Das Haus, wo vor wenigen Tagen noch Leya gewohnt hatte, die junge Frau, in die er schon seit einigen Jahren heimlich verliebt gewesen war, und wo er sich einrichten wollte, befand sich am anderen Ende der Stadt. Leya – der Gedanke an sie, mit dem feinen, dunklen Haar, den ebenmäßigen Gesichtszügen und ihrem hinreißenden Lächeln, versetzte ihm mehr als nur einen Stich. Natürlich war sie verlobt gewesen … und jetzt war sie tot. Sen wagte nicht, sich auszumalen, wie sie umgekommen sein mochte – eigentlich konnte er gar nicht wahrhaben, dass sie einfach … weg
sein sollte. Sie war eine der wenigen gewesen, die ihn nicht wie Abschaum behandelt hatten, wie sonst nur sein älterer Bruder, oder die blinde Alte, die am Rand des Dorfes gewohnt und ihm dafür, dass er ihr hin und wieder etwas von der eigenen spärlichen Ernte abgab, Geschichten erzählt hatte: Von den Waldelfen, einem geheimnisvollen Volk, das einst im Isewald gelebt hatte; von der langen Reise der Drachen, die aus dem Osten gekommen waren; von den Magierkönigen, die vor Jahrhunderten das Land beherrscht hatten … Sen hatte stundenlang in ihrer Hütte sitzen und still ihren Erzählungen lauschen können. Diese Fantasien von fremden Völkern
und vergangenen Zeiten hatten ihm immer geholfen, die anderen und ihre Gemeinheiten zu ertragen. Damals, fiel ihm ein – sprach er jetzt schon von einem Leben, dass nur wenige Stunden zurücklag, als wäre es vor Jahren gewesen? Wie auch immer, damals hatte er sich gewünscht, sie wären alle tot – und jetzt … wollte er, sie wären noch am Leben. Jeder einzelne von ihnen war besser als die Goldene Garde oder der Drachenfänger. Als er, in solch düstere Gedanken versunken, Leyas Haus erreichte, sah er in der Ruine den Widerschein eines Feuers und blieb wie angewurzelt stehen. Offenbar war der Drachenfänger
schneller gewesen als er. Er fluchte leise. „Ach, jetzt also doch?“, erklang da hinter ihm die heisere Stimme des Söldners. Sen fuhr herum und wich zurück. Die gelben Augen funkelten, diesmal mit einem beinahe verschmitzten Ausdruck. Bogen und Köcher hatte der Drachenfänger abgelegt, fiel ihm auf, nur das Schwert trug er weiterhin an der Seite. Sen schüttelte hastig den Kopf. Der Söldner lachte auf; leise, entspannt klang es diesmal. Sen runzelte die Stirn. Wurde der Mann unvorsichtig? „Dachte ichs mir doch“, fuhr der Drachenfänger fort. „Sag …“, er lehnte
sich an die Hauswand, „hast du schon einmal einen echten Drachen gesehen?“ Sen starrte ihn völlig perplex an. Ein Drache? Wie kam er jetzt darauf? „Offenbar nicht“, fuhr der Söldner fort, den Blick in die Ferne gerichtet. „Ich dachte nur, wenn ich hier bleibe, auch wenn es nur bis morgen ist, sollte ich dir vielleicht meinen Weggefährten vorstellen. Ke ist sein Name. Und … erschrick nicht, er ist ziemlich groß.“ Wie auf ein Kommando erschien ein Kopf zwischen den Trümmern, mit messingfarbenen Schuppen bedeckt. Drei gelbe Augen, die beunruhigenderweise den gleichen Farbton hatten wie die seines Herrn,
musterten ihn interessiert. Sen stolperte rückwärts. Allein der Kopf des Drachen hatte mindestens die Größe eines kleinen Hauses, die einzelnen Schuppen waren jede größer als Sens Kopf. Ke legte den Kopf schief, holte Atem, in kleinen, heftigen, schnellen Zügen – und spie Feuer. Es waren nur einige wenige, vergleichsweise kleine Flammen, die aus seinen Nüstern schlugen, als der Drache die Luft in einem Stoß wieder entweichen ließ, dennoch machte Sen vor Schreck einen weiteren Satz zurück. „Ach je“, hörte er den Söldner neben sich sagen und wandte den Kopf. Der Drachenfänger hatte den Blick ernst auf seinen Drachen gerichtet. „Ich glaube, er
