Daniels Schwager war keine 20 Kilometer entfernt damit beschäftigt den Kaufvertrag für sein neues Haus zu unterschreiben. Michael und seine Verlobte Karin hatten sich nach langer Suche für ein kleines aber gemütliches Haus in der Vorstadt entschieden. Sie hatten noch keine Kinder, konnten sich aber vorstellen das bald zu ändern. Das Haus bot genug Möglichkeiten Kinderzimmer einzurichten. Karin träumte von einer ganzen Gruppe, kleiner, weicher, fetter Kinderbacken zum Schmusen und Kuscheln. Michael sah das etwas pragmatischer. Er rechnete
mit zwei Kinderzimmern. Das Haus war schon alt. Angeblich soll es um 1800 errichtet worden sein. Von der alten Bausubstanz war nicht mehr viel übrig. In den vergangenen 200 Jahren sind Anbauten, Umbauten und aufwändige Renovierungsarbeiten vorgenommen worden. Durch das gesamte Haus zog sich Fachwerkarbeit, welche noch original erschien. Auch das Fundament schien in großen Teilen noch original zu sein. Der Keller war nicht aus Beton gegossen, wie es heute üblich ist, sondern mit Backsteinen ausgebaut. Der renovierte und damit deutlich neuere Bereich des Hauses begann im
Erdgeschoss. Wände wurden begradigt, tragende Wände erneuert und die zerlebte Holzdecke durch einen modernen Mix aus Holz und Putz ersetzt. Die Bank hatte den Kredit zum Kauf des Hauses schnell und unkompliziert genehmigt. Karin arbeitete im öffentlichen Dienst und war somit eine grundsätzliche Garantie für ein regelmäßiges und sicheres Einkommen zum Abtragen des Kredites. Im Haus selber musste noch viel gearbeitet werden bevor ein Einzug auch nur planbar gewesen wäre. Trotz der vielen Modernisierungen blieben kleine Nacharbeiten unvermeidbar. Die Treppe
aus dem Erdgeschoss in das Obergeschoss weckte nicht mehr genug Vertrauen und die Fenster musste ausgewechselt werden. Sie entsprachen nicht mehr der heute möglichen Energiespartechnik. Im gesamten Haus roch es leicht modrig, Karin vermutete Schimmel hinter der ein oder anderen Tapete. Da diese allerdings mit dunklen großen Mustern versehen waren, mussten sie entfernt werden um heraus zu finden, ob es dahinter Arbeit gab oder nicht. Das bedeutete gleichzeitig, dass im ganzen Haus neu tapeziert und gestrichen werden musste. Im Keller stapelte sich Ramsch, Müll
und allerlei Besitz des Vorbesitzers. Bei der Übergabe betonte er, es seien noch einige Schätze darunter zu finden. Es gehöre mit der Kaufurkunde alles Michael und Karin. Sie können darüber verfügen, wie sie es wollten. Er hatte sogar den Kaufpreis um den geschätzten Wert eines professionellen Entsorgungsdienstes reduziert. Der Aufwand, dies alles zu organisieren und eventuell noch seinen Besitz im Keller zu sortieren, war ihm einfach zu groß. Es schien, dass der Keller schon über 10 Jahre nicht mehr betreten wurde. Der Vorbesitzer, ein sehr alter und faltenreicher Mann Mitte neunzig, entschied sich dazu, den Rest seiner Tage
im Komfort eines Heimes zu genießen. Seine Frau, so hat er erzählt, verließ ihn bereits vor über 30 Jahren. Eine sehr lange Zeit ohne seine beste Vertraute. Auch alle seine Freunde sind in den vergangenen 20 Jahren einer nach dem anderen verstorben. Familie hatte der alte Mann keine ihm besonders nahe stehende. Bei der ersten Besichtigung fragte Michael, warum er sich ausgerechnet jetzt entschieden habe in ein Heim zu ziehen und nicht schon früher. Der alte Mann blickte Michael überraschend fest mit seinen sonst müden und unterlaufenen Augen an. Er antwortete nicht sofort, sondern schien abzuwägen, ob er überhaupt antworten
