Regen.
Das hatte mir noch gefehlt.
Ich bleibe unschlüssig im dunklen Torbogen des Hauses stehen und sehe, wie der Regen hernieder prasselt. Aus dem Gulli auf der Straße steigt Dampf auf, dessen Geruch mir unangenehm in die Nase steigt.
Da soll ich jetzt hinaus?
Okay, ich hatte Carina versprochen, dass sie unsere gemeinsame kleine Wohnung heute für sich allein haben würde. Aber …
Ich würde mir den schönen neuen Hut mit den entzückenden Accessoires ruinieren, den ich mir mühselig zusammen gespart hatte.
... und der Mantel? Auf keinen Fall.
Ich werde doch einen Schirm brauchen.
Genervt drehe ich mich um und stampfe die
schmale Treppe mit den ausgetretenen Stufen wieder hinauf.
Eine Hummel, die sich wohl im Blumenkasten vor dem Flurfenster heimisch fühlte, fliegt aufgeregt gegen die Scheibe. Allen Anschein nach hatte diese sich vor dem Regen ins Trockene geflüchtet und ist nun gefangen. Selbst schuld, denke ich.
Jeder muss seinen Weg allein finden.
Ich öffne leise die Wohnungstür, husche hinein und sehe, die Tür zu Carinas Zimmer ist nur angelehnt. So kann ich hineinspähen, ohne dass sie etwas bemerkt.
Sie sitzt aufgebrezelt auf ihrem Bett und telefoniert. Beinahe hätte ich sie nicht erkannt.
Statt ihres sonst so billigen Büstenhalters
und den Omaschlüpfern hat sie einen trägerlosen Body an. Ihre makellosen langen Beine stecken in halterlosen Netzstrümpfen mit Spitzenabschluss. Sie hat den Schmuck angelegt, den er ihr geschenkt hatte.
Wow, sie sieht schon umwerfend aus, wenn auch ein wenig blond.
Ich muss über meine Feststellung lächeln. Blond und blauäugig.
Heute wollte sie alles auf eine Karte setzen. Es sollte der entscheidende Abend werden. Diaphragma und Kondom waren heute nicht angesagt. Es sollten Nägel mit Köpfen gemacht werden.
So hatte sie es zu wenigstens geplant.
Ich gönne es ihr. Jeder nach seiner Fasson.
Während ich sie so betrachte, werde ich hellhörig. Es ist nicht so, dass ich sie würde belauschen wollen. Es ergab sich einfach.
Absage.
Der Typ kommt nicht. Muss in seiner Firma noch den Lohnsteuerjahresausgleich für seine Angestellten fertig machen.
"Was? Lohnsteuerjahresausgleich im September? Für wie doof hältst du mich eigentlich? Dann rede doch Klartext! Sag's einfach. Glaub nicht, ich würde dir eine Träne nachweinen. Keinen Gedanken werde ich an dich verschwenden.", hörte ich Carina ganz ruhig sagen.
Ich hab's doch gleich gewusst.
Schon damals, als wir am „contemporary
dance“ - Workshop in den KATAKOMBEN, dem CENTER FOR PERFORMING ARTS teilgenommen hatten.
Er stand in Trenchcoat und Hut hinter einer der Säulen und beobachtete die Tänzerinnen.
So wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden.
Ich sah ihn später noch einige Male, wenn wir von Training kamen, oben auf der Brücke stehen. Ans Geländer gelehnt, direkt unter der Laterne, auf die eine oder andere Tänzerin wartend.
Ich war mir zwar immer sicher, dass er uns nicht gesehen haben konnte, da die Sicht auf uns durch einen großen Baum stark eingeschränkt wurde, aber als Carina dann anfing, sich mit ihm zu treffen ...
Sie war wie Kerzenwachs in seiner Nähe. Heiß und biegsam.
Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Irgendetwas war an ihm, ... ließ meine Alarmglocken läuten. Ich kann es nicht in Worte fassen und ich wollte aber auch ganz sicher kein Querulant sein.
Jeder ist seines Glückes Schmied.
Also hab ich geschwiegen.
Nun ist es also so weit.
Nach wenigen wunderschönen Stunden mit Carina drängt ihn sein ganzes Wesen, sein inneres "Ich", zum Weiterziehen. Er kann nicht bleiben.
Adieu, goodbye, arrivederci …
Das war's.
Damit konnte Carina ihre Träume, endlich hier herauszukommen und eine gute Partie zu machen, begraben.
Ich bin nur froh, dass sie jetzt erkannt hat, wie und was er in Wirklichkeit ist.
Jetzt wo er seine Maske hatte fallen lassen und sein wahres Gesicht zeigt.
Keine Bindung. Kein Zwang. Keine Gitter.
Er liebt seine Freiheit, sein Mysterium und Frauen. Sein Leben eben.
Es liegt in seiner Natur, dass es ihn hinaus in die Dunkelheit der Nacht zieht.
Seiner Nacht ... die Nacht des Jägers.
© A.B.Schuetze 06/2015