Langsam schob sich die Sonne über den Horizont. Sie entstieg ihrem Bett, Glut beladen einen letzten warmen Sommertag verheißend, während graue Wolkenstreifen wie Boote auf dem rosafarbenen Himmelsmeer dahin zogen.
Tara blinzelte schlaftrunken in den neuen Morgen, um kurz darauf faszinierten Blickes den Wolkenozean mit seinen Federschiffen zu scannen. Selten gab es solch einen Tagesbeginn. Schnell rückte sie ihre Staffelei zurecht und legte Pinsel und Aquarellfarben bereit. Dieses Himmelsschauspiel wollte sie gleich nach dem Frühstück einem jungfräulich weißem Blatt Papier anvertrauen.
Jungfräulich - bei diesem Wort, poetisch von ihr, einer Vorliebe entsprechend, gedacht, lächelte sie ein wenig wehmütig. Mit ihren fast
18 Jahren konnte sie, anders als die Mehrzahl ihrer Klassenkameradinnen, noch auf keinerlei Erfahrungen mit Adonis oder sonst einem heiß begehrten Jüngling verweisen. Worte und Farben und natürlich die Pferde waren bisher alles, was Tara erregte bzw. sie zum Träumen anregte. Bereits zwei mal war es ihr passiert, dass sie sich fast entblößt, nur mit einem seidigen Hauch von Nichts umhüllt, auf einer weißen Stute über ein Mohnblumenfeld galoppieren sah. Würde sich der schöne Traum noch einmal wiederholen?
Tara riss sich aus ihren Gedanken und eilte die Treppe hinunter. Wie immer hatte die Mutter ein kleines Frühstück bereitgestellt, frische Brötchen, selbst gekochte Kirschkonfitüre, Schwarztee „Earl Grey“,
Taras Lieblingssorte. Genussvoll biss das Mädchen in die frischen Backwaren.
Dann stürmte sie wieder zu ihrer Staffelei, um den Sonnenaufgang festzuhalten. Es war ihr letzter Ferientag. Morgen schon würde die Schule beginnen und damit auch ihr letztes, das entscheidende Schuljahr.
Ein Tohuwabohu von Gefühlen begleitete das Mädchen wenig später auf ihrem Weg zur Schule, deren Besuch vorab zwingend angezeigt war, um alle Informationen zum morgigen Schuljahresbeginn zu ergattern.
Tara lehnte ihr grünes Fahrrad gegen die Hauswand, was der Hausmeister mit einer Schimpfkanonade quittierte, und rannte die Eingangsstufen zum Foyer hinauf. Hier hing eine große Anschlagtafel mit allen wichtigen
Informationen.
Zu dieser frühen Morgenstunde war der Vorraum der Schule fast menschenleer. Nur vor der Pinnwand stand ein jüngerer, auffallend gut gekleideter Mann mit einem modernen braunen Aktenkoffer. Tara trat neben ihn und grüßte. Der Unbekannte wandte den Kopf, blickte auf das große blonde Mädchen und erwiderte den Gruß mit einem Lächeln. Dabei sahen Tara zwei verschieden farbige, große Augen an, ein hellblaues und eines in grün mit braunen Tupfen. Dieser Umstand war so frappierend, dass das junge Mädchen ihr Gegenüber unwillkürlich länger als beabsichtigt anstarrte, woraufhin sich dessen Lächeln zu einem breiten Grinsen erweiterte. Tara fühlte heiß
das Blut in die Wangen schießen. Für den Bruchteil eines Augenblickes durchzuckte der Gedanke an Flucht ihr Gehirn, doch nein, diese abermalige Peinlichkeit wollte sie sich ersparen. Immer noch lächelnd wandte sich der Mann zum Gehen und verließ die Schule.
Der erste Schultag hielt für die neue Klasse 12/1 mehrere Überraschungen bereit, eine davon war der neue Englischlehrer.
Nach dem Stundenklingeln erschien im Türrahmen Taras Bekannter vom Vortag.
„Jan Zimmermann“, stellte er sich der Klasse vor. Taras Herz begann zu pulsieren, als befände sie sich eben auf einer 10.000-Meter-Strecke.
