Die Nacht des Jägers
Das Wirtshaus „Lindenschenke" am Elbufer war schon immer ihr Stammlokal gewesen. Der alte Kellner grüßte die Gäste mit einem Lächeln, während sie am reservierten Tisch in dem kleinen Nebenraum platznahmen. „Wie immer?“ fragte er. Und Dr. Grafe der Gruppenleiter „historische Patente“ antwortete lächelnd: „Ja, wie in jedem Jahr, Hummel. Schön, dass Sie heute wieder für uns da sind.“ Mit einer angedeuteten Verbeugung erwiderte der Kellner: „Es war mir eine Freude, dass sie mich angefordert haben. Inzwischen bin ich ja im Ruhestand. Aber wenn ich von meinen Stammgästen gerufen werde, bin ich da.“
Der Kellner namens Horst Hummel steckte die Kerzen an und zog den vorbereiteten Weinwagen an den Tisch. Während er den ersten Gästen die ausgewählten Getränke kredenzte, beugten sich die anderen über die Speisenkarten. Dr. Grafe erhob sich: „Liebe Frau Kollegin, liebe Kollegen, heute treffen wir uns nun zum fünften Mal hier. Der Arbeitskreis „historische Patente“, der einst von Dr. Marvin Müller ins Leben gerufen wurde, kann auch in diesem Jahr wieder auf ein wertvolles Fundstück zurückblicken, von dem Dr. Müller schon vor sieben Jahren ahnte, dass es da unten sein würde. Wir wollen darauf anstoßen“
„Auf den neuen Fund!“ Sie stießen mit ihren Weingläsern an. „Woher wusste Dr. Müller
eigentlich, dass dort das Hauptpatent des Verfahrens der Chloralkalielektrolyse zu finden sein würde? Eigentlich wurde das Verfahren doch von Ignaz Stroof in Griesheim entwickelt.“
„Das stimmt schon, aber in Bitterfeld war ein Elektrolysebetrieb der chemischen Fabrik Griesheim AG angesiedelt worden. Zu dieser Zeit forschten unter extremer Geheimhaltung etliche Firmen an einer geeigneten Trennwand, die die während der Elektrolyse anfallenden chemischen Stoffe Chlor, Wasserstoff und Natronlauge trennen sollten. Diese Trennwand war das berühmte bestgehütete Diaphragma seiner Zeit, ursprünglich aus Zement, dann aus Asbest, später aus Keramik. Da Bitterfeld, wo das
Werk stand, damals zur Provinz Sachsen gehörte, landete das Patent über das Zementdiaphragma hier im zentralen Patentamt."
„Und wer hat es nun gefunden?“ fragte Ingenieur Karl Kaiser, der in seinem Keller im Archiv mal wieder nur den Aktenstaub geschnuppert hatte. „Es war unsere neue Kollegin, Frau Diplomingenieurin Marlene Mirsstadt.“
Die Herren applaudierten der jungen Kollegin und verstanden nun, warum der Chef die hübsche junge Frau mit zum Jahresesssen gebracht hatte. Ja, das war ein würdiger Einstand.
“Danke für ihren Beifall meine Herren. Wie unser verehrter Dr. Müller gehöre auch ich zu
den Jägern der Nacht, die in den Katakomben auf Schatzsuche gehen. Außerdem gehörten wir beide der freiwilligen Feuerwehr an. Ich war noch Studentin, als ich mit ihm zum ersten Mal über die alten Patente sprach, die da unten verborgen sein mussten. Und gemeinsam erarbeiteten wir eine Karte des unterirdischen Aktenlagers.“
Die vier Kollegen aus dem Dresdner Patentamt hörten ihrer Kollegin interessiert zu. „Aber wie sind sie überhaupt auf die Idee gekommen, in den alten Katakomben zu suchen? Inmitten von Dreck und alten Knochen und Moder, “ fragte Fridolin Maier.
„Wussten sie nicht, dass Dr. Müller, ihr pedantischer Müller, als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, verantwortlich war für
die Katakomben und Kasematten?“ entgegnete Frau Mirsstadt. „Weil da unten alles finster war, nannten sie sich die Jäger der Nacht. Und jeder hatte einmal Nachtwache, wenn Katastrophenalarm war. Das war dann seine Nacht des Jägers. Während einer der ersten Einsätze fand er eine Kiste mit Akten, eher durch Zufall. Und danach forschte er und begann systematisch zu suchen.“
Ja, Dr. Müller und seine Gründlichkeit.
