloss die Augen.
„Mir geht es im Moment nicht so prickelnd, aber nicht vorrangig körperlich, sondern eher seelisch. ... Furchtbar meine Gedanken, ängstlich mein ganzes Empfinden.
Das alles ist so belastend für mich, so unwirklich erschreckend ...
Sicher hab ich auch lichte Momente dazwischen, doch dann, wenn ich alleine bin, denke ich immer wieder über den Tod nach.
Tiefe Traurigkeit ist in mir. ... das schwarze Herz hat Besitz von meiner Seele ergriffen. Mir ist nicht ganz klar, was mir genommen wurde. Doch der Mensch, der ich einmal war,
ist irgendwo gestorben.
Manchmal denke ich darüber nach, wer mich wirklich vermissen würde, wäre ich an
d i e s e m Tag gestorben.
Was wäre gewesen, wenn ich nicht stark erkältet arbeiten gegangen wäre, weil ich Angst hatte, den Job zu verlieren?
Was wäre gewesen, hätte ich mich krank schreiben lassen und wäre zuhause umgekippt?
Wäre ich dann nicht mehr da? Wäre ich dann einfach tot?
Ich denke auch über den Krankenpfleger nach, der über eine halbe Stunde versucht hat, mich wiederzubeleben, obwohl ihm sein Kollege gesagt hat, er solle aufhören, es wäre zu spät. Nach einer halben Stunde
unermüdlicher Wiederbelebungsversuche ... Mein Herz schlug wieder.
Aber warum?
Nur weil ein Anderer übermenschliches geleistet hatte? Was hat ihn dazu veranlasst?
Warum? Warum bin ich nicht gestorben? Was hat das Schicksal veranlasst, mich weiterleben zu lassen?
Das sind Fragen, die mich Tag und Nacht beschäftigen. Die mir einfach keine Ruhe lassen.
Deshalb. Deshalb komme ich jeden Tag hierher. Hierher an ihr Grab.
Sie wurde einfach in so jungen Jahren aus dem Leben gerissen. Sie hatte keine zweite Chance. Sie nicht!
Warum ich? Ich, mit meinem schwarzen
Herzen und dem Biest in mir!“
Mit den letzten Worten, die er herausgeschrien hatte, sprang er auf und fielt vor dem Grab auf die Knie. Sein Körper wurde von heftigen Schluchzen geschüttelt und er ließ seinen lang aufgestauten Tränen freien Lauf.
Er sah sie nicht, spürte aber ihre charismatische Präsenz direkt neben sich.
„Niemand mein Freund, kann seinem Schicksal entfliehen. Niemand.
Keiner weiß, was das Leben für ihn geplant hat.
Schaut, wäret Ihr zum Arzt gegangen ... er hätte Euer schwaches Herz bemerkt.
Ihr wäret niemals gestorben.
Ihr wäret niemals zum Leben erweckt worden.
Ihr wäret niemals hierher gekommen.
Ihr hättet niemals über Euch und Euer Leben nachgedacht.
Aber da es so war, wie es war ... nennt es, wie ihr wollt ... ein Wunder, Mysterium oder Fügung, Vorhersehung.
Stellt Euch erneut die Frage, wer hätte Euch vermisst? Was ist mit Euren Freunden? Den alten und den neuen? Warum öffnet Ihr Euch nicht, nehmt keine Hilfe an, duldet keine Nähe, keine neue Liebe?
Vergeudet Eure Chancen nicht!
Ihr seht ... das Leben hält noch viel für Euch bereit. Keiner kann seinem Schicksal entfliehen.“
Als er sich umdrehte, um der Unbekannten mit dem seltsam beruhigendem Fluidum zu
antworten, war sie nicht mehr da.
Weit Hinten, am Ende des Weges konnte er noch einen schattenhaften Schemen erkennen. Er stand auf und schaute ihm lange nach, bis er verschwunden war.
In seiner Seele machte sich Ruhe und Frieden breit.
„Ja ... irgendwann wird alles besser werden. Irgendwann, wenn ich wieder arbeiten gehen darf und sich in meinem Leben Normalität eingestellt hat. Irgendwann, wenn ich wieder heitere Gedanken haben werde und das Leben so annehme, wie es ist.
Doch bis dahin ist es ein dunkler langer Weg für mich, gepaart mit höchster Unsicherheit. Aber ich werde ihn gehen und besiegen.
Sie hatte recht ... diese liebenswürdige alte Dame, die einfach aus dem Nichts auftauchte.
Wer auch immer sie war. Sie hatte recht. ...
Wer weiß, was das Leben noch für mich bereit hält. Seinem Schicksal kann keiner entfliehen.“
© A.B.Schuetze 06/2015