ein blutiger schnitt
Am späten Vormittag läutet es an Alfreds Tür. Einmal, zweimal, dreimal. Als Alfred schließlich öffnet, steht ein Mann vor ihm und streckt ihm einen Zettel entgegen. Darauf steht in einer krakeligen Kinderschrift in Druckbuchstaben: Hilfe! Mein Kopf tut weh und der Bauch. Ich blute, ich muss ins Krankenhaus. Bitte, einen Krankenwagen!
Alfred betrachtet den Mann lange. Er hat ihn noch nie hier gesehen: graue Stoppelhaare, abgetragene und verschmutzte Kleider. Der Mann schwankt. Ob er im Alkoholdelirium ist, vielleicht Drogen genommen hat? Minutenlang starren sich die beiden Männer
an. Schließlich klappt Alfred entschlossen die Tür wieder zu. Aufatmend lehnt er sich mit dem Rücken dagegen. Damit will er nichts zu tun haben.
Er lebt hier in einem der Hochhäuser am Stadtrand, die einen der zahlreichen sozialen Brennpunkte bilden. Einhundert Wohnungen gibt es allein in diesem Haus und täglich ziehen Mieter ein oder aus. Obwohl die Menschen nebeneinander wohnen, kennt keiner den anderen oder weiß etwas von seinem Nachbarn. Jeder, der hier kommt und geht, kann ein Nachbar oder ein Krimineller sein. Keiner weiß es oder würde etwas bemerken. Diese und andere Gedanken gehen Alfred durch den Kopf.
Als alles ruhig bleibt, setzt sich der Mann wieder auf die Couch und liest in seinem Buch weiter. Er hat Urlaub und genießt es, hier anonym leben zu können. Nirgendwo klappt das so gut wie in einer Großstadt und in einem solchen Hochhaus. Dann nähert sich seine Lektüre dem spannenden Höhepunkt, dem er schon lange entgegengefiebert hat. Er liebt diese Art von Literatur, die ihm höchsten sinnlichen Genuss verschafft. Wenn es wieder läutet, wird er nicht öffnen. Für heute hat er genug davon.
In den Abendnachrichten des örtlichen Rundfunks wird unter anderem von einem
Leichenfund in einem der Hochhäuser der Stadtrandsiedlung berichtet. Alfred bekommt das nur am Rande mit und macht sich keine Gedanken dazu.
Noch sehr spät abends läutet es Sturm bei Alfred. Als er schließlich doch öffnet, recken sich ihm zwei Dienstausweise entgegen.
„Kramer und mein Kollege Müller. Kriminalpolizei. Dürfen wir hineinkommen?“
Alfred nickt beklommen. Über die Schultern der Kommissare hinweg sieht er Männer in weißen Overalls den Fußboden auf dem Flur akribisch untersuchen. Mit gemischten Gefühlen bietet er den beiden Beamten Platz
an. Ist aufgeräumt in seiner Wohnung? Ist es sauber genug? Was sollen die Männer sonst bloß von ihm denken! Kramer und sein Kollege nehmen auf der Couch Platz und sehen sich neugierig um.
„Darf ich wissen …“ „Tut mir leid, aber die Fragen stellen wir“, unterbricht ihn Kramer. „Waren Sie heute den ganzen Tag zu Hause? Wenn ja, ist etwas Außergewöhnliches geschehen?“
Alfred lächelt verlegen, weiß nicht recht, wie und was er antworten soll. „Ich habe Urlaub“, beginnt er dann stockend, „und ich habe den ganzen Tag gelesen.“
„Was haben Sie gelesen?“ „Ein Buch.“ Dann zeigt er verlegen seine Lektüre.
Müller errötet ein wenig, Kramer treibt an.
„Was ist dann geschehen?“
„Es hat plötzlich geläutet. Ich hab dann aufgemacht. Da stand ein Mann vor mir.“
„Kennen Sie den Mann? Was wissen Sie über ihn? Mann, lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen!“
Stockend und mit leiser Stimme berichtet Alfred schließlich über seine Begegnung mit
dem Mann. Und über den Zettel. Die beiden Beamten bedanken sich und verlassen Alfred rasch. Schade, dass er nicht mitbekommt, was da draußen im Flur los ist, denkt Alfred. Aber er wagt es nicht, noch einmal die Tür zu öffnen.