Alles an Jan war anders als an den Lehrern,
die sie bisher kannte. Seine Art, sich geschmackvoll und stilsicher zu kleiden, war ihr gestern bereits aufgefallen. Der frische Duft seines Körpersprays, ein Hauch von Orange, Ingwer und Moschus auf seiner Haut, unterstrich den männlich-sportlichen Charakter und löste bei Tara einen regelrechten Sinnesrausch aus, wenn er neben ihr stand. Sie konnte sich dann schwer auf ihre Texte konzentrieren. Noch auf dem Nachhauseweg verfolgte sie sein Bild, und stets glaubte sie, den betörenden Duft seines Parfüms zu spüren.
Jan hatte 4 Jahre in Indien gelebt und dort Studenten in der deutschen Sprache unterrichtet.
Nun also ließ er seine 12-Klässler so oft es
ging in Gedanken mitreisen auf den fernen Subkontinent, in das Land zwischen gestern und übermorgen, ein Land der 1000 Wunder.
Sie ritten mit ihm auf Elefanten am Fuße des Himalaja, sprachen mit hoch gebildeten Sikhs, fuhren in Rikschas durch Kalkutta, verfolgten, wie Fakire ihren Herzschlag verlangsamten, erlebten die Unendlichkeit der Götterwelt und unsägliche Armut, aber auch den Flug von Raketen zu den Sternen. Er ließ sie den Duft der Gewürze spüren und den Brandgeruch der Toten.
Englisch wurde zum Abenteuer,. und Tara fühlte sich mit jeder Stunde stärker zu ihm hingezogen. Verdammt! Musste sie sich gerade in ihn verlieben?
Kopfschüttelnd betrachtete ihre Mutter die neue Vorliebe der Tochter, Vokabeln zu büffeln und Texte zu lesen bis zur Besessenheit. Fast täglich unternahm Tara lange Spaziergänge, die sie stets an Jans Haus vorbei führten. Würde sie ihn sehen, würde er mit ihr sprechen?
Sie verfluchte die Wochenenden, die ihr seine Gegenwart vorenthielten und wartete voller Ungeduld auf den Montag, wenn sie ihm endlich wieder begegnen würde.
Jan blieb freundlich, zuvorkommend und unverbindlich. Er behandelte alle seine Schüler gleich, genau so wie ein guter Lehrer sich eben verhalten muss.
Nur, wenn sie sich auf dem Flur begegneten
und hin und wieder ein privates Gespräch führten, ruhte der Blick seiner bunten Augen länger als gewöhnlich auf Tara. Sofort signalisierte ihr ein Kribbeln im Bauch die Achterbahnfahrt ihrer Gefühle. Wie gern hätte sie sich jetzt an ihn geschmiegt!
Er war verheiratet, ja, leider, und dennoch genoss sie dieses Sehnen nach ihm, all die Gefühle ihrer ersten Liebe. Es schmerzte, und es war unendlich schön zugleich. In ihren Träumen lag sie in seinem Arm auf einer grünen Wiese, und das weiße Pferd von einst graste neben ihnen. All ihre Gedichte und Bilder galten jetzt ihm, und sie lernte emsiger als jemals zuvor.
Dem Winter folgte ein kurzer Frühling und zu
Beginn des Sommers bestand Tara ihr Abitur mit dem Prädikat „Ausgezeichnet“.
Taras Vater war ungeheuer stolz, er überreichte der Tochter einen großen Strauß roter Rosen und ließ sie damit gefühlte 100 Mal ablichten.
Tara war genervt. Sie wartete nur auf diesen einen Abend, den Abend des Abschlussballes. Noch einmal trafen sich Schüler, Lehrer und Eltern, um ausgiebig und ausgelassen zu feiern. Die Abiturienten feierten die hinter sich gelassene Schulzeit, verabschiedeten sich vom Stress, von Glücksmomenten und Tränen, von einem 12 Jahre währenden Lebensabschnitt, in dem sie zu Erwachsenen reiften.
Es ging auf Mitternacht zu. „Darf ich bitten?“
vernahm Tara plötzlich die vertraute Stimme an ihrem Ohr, und ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus. Er war gekommen, endlich. Zu weichen Bluesrhythmen lag sie in seinen Armen. Die ganze Welt schien in diesem Augenblick mit ihnen eins zu sein. Tara flog zu den Sternen und an seinem fordernden Griff spürte sie, dass er ihre Gefühle erwiderte.
„Komm morgen Nachmittag zu mir“, bat er sie beim Abschied. Da legte Tara ihm den Strauß roter Rosen in den Arm. „Danke, für alles!“
Sie sah in seine bunten Augen, er hielt ihre Hand und deutete galant einen Handkuss an.
Am nächsten Nachmittag stand sie klopfenden Herzens vor seiner Tür. Er
erwartete sie bereits, auf dem kleinen Tisch standen Gläser mit Gin-Fizz.
„Dieses Getränk liebt man in Indien. Je nach Stimmungslage trinkt man es mit viel oder wenig Gin.“
Tara nippte vorsichtig an dem unbekannten Cocktail. O, ja, er schmeckte, aber sie sollte besser aufpassen, das leicht säuerliche Gemisch schien nicht ohne Wirkung zu sein.
„Du bist jetzt nicht mehr meine Schülerin.“ Jan grinste burschikos, bevor er wieder eine seiner vielen Anekdoten erzählte. Tara lauschte gebannt. Ihre entblößten Füße spielten auf dem blau-weißen dicken Wollteppich, der ob seiner eingewebten Goldfäden überaus edel wirkte.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, begann Jan,
ergriff ihre Hand und führte sie zu einem alten Grammophon.
Fasziniert strich Tara über den riesigen Schalltrichter. Jan legte eine Platte auf und dem Trichter entwichen krächzende Töne. Trotzdem erkannte sie den Schmusesound vergangener Zeiten. Hier, in den kleinen Raum, passten sogar diese Klänge, die sie anderorts zum sofortigen Schweigen gebracht hätte.
„Es war sehr schön gestern“, flüsterte das junge Mädchen zaghaft und ihr Herz schien sich fast zu überschlagen.
Jan nahm Taras Kopf in beide Hände, seine Lippen näherten sich ihrem Gesicht, zärtlich küsste er sie. Tara erwiderte seine Zärtlichkeit erst vorsichtig, dann so ungestüm, als wolle
sie ihre gesamte angestaute Leidenschaft in diesen einen Kuss legen. Nie zuvor hatte sie so gefühlt, bebend vor Glück liefen ihr Tränen übers Gesicht.
Nein … Unvermittelt riss sie sich von ihm los.
„Ich kann nicht, du bist verheiratet.“
Jan streichelte das junge Mädchen verstehend.
„Ich werde auf dich aufpassen, Tara“, versprach er ihr, als sie ging.
Zu Hause warf sich Tara auf ihr Bett und weinte und weinte. Sie weinte all ihre Sehnsucht, ihre Leidenschaft und ihre Verzweiflung hinaus. Sie weinte um ihre große Liebe, die sich nie erfüllen würde.
Im Herbst verließ Tara ihre Heimatstadt. 600 Kilometer entfernt in einer neuen Stadt gewann sie neue Eindrücke, neue, interessante Menschen begegneten ihr, mancher wurde ein guter Freund. Doch Jan behielt seinen Platz in ihrem tiefsten Inneren, stets trug sie sein Bild bei sich.
Die Jahre vergingen und die Arbeit bestimmte mehr und mehr Taras Leben. Manchmal schien es ihr, als fände sie darin die Befriedigung und das Glück, welche ihr im Privaten verwehrt blieb. Oder gestattete sie sich nur kein neues Glück? Männer kreuzten ihren Weg, dieser oder jener verstand es, ihr Interesse auf sich zu ziehen. Doch bald schon verglich sie ihn mit Jan und so überdauerte keine ihrer Beziehungen.
Der Sturm des Lebens wirbelt uns mitunter kräftig umher und lenkt unsere Wege ungeplant in Richtungen, die, gleich einem Eisberg, der nur an der Oberfläche sichtbar, zum Großteil aber verborgen ist, von unseren innersten Gedanken und Wünschen gesteuert werden. Und so verschlug er Tara nach 10 Jahren wieder in ihre alte Heimatstadt.
