erste sitzung
Die Nacht verbrachte Frank alleine in seinem Zimmer. Es war ein schlichtes Zimmer, angelegt wie ein Zimmer in einem Krankenhaus. Spartanisch eingerichtet. Ein Bett mit hochklappbaren Seitengittern aus verchromtem Stahl. Elektronische Installationen, welche in den Wänden eingelassen wurden. Steckdosen, Anschlüsse und kleine Displays für medizinische Einsätze verschiedener Art. Für den Moment war alles tot, Frank benötigte keine medizinische Versorgung in diesem Sinne. Weiter befand sich im Zimmer ein kleiner
Schrank. Darin hingen ein Bademantel, zwei Hemden und ein Sakko. Auf Einlegeböden waren eine Hand voll T-Shirts, etwas Unterwäsche und zwei Pullover zusammengelegt verstaut. Frank lag ruhig in seinem Bett und starrte ausdruckslos die Decke an. Die Arme über Kreuz mit je einer Hand auf der gegenüberliegenden Brust und die Beine schnurgerade ausgestreckt wirkte er so leblos, wie aufgebahrte Tote in einer Leichenhalle. Pünktlich um neun Uhr legte sich Frank jeden Abend auf diese Weise ins Bett. Erst um fünf Uhr in den Morgenstunden schloss er seine Augen und schlief tief und fest für zwei Stunden. Ein Wärter versuchte ihn
einmal um halb sieben zum Führstück zu wecken. Nichts half, Frank wachte einfach nicht auf und der Wärter bekam es mit der Angst zu tun. Er rief einen Arzt. Während sie ihn untersuchten, an Geräte anschließen und auf ihn einredeten überschritt der Zeiger der großen Wanduhr im Klinikflur 7:00 und Frank schlug einfach die Augen auf und war wach. Er hat dem Personal einen irren Schrecken verpasst. Franks Frühstück war das klassische Klinikmenü. Zwei Scheiben Brot, die bereits anfangen trocken zu werden, da zwischen Schneiden, anrichten und in den Zimmern verteilen mehr als zwei Stunden lagen. Täglich wechselnd aber
einer wöchentlichen Routine folgend war das Angebot an Aufschnitt und Aufstrich überschaubar. Nach dem Frühstück duschte Frank eiskalt, kämmte sich die mittlerweile ergrauten Haare streng nach hinten. Die Haarenden rollten sich zu leichten Locken zusammen, während das restliche dicke Haupthaar in den gekämmten Strähnen trocknete und so verblieb. Pünktlich wurde er vom Personal zu seiner Sitzung abgeholt und an den Rollstuhl gebunden in das Sprechzimmer gefahren. Erst dort löste man die Fesseln und ließ ihn auf dem Liegesessel Platz nehmen bevor Vanessa den Raum betrat. Noch bevor sie an
diesem Morgen ihre Begrüßung an Frank richten konnte begann dieser zu erzählen.
‚Der Mann, der unsere Tochter zwang auf einen Schlag erwachsen zu werden verschwand genauso schnell und rätselhaft, wie er aufgetaucht war. Er hinterließ keine verfolgbaren Spuren und fasste im Haus nichts außer meiner Frau und mich selber an. Er richtete uns grauenhaft zu, brach meiner Frau sämtliche Knochen und schlug sie auf einem Ohr fast taub. Ich hatte Glück im Unglück. Durch meinen Blackout spürte ich nicht, wie ich schwere innere
Verletzungen durch seine Tritte erlitt.‘ Frank erzählte langsam mit Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Seine sonore Stimme und die bewusst leise Sprechweise verliehen den Sitzungen mit ihm eine dunkle Atmosphäre.