Draußen folgt die Spusi zusammen mit den beiden Beamten winzigen Blutspuren.
Knapp zwei Stunden zuvor hat einer der Hausmeister im Keller vor dem Aufzug den Mann gefunden. Er lag in einer ziemlich großen Blutlache, hielt aber den Zettel immer noch fest in der Hand. Der herbei gerufene Notarzt versuchte alles zur Rettung des Mannes. Allein dieser verstarb noch am
Fundort.
Von hier aus folgt die Spusi den winzigsten Blutspuren, die der Mann auf seinem letzten Weg hinterlassen hat. Die Spuren enden nur wenige Türen neben Alfreds Wohnung. Auch auf mehrmaliges Läuten und Klopfen öffnet niemand. Der zuständige Hausmeister wird geholt und die Wohnungsbaugesellschaft benachrichtigt. Nach deren Auskunft hatte der Verstorbene allein hier gelebt. Es gab weder Familienangehörige noch Verwandte oder Freunde, die zu benachrichtigen gewesen wären. Damit sind auch die Personalien des Mannes bekannt.
Auf Geheiß der beiden Beamten öffnet der
Hausmeister die Wohnungstür. Den Beamten und den Mitarbeitern der Spurensicherung bietet sich ein Bild des Schreckens. Die gesamte Wohnung ist von Blut verschmiert. Überall liegen mit Blut getränkte Kleider. Badewanne und Toilette sind ebenfalls mit Blut besudelt. Im Schlafzimmer unter der Bettdecke finden sie in Höhe des Unterbauches einen riesigen Blutfleck, in dessen Mitte ein dicker, schwarzer Klumpen einer gelartigen Substanz klebt: teilweise geronnenes Blut. Die Mitarbeiter der Spusi schließen daraus, dass das Opfer hier über viele Stunden hinweg einen schweren Blutverlust erlitten hat. Ebenso ist davon auszugehen, dass der Mann in letzter Minute unterwegs war, um sich Hilfe zu holen, was
mehrfach keinen Erfolg brachte. Die Spurenlage deutet darauf hin.
Diese Leute würden sich wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten müssen. Wichtiger ist aber, herauszufinden, wie es zu den Ereignissen kommen konnte und welches Motiv hinter der Tat steckt.
Peinlich genau öffnen die Mitarbeiter der Spusi jede Schublade, jeden Schrank. Vielleicht gibt es irgendwelche Hinweise über die Tragödie, die sich hier offensichtlich abgespielt hat. Im wohlverschlossenen Wohnzimmer-schrank finden die Beamten eine große Anzahl von Pokalen, die auf eine aktive Sportlerkarriere im Kartsport hinweisen.
Dieser Spur werden sie auf alle Fälle nachgehen. Der vorhandene Laptop ist immer von Interesse und darüber hinaus müssen die sicher gestellten Fingerabdrücke dringend ausgewertet werden. Außerdem findet sich in einer Bettritze ein benutztes Kondom. Gentechnisch verwertbares Material!
Zuerst kümmert man sich um die Pokale. Den Gravuren ist zu entnehmen, dass die Pokale aus Wettbewerben der örtlichen Gehörlosenszene stammen. Von umgehend befragten Mitgliedern erfahren die Kommissare, dass der Verstorbene ein sehr stiller Mensch gewesen ist, zurückhaltend, stets hilfsbereit und im
Behinderten-Motorsport-Klub sehr aktiv. Auch der Vereinsvorsitzende äußert sich nur positiv. Feinde des Toten kennt niemand und Auseinandersetzungen untereinander sind ebenfalls unbekannt.
Schließlich findet die Polizei bei ihren Recherchen im Laptop des Toten mehrere Gay-Seiten, welche offensichtlich sehr rege genutzt wurden. Erst als es gelingt, die Passwörter der verschiedenen Chat-Seiten zu knacken, zeigt sich die wahre Identität des Toten. In diesem Hochhaus konnte er völlig unentdeckt seine Neigungen ausleben. Die jüngere Generation tut sich viel leichter damit, sich zu outen. Für jemanden, der bereits im Rentenalter ist, sind die inneren
moralischen Hürden zu hoch.
Ein paar Tage später besuchen Kommissar Kramer und sein Kollege Müller erneut den Nachbarn des Toten. Sie haben ein Foto, welches Alfred ähnlich sieht, in einem der Chat-Portale gefunden. Der Mann wird Rede und Antwort stehen müssen.
„Warum haben Sie uns verschwiegen, dass Sie den Toten kennen?“
Alfred ist leichenblass geworden, als ihn der Kommissar mit der Wahrheit konfrontiert.
„Ich habe mich so erschrocken, als Smiley plötzlich vor mir stand. Wir wussten beide
nicht, dass wir im gleichen Haus und fast neben einander wohnen.“
„Das erscheint uns unrealistisch. Und warum haben sie ihm nichtgeholfen?“
„Wir haben uns immer außerhalb und an neutralen Orten, vielleicht im Park oder in einem Hotel, getroffen. Und ich habe nicht im Leben daran geglaubt, dass alles so ernst ist“, greint Alfred.
Die Handys der beiden bestätigen die Auskunft Alfreds. Als die Kommissare fragen, ob Alfred einen gewissen Kamal kennt, verneint er sehr heftig. Man wird dieser Spur dringend nachgehen müssen. Möglicherweise kann die SMS auf dem Handy
des Toten neues Licht ins Dunkel der Angelegenheit bringen. Außerdem konnten in der Wohnung des Toten nur von ihm und einer weiteren Person Fingerabdrücke sichergestellt werden.
In keinem der Chat-Portale des Toten findet sich eine Person namens Kamal. Deshalb werden die Beamten eine erneute Nachfrage bei den Vereinsmitgliedern und beim Vorstand des örtlichen Behindertenvereins durchführen müssen.
Die Mitglieder verweigern jegliche Aussage oder erklären einfach, dass sie nichts verstehen. Auch die hinzu gezogene Gebärdendolmetscherin kann den Mantel des
hartnäckigen Schweigens nicht lüften. Erst der Vorstand gibt in einem Gespräch unter vier Augen einem der Kommissare den entscheidenden Hinweis.
„Es gab einmal kurzfristig einen Gast bei den Mitgliedertreffen. Er hieß Ahmed Abdullah oder so ähnlich und stammte aus XY, einem Ort im Umland. Er wurde einmal von einer Frau abgeholt, die ihn Kamal nannte. Kamal war ebenfalls stark hörbehindert. Der Tote und Kamal hatten mehrere Male gemeinsam das Vereinslokal verlassen. Aber Kamal ist nie wieder aufgetaucht. Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.“
Beinahe zwei Monate nach dem Vorfall wird
Kamal von Kommissar Kramer verhört. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Foto des Toten. Die Gebärdendolmetscherin sitzt gegenüber.
„Wir haben Ihre Fingerabdrücke in der Wohnung des Toten gefunden, ebenso Abdrücke ihrer mit Blut besudelten Schuhe und ein benutztes Kondom. Was ist geschehen?“
Kamal schweigt hartnäckig, lächelt, manchmal fast schon beschämt-berechnend. Immer wieder reden die Beamten und die Gebärdendolmetscherin auf ihn ein. Kamal soll endlich den Mund aufmachen und ihre Fragen beantworten.
„Ich kann nichts sagen.“
Mehrfach wiederholt sich die gleiche Szene. Auf Drängen der Dolmetscherin sagt Kamal schließlich, dass er ihretwegen nichts sagen kann. Sie ist doch eine Frau. Als schließlich ein Dolmetscher eintrifft, beginnt Kamal zu antworten. Stockend, langsam, Satz für Satz.
„Ich kenne den Toten. Meine Frau darf nicht wissen, dass ich mit diesem Mann seit mehreren Monaten eine feste Beziehung hatte. Ich bin Muslim. Sie wissen schon. Wir Männer … Mir zu liebe wollte Ali – so nannte ich ihn immer – auch Muslim werden. Und dazu muss doch dieses Ritual sein … Sie wissen schon. Also habe ich es vollzogen … aber daran stirbt man doch nicht. Ich habe es
doch auch …“
Kamal bricht in Tränen aus. „Aber das viele Blut … es hat gar nicht mehr aufgehört … und dann habe ich solche Angst bekommen … dann bin ich davon gerannt … einfach so … Es tut mir so leid! Bitte glauben Sie mir!“
©HeiO 27-05-2015