Daniel
Durch die gläserne Terrassentür konnte sie ihren Mann gut beobachten. Die Sonne schien vom Mittagshimmel direkt durch die Scheibe in ihr Gesicht und blendete sie ein wenig. Sie schirmte ihre Augen mit der linken Hand ab. Den rechten Arm konnte sie dazu nicht benutzen, denn mit ihm hielt sie ihre gemeinsame Tochter fest. Ihr Mann stand im Garten und schien über seine nächsten Schritte nachzudenken. Er hatte den Rasen gemäht, Unkraut aus den Beeten gezupft und den Lorbeer gedüngt. Der Garten des Hauses war nicht besonders groß, sodass die Arbeit innerhalb
von zwei Stunden erledigt war. Das Wetter spielte an diesem Samstag perfekt mit. Ein paar Wolken am ansonsten blauen Himmel machten die Arbeit draußen verträglich angenehm. Daniel war mit seinem einen Meter neunzig immer etwas größer als sein Umfeld. Marie betrachtete ihn so ausführlich wie schon lange nicht mehr. Seine Haut glänzte leicht vom Schweiß der vorhergehenden Arbeiten. Er trug ein weißes T-Shirt. Eine leichte Brise zupfte daran und zeichnete den schlanken Oberkörper darunter ab. Seit der Geburt von Mia hatte sie sich ihren Mann nicht mehr so genau angesehen wie in diesem Moment. Er hatte viel
trainiert in den letzten Monaten, das hatte Marie mit bekommen. Aber jetzt fiel ihr auch auf, dass das Training sich anscheinend gelohnt hatte. Sie erwischte sich, wie sie unbewusst auf ihre Unterlippe biss und verschmitzt lächelte. Ihr Bauch kribbelte ein wenig, als ihr bewusst wurde, dass das ihr Mann dort auf dem Rasen war der sie gerade etwas mehr antörnte als sie sich eingestehen wollte.
Marie war 29 Jahre alt, mit einem Meter vierundsiebzig durchschnittlich groß und ihre schulterlangen Haare strahlend blond. Daniel sagte ihr immer „wenn wir nicht verheiratet wären, müsste ich dich stalken“. Er war 3 Jahre älter als sie und
sie waren ein unschlagbares Team. Das Wichtigste aber war mit Abstand das gemeinsame Lachen. Beide konnten herrlich über sich selber und im Besonderen über den jeweils anderen lachen. Das Telefon klingelte und Marie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Als sie zum Telefon trottete griff Daniel draußen zur Heckenschere und schritt entschlossen über den frisch getrimmten Rasen auf die Grundstücksgrenze zu. Der Garten wurde von einer Lorbeerhecke begrenzt. Dahinter lag ein großes Grundstück, welches sich im Besitz der Gemeinde befand. Es war potentieller Baugrund. Der wilde Bewuchs, brusthoch gewachsene Gräser
und Kräuter ließen jedoch darauf schließen, dass Bauvorhaben vorerst in weiter Ferne standen. Weniger weit weg stand jedoch eine riesige, ausladende Brombeerhecke. Stand man vor ihr reichte sie in ihrer Höhe bis Daniels Stirn. Sie wuchs exakt an der Grundstückslinie entlang. Eine Brombeerhecke störte weder Marie noch Daniel in irgendeiner Weise optisch. Im Gegenteil, eigentlich trug sie etwas Romantisches, Friedliches bei. Allerdings wuchsen ihre Zweige penetrant in die Lorbeerbüsche und durch diese hindurch.
Sie bewegten sich millimeterweise durch die Büsche in den Garten hinein. Wie die
langen, grünen Finger eines Ungeheuers streckten sie sich nach dem Haus aus. Wie Jäger auf der Lauer pirschten sie sich durch das leichte Blätterwerk der Lorbeeren und die Nischen zwischen den Begrenzungssteinen. Alle paar Wochen musste Daniel die Äste mit ihren Dornen aus den Büschen ziehen und abschneiden. Damit wollte er heute Schluss machen. Ein für alle Mal. Da er kein anderes Werkzeug hatte, entschied er sich für eine einfache Heckenschere. Er wusste, es würde hinterhältigen Muskelkater und gemeine Blasen geben. Aber er war heute in der richtigen Stimmung dazu. Mit der Schere in der Hand drängte er sich durch die dichten
aber noch kleinen Lorbeerpflanzen. Direkt hinter den Büschen ging es einen kleinen Absatz runter auf das öffentliche Gelände auf dem der Dornenbusch wucherte. Daniel machte einen Satz und landete direkt vor der Hecke. Er verschaffte sich einen Überblick und überlegte sich, wie er nun am besten vorgehen sollte. Die Entscheidung fiel, erstmal das hohe Gras um den Busch herum zu schneiden, damit er auch keine Äste und Schlingen im hohen Gras übersehen würde. Die Halme waren schnell gestutzt und nun lag die Dornenhecke rundum frei. Wie ein Zahn von dem sich das Zahnfleisch gelöst hat stand sie da. Verletzlich und
den Schneiden der Heckenschere wehrlos ausgeliefert. In unmittelbarer Nähe zur Dornenhecke überkam Daniel ein Moment der Zweifel über sein Vorhaben. Unbehagen machte sich in seiner Magengegend breit als ein frischer Windstoß über seinen schweißnassen Rücken strich. Er hob die Heckenschere und setzte zum ersten Schnitt an.