Dr. Marvin Müller galt sogar als Querulant. Buchhalter Fridolin Maier wusste es, so wie jeder im Patentamt Sachsen.
Jedes Jahr monierte Müller den Lohnsteuerjahresausgleich mehrmals. Jedes Jahr dasselbe Spiel, wenn er mit
einem Anwalt beim Unternehmensjustitiar aufkreuzte und dann doch unverrichteter Dinge abziehen musste. Alle warteten jedes Jahr mit verhaltenem Schmunzeln auf diesen Tag. Bald fand sich kein seriöser Anwalt mehr in Dresden, der Müller vertreten wollte.
Doch Müller hatte Verdienste, und zwar so große, dass selbst der Leiter des Patentamtes über das Querulantentum von Müller hinweg schaute.
Hatte er doch in den Katakomben nicht nur die uralten Patente gefunden sondern sie auch den entsprechenden Artefakten zuordnen können. Diese waren in allen Kriegszeiten ebenfalls dort eingelagert und später durch einen Erdrutsch während eines
Elbehochwassers dort begraben worden. Aber Dr. Müller hatte sie gerettet.
Es handelte sich dabei unter anderem um ein äußerst delikates Objekt und zwar um das Patent für einen Büstenhalter. Eigentlich, um genau zu sein, handelte es sich um das Patent für ein Frauenleibchen als Brustträger. Eine Frau, die Dresdnerin Christine Hardt, hatte das Patent am 5. September 1899 angemeldet. Sie war von Beruf Masseuse und Lehrerin für Heilgymnastik, in der aufkommenden Reformbewegung aber auch eine Gegnerin des Korsetts. Und wie durch ein Wunder war in einer der Kisten genau ein solches Exemplar gefunden wurden, eben durch
Dr. Marvin Müller. Es war ihr übliches
Jahresessen, an dem sie des Sechsten gedachten, der nicht mehr unter ihnen weilte.
Der Abstand zu dem bestürzenden Ereignis war groß genug geworden, dass die Anekdoten, die man sich über ihn erzählte inzwischen viele heitere Erinnerungen aufleben ließen. „Wisst ihr noch, wie er mir meine Sekretärin ausgespannt hat? Diese zauberhafte Blondine? Eigentlich dachte ich, sie wäre reif für ein Wochenende mit mir. Wir flirteten wie die Weltmeister. Als sie aber nach dem Kurzurlaub wieder zurück kam, war sie nicht mehr Fräulein Knabe sondern Frau Müller.“ Der Justitiar Dr. Fry schüttelte immer noch belustigt und den Kopf. „So ein Filou aber auch, unser
Marvin. Charme hatte er ja. Ich hätte ihn gerne belauscht, als er ihr den Hof gemacht hat.“ Die Tischrunde lachte und man prostete sich zu. „Auf Marvin!“
Aber wie konnte das Unglück überhaupt geschehen? Darüber hatten sie noch nie gesprochen. Dr. Grafe überlegte: „An jenem Tage war er früher gegangen und schon auf dem Heimweg, es war sein Hochzeitstag.“
„Wissen Sie etwas Genaueres, Frau Mirsstadt?“
„Ja, ich bin auch Mitglied der freiwilligen Feuerwehr im Bereich Höhlen und Kasematten. Und ich war mit beim Hochwassereinsatz. Ich hatte ihn angerufen. Bei uns lief bereits der
Katastropheneinsatz auf Hochtouren. Er kam nicht zum Einsatz. Was tatsächlich geschah, erfuhren wir von Augenzeugen.“
Wie immer führte ihn sein Heimweg über die Marienbrücke. Marvin stoppte sein Auto und stieg aus, es hatte aufgehört zu regnen und die Wolkenfetzen zogen über den stark angeschwollenen Fluss. Der Wind fegte durch das Elbtal und peitschte die kahlen Äste der Bäume. Die Schneeschmelze und heftige Niederschläge hatten in diesem Frühjahr 2006 ein unerwartetes starkes Hochwasser ausgelöst.
Er stand unter der Laterne, die noch kaum Licht spendete, in seinen Trenchcoat gewickelt. Den Hut ins Gesicht gedrückt.
Und er sah die Hochwasserwelle voraus. Aus dem romantischen Wochenende mit seiner geliebten Frau würde wohl nichts werden. Die bleigrauen Fluten brodelten. Sein Handy klingelte, da war er, der Alarmruf. Er bestätigte seine Bereitschaft und warf dabei einen unwilligen Blick auf den dunkel heran rollenden Fluss unter der Brücke.