hat sich wieder erkältet.“ Chaïr lächelte unter ihrer Maske, als sie den entgeisterten Blick des Jungen sah. „Erkältet? Ein Drache?“ „Ich bin mir nicht sicher, ob es das gleiche ist wie das, was wir eine Erkältung nennen; vermutlich ist es eher eine Art Vertrocknung oder Überhitzung“, erklärte sie ihm. „Aber die Symptome sind so, wie sie aussehen würden, wenn ein Drache erkältet wäre, deswegen. Das gerade lässt sich zum Beispiel gut mit einem Niesen vergleichen.“ Der Junge blickte immer noch ungläubig drein. „Wenn … wenn Ihr meint …“,
erwiderte er schließlich unsicher. Auf einmal schien ihm etwas Wichtiges einzufallen; er wurde blass. „Er … er gehorcht Euch doch?“ Chaïr lachte trocken auf. „Wenn nicht, hätte er mich längst aufgefressen.“ Der Junge blickte ehrfürchtig zu Ke auf. „Tun Drachen das denn? Menschen fressen, meine ich?“ Die Drachenfängerin musterte ihn interessiert. Er wäre gar kein schlechter Lehrling – er stellte die richtigen Fragen, schien einen ordentlichen Respekt vor Drachen zu haben … und er wirkte fasziniert. Chaïr, du übertreibst, schalt sie sich. Sie war doch selbst gerade erst neunzehn – da war es noch
viel zu früh, einen anderen auszubilden. Ihr eigener Meister war viel älter gewesen – wie alt genau, das wusste sie nicht, aber auf jeden Fall nicht mehr wirklich jung. „Natürlich tun sie das“, beantwortete sie die Frage des Jungen. „Von irgendwas müssen sie schließlich leben. Seit die Drachen dort leben, haben sich andere Tiere ziemlich aus den Isebergen zurückgezogen. Und seit auch noch jede Menge unvorsichtige Menschen und Elfen dort auftauchen … vergiss es. Genug andere Beute finden die Drachen dort gar nicht mehr. Wobei sie die Menschen und Elfen von Natur aus vermutlich in Ruhe lassen würden, auch
wenn sie die Möglichkeit hätten, sie zu fressen. Aber die Gegebenheiten zwingen sie dazu.“ Der Junge nickte, den Blick weiterhin auf Ke gerichtet. Chaïr musste unter der Maske unwillkürlich lächeln, als sie sah, wie er jede Bewegung des Drachen wachsam verfolgte. Jetzt, wo sie ihn in aller Ruhe von Nahem betrachten konnte, fiel ihr auf, dass er gar nicht so jung war, wie sie zunächst angenommen hatte; fünfzehn mindestens, vermutlich eher älter. Der Irrtum stammte wohl daher, dass er klein war für sein Alter, und auch seine Züge wirkten ungewöhnlich jung. Aber dennoch … Stimme und vor allem sein Blick
verrieten ihn. „Wie lange seid Ihr schon mit ihm unterwegs?“, riss der Junge sie aus seinen Gedanken. Chaïr zögerte kurz, bevor sie antwortete; zu viel wollte sie schließlich nicht preisgeben. „Etwa ein Jahr“, erwiderte sie dann. „Vielleicht länger, vielleicht kürzer; wenn man viel herumreist, verliert man manchmal das Zeitgefühl. Warum?“ Der Junge zuckte die Schultern, das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn. Chaïr musterte ihn erneut aufmerksam. Jetzt hatte er den Blick gesenkt, doch vorhin war ihr aufgefallen, dass er eine seltsame Augenfarbe hatte, eine Art … violett? Sie war sich nicht sicher, es
wäre ungewöhnlich so weit im Süden. Die Kleidung war zerlumpt, und um den linken Arm trug er einen behelfsmäßigen Verband, der sorgfältig den gesamten Unterarm bedeckte – offenbar hatte er sich bei dem Feuer verletzt. Schuhe trug er keine, möglicherweise hatte er sie verloren; wahrscheinlicher war jedoch, dass er, wie viele Arme im warmen Süden Zhiëls, gar keine besaß, weil sie nicht unbedingt notwendig waren. „Wer bist du eigentlich?“, fragte sie schließlich beiläufig in die Stille hinein. Der Junge hob misstrauisch den Blick. Doch, violett, eindeutig. „Warum interessiert Euch