‚Am Ende hatte ich zusätzlich einen gebrochen Knöchel, Schädelbasisbruch, der linke Wangenknochen war zertrümmert, und dass ich auf meinem rechten Auge noch sehen kann verdanke ich nur einem Zufall.‘ Frank blickte Vanessa nicht einen einzigen Moment an. Er starrte wie bereits am Tag zuvor stur aus dem Fenster. Er atmete einmal tief ein. Schloss die Augen für einen
kurzen Moment und sammelte seine Gedanken, so schien es. Dann neigte er seinen Kopf leicht in Vanessas Richtung. Sein stechender Blick traf sie diesmal nicht unvorbereitet aber trotz allem nicht minder schwer. Er blickte direkt durch ihre Pupillen in ihren innersten Nerv. Er wusste ganz genau, wo er sich mit seinem Blick befand. Ein leichtes Lächeln in seinem Mundwinkel verriet ihn. Erst dann sprach er leise weiter.
‚Die Wunden heilten, vernarbten und verblassten mit der Zeit. Der seelische Schaden, der angerichtet wurde heilte bedeutend langsamer. Meine Frau, Eva, nahm psychologische Hilfe in Anspruch.
Ich wollte ihr auch zur Seite stehen. Mehr als alles in der Welt wollte ich für meine Frau da sein. Sie ließ es nicht zu. Sie versank immer tiefer in ihrer eigenen Welt. Nein, sie gab nicht mir die Schuld, falls dasdie Frage ist, welche sie sich gerade in ihr Notizbuch machen. Sie trauerte einfach nur. Sie trauerte sich aus der realen Welt weg in eine Welt ohne Erinnerungen. Haben sie meine Frau besucht?‘ Franks Stimme wurde intensiver und etwas lauter ‚Vanessa, haben sie gesehen, wie meine Frau vegetierend vor sich hin trauert und mittlerweile nicht mehr als vier Quadratmeter zum Leben braucht?‘ Noch etwas lauter, beinahe schon bedrohlich
fuhr er fort. ‚Sie braucht vier Quadratmeter, weil sie nur noch auf eine einzige Wand starrt, von dem Moment an, wenn sie morgens aufwacht, bis zu dem Moment, wo sie kraftlos einschläft. Sie bewegt sich nicht mehr, sie muss gefüttert werden. Sie trägt eine Windel. Meine Frau ist zusammen mit unserer Tochter gestorben, während ich eine Wut in mir gesammelt habe, die ihre Vorstellung sprengen würde.‘ Frank erkannte, dass er emotional wurde und verstummte auf einen Schlag. Sein Blick blieb noch eine Weile auf Vanessa gerichtet, er wägte ab, wieviel er mit diesem kleinen Ausbruch unabsichtlich über sich preisgegeben haben mag.
Während er sich beruhigte prüfte er ihre Reaktion. Sie befriedigte seinen Wunsch nach einer Reaktion allerdings nicht. Sie hielt einzig seinem Blick stand. Auge in Auge. Keine Reaktion. Unbekümmert ließ sich Frank wieder in den Sessel rutschen. Den Blick wieder in die Ferne gerichtet, hinter die Fensterscheibe aus Sicherheitsglas. Es war kurz nach 8.00 Uhr am Morgen. Seine liebste Zeit. Zu dieser Zeit am Tag ist das Licht seiner Meinung nach am schönsten.
‚Ich musste erst hierher kommen, um erneut zu entdecken, wie schön der Morgen ist. Diese rötliche Verfärbung des Himmels, wenn nach einer Nacht
noch die Feuchtigkeit im Himmel hängt und das Licht so bricht, dass er Feuerrot erscheint. Noch intensiver ist das Abendrot. Ich habe lange nicht mehr soviel Zeit damit verbracht, mir den Himmel anzusehen, wie ich es hier in Ihrem Zimmer tue.‘ Vanessa nahm diesen Satz auf, um sich endlich nach den Minuten des Schweigens auch am Gespräch zu beteiligen.
‚Wieso haben sie den Morgen und den Abend vorher nicht beobachtet, wenn er ihnen doch so wichtig ist?‘ Aber Frank ignorierte diese Frage einfach und erzählte unbeirrt weiter.