Theresa Müller freute sich auf ein verlängertes Wochenende und ihren Hochzeitstag. Es war schon dämmrig, als sie nach der Arbeit vom Friseur kommend, vom Regen überrascht wurde. Ein Glück, dass sie sich für den Hut entschieden hatte. Irgendwo war an diesem hektischen Tag doch ihr Regenschirm auf der Strecke
geblieben. Nun musste sie die letzten Schritte zur Wohnung durch die herab rauschende Regenflut eilen. Kaum war der Weg zu erkennen. Sie wollte vor ihm zu Hause sein, und ihr gemeinsames Liebesnest vorbereiten, auch den romantischen Fingerfoodimbiss, den sie für heute Abend geplant hatte, noch anrichten. Im Hausflur hinterließ sie kräftige Regenpfützenspuren und entledigte sich der nassen Hüllen. Nein, die Frisur mit dem schwarzen Tüllschmuck hatte die Sintflut überstanden. Sie zog sich ihre zauberhafte schwarze Korsage an. Sie wusste, er liebte es, sie so zu sehen und sie wie ein Geschenk, ein Geheimnis fast, auszupacken aus einer Hülle, die doch fast
keine war. Makeup und Fingernägel kräftig, eher dezent der Perlenschmuck an den Handgelenken und das Collier um den Hals. Die halterlosen Netzstrümpfe mit dem breiten Spitzenabschluss kontrastierten zu ihrer weißen Haut. Noch einen Blick in den Spiegel, ein letztes Zupfen an der schwarzen Tüllschleife, die ihr blondes Haar einfing und im geeigneten Moment die Hochsteckfrisur zu einem blonden Wasserfall werden ließ, wenn man die Spange löste. Dann ließ sie sich auf das breite französische Bett sinken, neben dem das zauberhafte französische Nachttischchen mit seinen gebogenen Beinen stand. Darauf der Leuchter. Feinste Bienenwachskerzen würden später für Licht
sorgen, das Kerzenwachs seinen warmen Duft ausbreiten. Das Licht der Lampe umspielte sie dezent, setzte Akzente.
Da klingelte das Telefon. Für das Schlafzimmer hatten sie sich extra einen dieser 50iger-Jahre-Apparate zugelegt. „Marvin?“ Er sah sie vor sich, sah ihr aufmerksames Lauschen, ihr hübsches Gesicht, den langen gebogenen Hals, während er sie kurz informierte. Er wusste, sie würde sehr enttäuscht sein. War doch nicht abzusehen, wann er kommen konnte. Sie sandte ihm durchs Telefon einen Kuss, hielt den Hörer noch einen Moment am Ohr, lauschte seiner Stimme nach und legte auf.
Als er wieder auf den Fluss blickte, entdeckte er das wild um sich schlagende Bündel Leben, das mit dem Fluss herankam. Im blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Mantel, Hut und Schuhe hatte er im Laufen abgestreift. Er riss einen Rettungsring von der Brücke und warf ihn in das rasende Gewässer. Ein Sprung vom Brückengeländer dem Reifen hinterher. Da kam der um sein Leben kämpfende Junge, der einen kleinen Hund im Arm hielt. Marvin gelang es noch, den Jungen samt Hund in dem Reifen zu verstauen, dann hatte er einen Zusammenstoß mit einem Holzbalken, der wie eine Rakete durchs Wasser schoss und ihn auf der Brust traf. Inzwischen aufmerksam gewordene
Passanten alarmierten die Rettungskräfte und holten den Jungen und seinen Hund ans Ufer.
Dr. Marvin Müllers lebloser Körper wurde viele Flusskilometer entfernt aus dem Wasser geborgen.
„Theresa Müller kündigte ihre Stelle und zog zu ihren Eltern zurück nach Warnemünde. Arbeitet heute im Patentamt Rostock“, ergänzte Dr. Grafe.
„Eine tragische Geschichte", meinte Hummel, der mit den Vorspeisen an den Tisch seiner Gäste trat. „Ja, tragisch", bestätigte Dr. Grafe und die anderen nickten nachdenklich. Bevor sie sich dem Essen widmeten, erhoben sie sich, um des Abwesenden zu gedenken.
„Auf den Jäger der Nacht", sagte die junge Kollegin. Und alle erhoben ihr Glas.