Kapitel 1
Es war kaum noch als das zu erkennen, was es einmal gewesen war. Verkohltes Schwarz, vereinzelt durchbrochen von orangeroten Mustern, wo das Feuer noch glühte. Aus der Luft ein dunkler Fleck auf dem hellen Flickenteppich von Feldern, ein weiterer Makel auf einem Stoff, der ohnehin nicht der feinste war.
Mit einem dumpfen Aufprall landete Ke auf dem Boden, in sicherer Entfernung dessen, was vor kurzem noch ein Dorf gewesen war. Chaïr sprang vom Rücken des Drachen und blieb neben ihm stehen, fassungslos. Das kann nicht sein. Es darf einfach nicht sein!
Die Flammen hatten das Dorf so gründlich
zerstört, dass es kein Unfall gewesen sein konnte, trotz des trockenen, fast schon wüstenhaften Klimas, das in der Region vorherrschte, trotz der strohgedeckten Dächer, die leicht Feuer fangen konnten, trotz der Tatsache, dass es, wie es aussah, seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr geregnet hatte.
Sie waren vor ihr dagewesen, kein Zweifel.
Hoffnungslosigkeit stieg in ihr auf. Wie sollte sie es jemals schaffen, wenn sie immer zu spät kam?
Chaïr ballte stumm die Faust, schloss die Augen und holte Luft. Nicht daran denken! Weitermachen! Einen Moment verharrte sie, dann warf sie einen letzten Blick auf das niedergebrannte Dorf und wandte sich wieder
zu ihrem Drachen um. „Wir gehen wieder“, teilte sie ihm mit. „Hat keinen Zweck, hier nach Überlebenden zu suchen, oder was meinst du?“
Ke schnaubte, sein Blick war so resigniert, wie sie sich fühlte. Die Elfe klopfte ihm mitfühlend auf die Schnauze und wollte schon um ihn herumgehen, um aufzusteigen, als sich seine Nüstern auf einmal weiteten, sein Kopf fuhr zum Dorf herum. Chaïr stutzte.
Langsam wandte auch sie sich um, doch – da war nichts. Nur schwarze, verkohlte Ruinen, Trümmerhaufen.
Wieder blickte sie zu Ke, der auffordernd schnaubte.
„Du weißt genau, dass ich nicht so gut höre oder rieche wie du. Außerdem, wer auch
immer da gerade kommt, könnte genausogut ein Feind sein. Ist ja nicht so, dass wir keine hätten, was?“ Die Elfe schüttelte den Kopf und zog die schwarze Stoffmaske über ihr Gesicht, bis nur noch die Augen zu sehen waren, und rückte ihren Helm zurecht. „Pass auf, Vorschlag: Du ziehst dich nach da drüben“, sie deutete auf das nahe Arinasfeld, „zurück und greifst nur ein, wenn es nicht anders geht. Einverstanden?“
Der Drache wirkte nicht völlig überzeugt, das sah sie an der Art, wie er den Kopf schief legte.
„Ich hab immer noch meinen Bogen, schon vergessen? Und ich bin nicht mehr das wehrlose Mädchen, das ich mal war.“
Kes Augen wurden schmal. Chaïr brauchte
einen Moment, um zu begreifen, dann warf sie den Kopf zurück, ein verzweifeltes Lachen entrang sich ihrer Kehle. „Ach, ich vergaß – du magst kein Arinas. Ich weiß, Ke, aber … siehst du hier vielleicht ein anderes Versteck für einen Drachen deiner Größe?“ Sie konnte nicht verhindern, dass ein sarkastischer Unterton in ihren Worten mitschwang.
Der echsenartige Kopf zuckte widerwillig, dann fuhr Ke herum. Es kostete ihn nur einen Flügelschlag, bevor er hinter den hohen, hellgrünen Stämmen verschwand und sie allein zurückließ.
Ein kurzes Lächeln gestattete sie sich, dann, schlagartig, war sie wieder ernst, ganz Kriegerin, ganz Drachenfängerin. Innerhalb
von Sekunden lag der Bogen in ihrer Linken, ein Pfeil in der Rechten. Bereit, innerhalb von Sekunden zu schießen, aber, vom Standpunkt eines Laien aus gesehen, keine unmittelbare Bedrohung – noch nicht. Nun hieß es Warten.
Es dauerte nicht lange, vielleicht eine halbe Minute.
Leises Tappen, wie schnelle Schritte, jemand, der rannte. Davonrannte?
Eine Bewegung zwischen den Ruinen. Die Elfe kniff die Augen zusammen. Eine schmale, zerlumpte Gestalt, die zwischen den Häusern hervorgestürmt kam. Einer der Dorfbewohner, der das Inferno überlebt hatte? Es schien kaum möglich, aber dennoch war er da. Oder sie, wie auch immer.
Sie konnte es nicht fassen.
Durchatmen, weitermachen. Wie immer. Chaïr holte Atem und umfasste ihren Bogen fester.
Es war pures Glück, dass der Überlebende – ein Junge, klein, mager, so viel erkannte sie inzwischen – direkt auf sie zulief. Den Blick hatte er auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern, und weil sie in ihrem staubbedeckten, knielangen Ledermantel vor der Steppenlandschaft kaum auffiel, hatte er sie wohl auch noch nicht gesehen.
Einen Moment wartete sie noch, bis der Flüchtende nah genug war, dann trat sie einen Schritt vor.
„Wovor läufst du weg?“
Ihre Stimme durchschnitt die Stille, die sonst
nur vom leisen Keuchen des Jungen und seinen Schritten durchbrochen wurde, wie ein Messer.
Die Reaktion folgte auf der Stelle. Stolpern, beinahe wäre er gefallen, fing sich gerade noch, starrte sie einen Moment lang an wie einen Geist, dann fuhr er herum.
Resigniert beobachtete Chaïr, wie er davonrannte. Eigentlich war es abzusehen gewesen – zum einen war sie ganz offensichtlich eine Drachenfängerin, zum anderen hätte sie ihren Bogen vermutlich besser wieder weggesteckt.
Nur wusste sie nun immer noch nicht, wovor er eigentlich geflüchtet war. Einfach vor dem Feuer? Unwahrscheinlich, das war fast aus.
Also doch Feinde. Es war jene fast schon
paranoiaartige Stimme in ihrem Kopf, die seit dreieinhalb Jahren in jedem Schatten eine Gefahr sah, sie an jeder Ecke innehalten ließ, ob da nicht doch …
Es reicht! Erneut ballte sie die Faust. Viel zu oft musste sie sich selbst zur Ordnung rufen, sich zwingen, nicht nachzugeben.
Ein leises Gurren aus der anderen Richtung. Als sie sich umwandte, streckte Ke den Kopf über die meterhohen Arinasspitzen, die gelben Augen funkelten fragend.
Chaïr seufzte. „Du hast ja Recht, ich geh schon. Wartest du hier?“
Der Drache wirkte nicht unbedingt angetan. Einen Moment lang schien er zu überlegen, dann machte er einen Satz, breitete die Flügel aus und landete vor
ihr.
Die Drachenfängerin schwieg. „Schön“, entgegnete sie schließlich. „Aber lass dich bloß nicht blicken, klar?“