das?“ „Warum nicht?“ Der Junge verschränkte die Arme, seine Miene war finster und abweisend. „Es geht Euch nichts an.“ Chaïr lächelte hart unter der Maske. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber es geht doch eigentlich um etwas vollkommen anderes, oder nicht? Du willst nichts mit mir zu tun haben, das ist das Problem. Du lässt mir nicht einmal eine Chance, dein Vertrauen zu gewinnen. Und warum? Weil ich ein Drachenfänger bin, und alle Drachenfänger sind von Grund auf böse. Ist es nicht so?“ Ihre Stimme war scharf und schneidend geworden, während sie
sprach, und der Junge war erschrocken einen halben Schritt zurückgewichen. Er wagte es nicht, etwas zu erwidern. „Hast du jemals darüber nachgedacht, dass es anders sein könnte? Ob du es glaubst oder nicht, auch ich war einmal ein Kind. Ich war unschuldig. Ja, ich, ein Drachenfänger! Stell dir das vor. Du siehst das, was aus mir geworden ist, und du verabscheust mich; vielleicht hast du damit sogar recht. Aber was dahinter steckt, das weißt du nicht. Du glaubst auch gar nicht, es wissen zu müssen. Nein, ich bin ein Drachenfänger, und das reicht, um mich zu verurteilen. Du hast keine Ahnung. Niemand, der kein Drachenfänger ist, hat
auch nur den Hauch einer Ahnung.“ Der Junge starrte sie aus großen Augen an. Chaïr wusste instinktiv, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Als er nichts entgegnete, wandte sie sich um und ging mit großen Schritten zurück zu dem, was vor kurzem noch ein Haus gewesen war. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Falls du dich entscheiden solltest, meine Hilfe anzunehmen, komm wieder her, ansonsten bleib weg. Ke wird auf dich aufpassen“, sagte sie, wobei sie einen fragenden Blick mit dem Drachen wechselte. Der legte den Kopf schief, verzog dann aber leicht genervt einen Mundwinkel und streckte sich, um den
Jungen vorerst im Auge behalten zu können. Chaïr wandte sich ab. „Danke“, wisperte sie dem großen Drachen zu. Ein großes, gelbes Auge blinzelte sie kaum merklich an, dann erhob sich der Drache und setzte mit einem gewaltigen Flügelschlag über die Mauer hinweg. Chaïr lächelte unter ihrer Maske still vor sich hin, bevor sie fortfuhr, ihre neue Unterkunft zu begutachten und einzurichten. Sen blieb einen Moment lang überrumpelt vor den Überresten des Gebäudes stehen. Das war es, was er gewollt hatte, oder? Der Drachenfänger
würde ihn in Ruhe lassen. Bis auf den Drachen, aber der war ja eigentlich nur ein Tier. Zählte nicht. Warum also hatte er so ein dumpfes Gefühl im Bauch, dass sich, nun ja … beinahe wie schlechtes Gewissen anfühlte? Sen verscheuchte den Gedanken rasch. Er hatte sein Ziel erreicht, nur das zählte. Und was den Drachen betraf – nun, er war sich sicher, dass er auch ihn innerhalb kürzester Zeit loswerden würde. Er ging los. Stunden später – er hatte etliche Haken durch die verbrannten Gassen geschlagen, sich ein paar Mal in inzwischen ungefährlicheren Ruinen versteckt und war einmal sogar zwischen
die dichten Arinasstämme geflüchtet – kreiste Ke immer noch über ihm und behielt ihn im Auge. Sen spähte zum Himmel empor. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Drache sich über ihn lustig machte … in den gelben Augen meinte er das gleiche spöttische Funkeln zu entdecken wie in denen des Söldners. Er seufzte ergeben. Wahrscheinlich sollte er sich einfach einen Platz zum Schlafen suchen, immerhin wurde es bald dunkel. Suchend blickte er sich um, entdeckte aber ringsum nichts als feuergeschwärzte, hohle Ruinen, die im schwindenden Tageslicht zunehmend ungemütlicher wirkten und ganz sicher nicht besonders einladend waren. Sen
