Frank
‚‚Ting‘. So klingt es, wenn der Hahn binnen eines Augenblickes aus seiner Spannung auf das Zündplättchen der Patrone in der Kammer trifft. Danach wird Pulver entzündet und das Projektil wird aus der Hülse mit annähernder Schallgeschwindigkeit durch den geriefelten Lauf der Pistole gejagt. Den Einschlag und die verheerende Wirkung von einer Waffe deren Lauf im Mund in den Gaumen in Richtung Gehirn gedrückt wird, nimmt der Betroffene gar nicht mehr wahr. So bleibt mir wenigstens der Trost, dass meine Tochter nicht noch mehr leiden musste.‘
Während Frank regungslos verstummte und aus dem Fenster starrte, kämpfte Vanessa Lehman sichtlich um Fassung. Sie saß aufrecht in ihrem Sessel und ihre Hand mit dem Kugelschreiber sank mit jedem Satz, den sie gerade von Frank hörte immer ein Stück weiter runter in ihren Schoß. Der letzte Satz von Frank verhallte in ihrem kleinen Behandlungsraum und der Druck auf Vanessas Brust ließ nur langsam nach. Zögerlich begann sie damit, sich Notizen in ihrem schwarzen Notizbuch zu machen. Das einzige Geräusch im Raum ist das langsame, raue Atmen von
Frank und die Bleistiftmine, welche sich in Vanessas Moleskin-Buch Wort für Wort kratzend abnutzt. Sie bevorzugte Bleistifte, weil deren Minen nicht einfach versiegen oder in den ungünstigsten Momenten auslaufen. Vanessa selber glaubte in diesem Moment gar nicht zu atmen. Sie zuckte vor Schreck förmlich zusammen, als Frank erneut das Wort ergriff.
‚Ich habe ihnen noch kein Wort über mich erzählt, und sie machen sich bereits die ersten Notizen?‘
‚Sie haben mir bereits jede Menge erzählt, Frank. Die Essenz aus ihren ersten Worten: Sie sind ein Mensch mit festen Familienwerten. Woher ich das
weiß? Sie frühstücken mit ihrer Familie, das bedeutet sie legen Wert darauf Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Weiterführend: sie würden sich für ihre Familie opfern. Sie sehen sich als der Beschützer der Familie. Sie sitzen hier und haben sich nicht selbst das Leben genommen oder es zumindest versucht, weil sie denken als Beschützer versagt zu haben. Ihre Frau lebt noch, es existiert noch immer Familie die beschützt werden muss. Diese Familienwerte stehen gleichzeitig für ein allgemeines Wertesystem. Für Kontinuität und Verantwortungsbewusstsein. Das haben sie mir alles bereits über sich
preisgegeben, während sie zurück zu dem wohl schmerzlichsten Moment ihres Lebens gereist sind.‘
‚Dann wäre ja geklärt, dass ich ein guter Mensch bin und wir sind hier fertig. Meinen sie nicht?‘ Seine Stimme war leise aber klar und gerade so laut, dass man jedes Wort gut genug verstehen konnte. Er hätte lauter sprechen können, aber sein Stimmvolumen war groß und er hat gelernt seine Stimme bewusst einzusetzen. Durch die Kraft seiner Lungen und Stimmbänder reichte schon fast ein tonhaftes Flüstern. Frank blickte ausdruckslos in das etwas verdutzte Gesicht von Vanessa. Sein Blick war so
eindringlich, dass sie sich ungewollt eingeschüchtert fühlte. Ihre Körperhaltung verschloss sich automatisch. Sie presste die Knie feste zusammen und schob ihr Becken im Sessel weiter nach hinten. Ihre Sitzhaltung wurde aufrechter und die Pupillen weiteten sich um ein gutes Drittel. Wachsamkeit. Schutzhaltung. Franks Gesichtszüge waren wie in Stein gemeißelt. Die Stirn war glatt, die Augenbrauen hingen tief in die stechend blauen Augen. Diese blickten hypnotisch und durchdringend in die grünen Augen von Vanessa. Die Augenlieder waren kaum merklich angespannt. Nur kleine Fältchen
verrieten die Anspannung. Die Kiefermuskeln drangen an den Wangenknochen hervor während Frank die Zähne mal mehr mal weniger stark aufeinander presste. Um seinen Mund herum verrieten viele kleine und lange Falten sein wahres Alter und die typischen sichelförmigen Falten umrahmten sein Mund beginnen bei den Nasenflügeln bis runter auf halben Weg zum Kinn. Franks Haut war nicht besonders schön. Es war eine geprägte Männerhaut, welche mit einem stoppeligen Dreitagebart überzogen war. Jede feine, kleinste Bewegung seiner Mimik wurde durch diesen leichten Bart verstärkt. Im richtigen Licht hatte das
entweder sehr sympathische Auswirkungen oder es ließ Frank bedrohlich erscheinen. Sein gesamter Körper war sehnig und muskulös. Nicht übertrieben, nur so viel, wie er mit eigenen Mitteln zuhause erreichen konnte. Kontinuität und Disziplin waren seiner Meinung nach der Schlüssel zum Erfolg.
‚Meinen sie nicht?‘ wiederholte Frank nicht lauter und nicht leiser als beim ersten Mal seine rhetorische Frage.
‚Nein. Das meine ich nicht. Wir sind schließlich nicht hier, um Trauerbewältigung zu betreiben. Wir sind hier, weil sie wegen vielfachen Mordes angeklagt werden. Darüber
sollten wir uns unterhalten. