Es war trüb, nebelig und nass, als ich das Berliner Straßenlabyrinth langsam betrat, den vertuschten Umriss des Hauptbahnhofs hinter mir und den stechenden Regen hinterlassend. Ein halbleerer Bus mit Werbung und überreiztem Chauffeur mit schmalzigen Locken und grätigen Fingern. Ein interesseloser Ausdruck seiner Hamsteraugen betrachtete mich mit flegelhafter Eindringlichkeit des Polizisten mit chronischer Adipositas.
Ich überreichte ihm die etwas zerknüllte Monatskarte und ging in die muffige Kabine, wo ein Typ mit Zahnklammer und herausgefallener gelblicher Zunge schlafend saß.
“Raucher „ dachte ich, über dem Mann mit Interesse beugend. “
“Was machen Sie dort? „ Flüsterte der Fahrer.
Ich warf einen zärtlichen Blick auf ihn und sagte:
“Der Mann hört nichts. Reden Sie nur ruhig, Monsieur."
Der Fahrer wendete sich wieder ab und fuhr los. Ich setzte mich behutsam neben ihm und schloss meine ermüdeten Augen. Ob er nun von etwas träumte oder unumkehrbar eingeschlafen war, blieb ungewiss.
Ohne sich in die Frage zu vertiefen, genoss ich jetzt endlich die ruhige Fahrt,
die aller mindestens circa dreißig Minuten dauern sollte. Wohl möglich, dass ich bei meinen halb friedlichen, halb nervlichen Gedanken in tiefem Schlaf versunken war und dachte jetzt etwas unbestimmt und langsam. Ich konnte meine feuchten Augenlider zusammenschrumpfen fühlen und eine leichte Bewegung meiner Haare, die wegen dem Luftzug angestanden waren.
Ich schlief.
Ich schlief und träumte über Restaurants. Die luminöse Nacht. Einige Männer, die ich nicht kannte, passierten langsam vorbei. Ein Mann mit weißen Brettchen und struppigem Haar und langer Nase schaute mich gutmütig an
und wollte schon zukommen, als ich meine Hand plötzlich aufhob und rief :
„Halt! Bleiben Sie wo Sie sind, Herr Goethe!“
Er blieb stehen und lächelte mich herzlich an. Seine fragenden Augen betrachteten mich neugierig und dann sagte er still und überzeugend:
“Haben Sie doch keine Angst! Ich schreibe nicht mehr. „
Ich spannte mich ein bisschen aus und sah ihn misstrauisch an.
"Ich hab mich nur an Sie gewendet, weil ich hier eine schöne Wirtin kenne und Sie wie ein Diener aussehen."
Diener? DIENER? Meine schönen lackierten Schuhe und teurer
Abendanzug! Meine Wut war grenzenlos. Ich konnte das nicht mehr ertragen und stieß aus:
“Ihre Genialität, Herr Goethe gibt Ihnen kein Recht mich zu beleidigen. Erfreulicherweise, hab ich Ihren Faust in der Schule versäumt und ich habe kein Bedauern, glauben Sie mir! Auf Wiedersehen! „
Ich richtete mich abrupt auf und als ich schon Lebewohl sagen wollte brach der Mann in Lachen aus.
“Genialität… haha… sagen Sie, mein Herr, das ICH genial bin? Sie haben nichts aus meiner Feder gelesen und jetzt sagen Sie, dass ich….haha…. Dass ich GENIAL bin! O Gott , dieselbe
Geschichte. Woher wissen Sie denn das? „
Der Mann schüttelte den lachenden Kopf und sabberte.
“Ich … ich… Ist das nicht wahr? „Fragte ich etwas stammelnd.
“Doch doch! „ Sagte er eilig. “ Die Ewigkeit kann man niemals verbergen, doch ich würde darüber streiten, dass sie für irgendetwas überhaupt ein anständiges Argument finden können. Aber das brauchen Sie ja auch nicht. Ich hab mich immer darüber gefreut, solche Menschen wie Sie zu treffen, weil Sie solche Unbefangenheit und makellose Charakterfestigkeit und kindliche Biederkeit besitzen, dass es so gemütlich
zu sein scheint! Ich konnte einfach nicht so ruhig an ihnen vorbeigehen. Die Untergeordneten, deren Hirn mit irgendwelcher literarischen Überlast nicht befleckt ist! Eher Hochgenuss ist es jetzt für mich mit Ihnen zu reden. Und ich kann ihnen schwören, dass nichts auf der Welt mir so viel Spaß macht, wie mit solchen Menschen wie Sie zu kollidieren."
Der Mann Goethe lachte etwas mokant und jäh und sah mich lässig an und sagte: “Und bitte, seien Sie nicht so gemein, Herr Drossel. Meine Genialität hat wahrscheinlich mit ihnen nichts zu tun, und versprechen Sie mir, dass Sie von nun ab nichts Derartiges sagen
würden. Und jetzt ist unsere ruhige Fahrt zu Ende."
Pop!
Und ich war wieder in einem Bus. Es regnete immer noch.
Am nächsten Tag hab ich den ganzen “Faust „ schon bis Mitternacht zu Ende gelesen.