biss sich auf die Lippe. Sollte er vielleicht doch besser … ? Zögernd wandte er sich um. Bei Nacht war das leere Dorf doch ziemlich unheimlich – er hatte das Gefühl, die Toten würden sich ruhelos in den Häusern, die nun ihre Gräber waren, umdrehen. Wenn er sich das so bildhaft vorstellte, klang die Gesellschaft des Drachenfängers doch eigentlich gar nicht so unangenehm, vor allem, wenn es dort auch ein Feuer und vielleicht etwas zu Essen für ihn gab … und … wenn der Söldner wirklich so war, wie er sich gab … vielleicht war er doch nicht so übel, wie Sen zunächst angenommen hatte … Sie dienen Èdhoan, manche sind Hexer
und scheuen sich auch vor Menschenopfern nicht. Doch selbst die, die keine Hexer sind, die sich nicht durch die Macht des Isenerzes verführen lassen, sind üble Burschen. Das harte Leben in den Isebergen hat sie kalt und grausam gemacht, dort müssen sie täglich um ihr Leben kämpfen, mit den Drachen, die sie fangen und verkaufen, aber auch gegeneinander. Oh, sie schrecken nicht davor zurück, ihresgleichen zu töten, um an Geld zu kommen – sie schrecken vor gar nichts zurück. Die Worte der alten Frau hallten noch in ihm nach. Wieder hörte er den unheilvollen Klang ihrer Stimme, sah die
alten, blinden Augen blicklos in die Ferne starren, ihren Kopf bedeutungsvoll nicken. Ihre Geschichten haben oft einen wahren Kern, hörte er seinen Bruder sagen. Und dennoch … wo sonst sollte er hin? Hier bleiben, allein? Der Drachenfänger hatte schon Recht gehabt vorhin, im Grunde hatte er keine andere Wahl. Mit einem tiefen Seufzer machte er sich auf den Weg zurück zu Leyas Haus. Jetzt im Dunkeln war das Feuer schon von weitem zu erkennen, als er auf die Ruine zustapfte. Unsicher trat er durch den Durchgang, wo einmal die Haustür gewesen war. Der Drachenfänger saß am Feuer, nicht mehr als ein schwarzer
Schattenriss vor den hell lodernden Flammen. Sen erzitterte unwillkürlich, als ihm der Geruch des über dem Feuer hängenden Bratens in die Nase stieg. „Du bist zurück.“ Die heisere Stimme des Söldners ließ ihn innehalten. Er hatte sich nicht einmal umgewandt – hatte er ihn gehört? Eigentlich hatte er nicht das Gefühl gehabt, besonders laut gewesen zu sein … Sen zögerte noch einen Moment, dann trat er näher. „Setz dich.“ Es war ein Befehl, kein Angebot oder gar eine Bitte. Er wagte es nicht, sich zu widersetzen. Eine Weile herrschte Schweigen, es war ein
seltsamer Gegensatz zum Nachmittag, als der Söldner geradezu redselig gewesen war. Dann …
„Du hast mich belogen.“
abschuetze Es verwirrt mich immer ein wenig, wenn vom Drachenjäger als er/Söldner gesprochen wird, wo es doch ein Mädchen(?) ist. Sen hat es nicht leicht mit seiner Entscheidung ... das Unbekannte, Vorurteile, Gehörtes, Mißtrauen ... kann ich verstehen. ...und dann, was weiß Chair wirklich von Sen? LG von Antje |
Ryvais Die er-Bezeichnungen sind nur in den Passagen, die aus Sens Sicht geschrieben sind - und der weiß nicht, dass Chair eine Frau ist, schließlich trägt sie eine Maske. (Dass er sie für einen Mann hält, ist übrigens auch Chairs Absicht.) Wie Sen sich letztendlich entscheidet, erfährst du dann im nächsten Kapitel ... :) Danke übrigens für die Coins! Lg Ryvais |
abschuetze ich weiß, ich weiß ... ich finde es ja auch okay. Überlege nur immer, wie man als Frau so männlich rüber kommt :)) rein stimmlich zum Beispiel. |