sollte. Seine Lunge rasselte leicht bei jedem Atemzug, dies und der Geruch des alten Hauses verliehen dieser Situation etwas Surreales. Die Einsamkeit forderte ihren Tribut auf unterschiedliche Weise. Wer lange Einsamkeit ausgesetzt war, kann verrückt werden. Andere klinken sich aus dem aktiven Leben aus und verbarrikadieren sich ganz tief in ihrem Unterbewusstsein, unerreichbar für alle Außenstehenden. Wieder andere erfinden sich eine Phantasiewelt um sich herum. Dort fühlen sie sich geborgen und sicher. Das Leben passiert nicht mehr vor der Tür, sondern im Kopf. Tief drinnen, wo der Betroffene noch selber
entscheiden kann, wann Tag und wann Nacht ist. Nur nach außen hin sind die Lichter auf Sparmodus geschaltet. Mit rauer und altersheiserer Stimme sagte er schließlich „Ein Versprechen muss man halten, wenn man es gegeben hat. Besonders dann, wenn schwere Zeiten sich abzeichnen und du der einzige bist, der Schutz bieten kann. Habe ich Recht?“. Michael wusste nicht recht, wie er diese Information ablegen sollte. So parkte er sie erstmal im Zwischenspeicher und quittierte das Gesagte mit einem freundlichen aber nichtssagenden Lächeln und Nicken. Die Wohnräume waren zwar
grundsaniert, aber da der Vorbesitzer im zunehmenden Alter die Nutzung des Hauses auf wenige Räume beschränkt hatte, waren das Obergeschoss und der Keller vollkommen verwahrlost. Ob der Dachboden jemals nach 1950 betreten wurde ließ sich nicht mehr rekapitulieren, hätte sich Michael festlegen müssen so hätte auf Nein gesetzt. Er überschlug mit Karin grob den Aufwand. Es war Material für mindestens 2 Sperrmüll Container im Haus verteilt. „Das wird uns zwei Wochen kosten, alles zu sichten und in die Container zu befördern. Selbst wenn uns Daniel helfen würde. „ Karin stimmte ihm zu und machte sich ein paar
Notizen in ihr kleines Büchlein. Dort hielt sie alles akribisch fest, was mit dem Haus, dem bevorstehenden Umzug und dem Vertrag zu tun hatte. Es folgte die Schlüsselübergabe. Zwei Schlüssel für die Haustür, zwei für die Garage und eine Sammlung gleich aussehender Schlüssel für die Zimmertüren im Haus. Jeder Schlüssel stand auf einer Liste, welche als Anhang dem Kaufvertrag beilag. Michael gab direkt je einen Haus- und Garagenschlüssel Karin weiter und schloss seine Mappe mit den Vertragsunterlagen. Plötzlich erstarrte der alte Mann. Seine Pupillen verengten
sich. Er stand wie versteinert im Raum. Nur das Rasseln seiner Lunge bezeugte, dass er noch lebte. In diesem Moment viel Michael auf, wie alt dieser Mann tatsächlich aussah. Seine Haut war so dünn geworden, sie lag wie Pergament über den sich abzeichnenden Knochen im Gesicht und den Händen. Es schien, als wäre sie transparent und man könne durch sie hindurch auf die darunterliegenden Gewebeschichten blicken. Bei der Begrüßung hatten sie sich die Hände geschüttelt. Es ist ihm vorher nicht wirklich aufgefallen, aber bei diesem Anblick nun erinnerte sich Michael an das Gefühl. Als er die Hand des alten Mannes umschloss, fühlte es
sich an, als wäre die Haut nicht mehr fest mit dem Körper verbunden. Sie schien wie auf einem Ölfilm über die dünnen und alten Knochen der Hand zu rutschen. Die Haut fühlte sich so dünn an, als ob sie an jeder Kante der Knochen hängen bleiben und einreißen könnte. Aber nach einem kurzen Moment in dem Karin ein kalter Schauer die Wirbelsäule hinab kroch, nicht einmal lange genug um zu reagieren, entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. Er war zurück, von wo immer er auch diesen kurzen Moment gewesen sein mag. Er sammelte sich offensichtlich und griff unversehens in eine kleine Tasche auf seinem Pullover.
Sie war auf der linken vorderen Seite auf Höhe des Bauchnabels aufgenäht. Er holte etwas daraus hervor und umschloss es fest mit seiner Faust. Er atmete schwerer als zuvor, das konnte man am lauteren Rasseln erkennen. Irgendetwas forderte ihm viel Kraft ab. Karin rätselte noch, was das Ding in seiner Faust wohl sein könnte. Dann griff der alte Mann plötzlich und mit überraschender Kraft nach Michaels Hand.