„Jan Zimmermann, an den denkst du noch?“ Die Mutter schlug wie gewohnt ihren vorwurfvollsten Ton an, als Tara sich nach dem Lehrer erkundigte.
„Er ist inzwischen geschieden, kein Wunder…“, fügte sie herablassend hinzu, wobei offen blieb, worin das Wunder bestehe.
Tara überhörte die provozierende Tonlage
ihrer Mutter. Nein, sie würde mit ihr nicht über ihre Gefühle sprechen.
An ihrem ersten freien Wochenende suchte sie das vertraute Haus auf und klingelte an Jans Wohnungstür.
Tara zählte die Sekunden, bis Jan öffnete. Sein Blick wechselte von ungläubiger Überraschung über Verstehen zu unbändiger Freude. Da war es wieder, dieses Leuchten, der Glanz seiner bunten Augen! Mit einem leisen Aufschrei flog Tara in seine Arme. Nichts, aber auch gar nichts würde sie diesmal von ihm trennen.
Es war, als hätte es die zehn Jahre nicht gegeben, als hätte Tara all ihre Leidenschaft für diesen einen Moment aufgespart.
Sie fielen übereinander her, wild und
ungestüm wie der Wasserfall, den die Sonne aus ewiger Froststarre befreite, dann wieder berührten sie sich zärtlich liebkosend, als fielen die sanftesten Tautropfen des beginnenden Morgens auf sie hernieder. Ihr Geben und Nehmen war ein Geschenk, das jeder dem anderen überreichte in der Gewissheit des Gleichklanges ihrer Seelen. Mit einem letzten befreienden Seufzer sank Tara in Jans Arme und ruhte ermattet an seiner Seite. Später durchlebten sie bei einem Glas rotem Bordeaux das vergangene Jahrzehnt in all seinen Facetten.
„Ich wusste immer, was du tust, wo du bist“, sagte Jan. „Du brauchst mich jetzt nicht mehr, um auf dich aufzupassen“, fügte er nach einer Weile hinzu. Komisch, das klang irgendwie wie
Abschied, ein Abschied für immer. Nein, Tara verdrängte schnell das unbestimmte Gefühl in ihrem Inneren. Sie täuschte sich, ganz sicher. Jan war ja neben ihr, und er liebte sie.
Als Tara wenige Tage später wieder an Jans Wohnungstür klingelte, öffnete ihr niemand.. Auch die darauf folgenden Male nicht. Sie befragte die Nachbarn, doch keiner wusste, wo der Lehrer sich aufhielt.
Der erneute Verlust bereitete Tara schier körperliche Schmerzen, aber ganz sicher hatte Jan seine Gründe, so wortlos zu gehen. Zehn Jahre, sie hatten auch in seine Züge tiefe Spuren gegraben, in seinem Gesicht, von vielen feinen Falten gezeichnet, hatte sie sie gesehen, in seinem Wesen hatte sie sie
nur erahnt. Da schien eine Veränderung zu sein. Doch er liebte sie und vergaß sie nicht, dessen war sie sich sicher.
Etwa ein Jahr später, an einem Samstag im März, schlug Tara wie gewöhnlich die Lokalzeitung auf. Der Fotograf hatte die ersten Vorboten des beginnenden Frühlings eingefangen. Tara blickte amüsiert auf das Bild mit dem dicken Amselmann zwischen den Krokussen. Ach, die Stadtverordneten stritten sich um die örtlichen Kita-Plätze, wieder einmal.
Am unteren Rand der Seite prangte in einem schwarzen Rahmen JAN ZIMMERMANN.
Tara starrte auf die dicken Lettern, die in ihrem Tränenschleier zu tanzen begannen,
bis sie völlig verschwammen. Die Zeitung war ihr längst aus den Händen entglitten.
An einem sonnigen Märztag stand eine junge Frau an einem frischen Grab.
„Meiner ersten großen Liebe“, flüsterte sie und übergab der Erde einen Strauß roter Rosen.