‚Ich lag lange im Krankenhaus, wie sie aus meiner Akte wissen. Als meine
Wunden weitestgehend verheilt waren, konzentrierte ich mich auf meine Aufgaben, die nach dem Krankenbett auf mich warteten. Ich möchte nicht lächerlich klingen, deswegen erkläre ich ihnen nicht woher ich das folgende weiß, nehmen sie es einfach als gegeben hin. In der Südstadt gibt es eine Bar mit dem Namen „The Hole“. Wie der Name schon sagt, ist es ein Loch. Ich brachte den Namen dieser Bar mit von meinem Ausflug. Dort würde ich finden, wonach ich suche. Also verbrachte ich jede Minute, die ich nicht bei meiner Tochter auf dem Friedhof oder meiner Frau in ihren vier Quadratmetern war in diesem Loch in einem der
heruntergekommensten Vierteln dieser Stadt. Was soll ich sagen? Der Schmutz dieser Gegend ist an mir haften geblieben, wie vermutlich unschwer an meiner sympathischen Art zu erkennen ist. Ich wurde mit jedem Tag in dieser Bar immer mehr ein Teil dieses Viertels. Ich wurde zu diesem Viertel. Die Besuche bei meiner Frau wurden immer seltener, das Grab meiner Tochter verwahrloste zusehends unter verblühten und toten Blumen. Ob ich mein eigenes Dasein in dieser Zeit als Leben bezeichnen würde?‘ Frank machte eine abschätzende Geste indem er mit seinen Augen, der linken Wange und dem linken Mundwinkel eine Grimasse zog.
Diese Mimik hielt er ein paar Sekunden, dann legte er den Kopf schief und fuhr fort.
‚Ich denke eher nicht. Zumindest nicht in der Art, wie sie es definieren würden. Verraten sie mir Vanessa, was ist das schlimmste, was ihnen jemals im Leben passiert ist? Wie tief sind sie schon einmal gesunken? Welche Qualen haben sie durchstehen müssen und was hat das mit ihnen gemacht? Wie weit waren sie jemals von der Definition „Leben“ entfernt?‘
‚Ich, glaube nicht, dass ….‘
‚Sparen sie sich diesen psychologischen Kniff. Es gehört nicht in ihr Untersuchungsschema, aber wenn
es gehört in unsere Unterhaltung, wenn sie diese mit mir weiterführen wollen, Vanessa.‘ Vanessa Lehmann saß in ihrem Sessel und überlegte sichtbar angestrengt, wie sie mit dieser Aufforderung umgehen sollte. Es verblieben noch gute dreißig Minuten der Zeit für sie mit Frank bevor der nächste Termin anstand. Sie konnte heute nicht wieder früher abbrechen. Sie musste jetzt reagieren und das kostete sie Kraft. Sie blickte ebenfalls aus dem Fenster und holte tief Luft. Vanessa wusste, dass sie hier nicht verstorbenen Haustieren oder einer vermasselten Abschlussprüfung kommen konnte. Sie wühlte tief in ihrem Innersten nach einer
Geschichte, die hier einen Ausgleich schaffen könnte. Sie wusste, was sie erzählen sollte, aber das konnte sie nicht. Es wäre lächerlich und Frank würde sie als Psychologin nicht mehr ernst nehmen, damit hätte sie irgendwie noch umgehen können, aber ihre Sitzungen wurden aufgezeichnet und zentral verwaltet. Sie würde sich vor ihren Kollegen und noch ganz anderen Instanzen lächerlich machen und im schlimmsten Fall diskreditieren. Das konnte sie nicht riskieren.
‚Das steht nicht zur Diskussion, Frank. In diesem Sitzungen geht es nur und ausschließlich um sie.‘
‚Dann sind wir für heute fertig. Bevor
sie sich mir gegenüber nicht öffnen, sind sie nicht bereit für das, was ich ihnen zu erzählen hätte. Sie können mit ihrem Protokoll schon mal anfangen, machen sie ihre Hausaufgaben. Ich bleibe hier noch für den Rest unserer Zeit sitzen und genieße den Ausblick. Setzen sie erst wieder einen Termin an, wenn sie bereit für ein echtes Gespräch sind.‘ Mit diesen Worten versteinerte Franks Miene wie ein elektrisches Gerät, welches ausgeschaltet wird und er wurde Eins mit der Morgendämmerung bis die Pfleger um punkt neun Uhr an die Türe klopften.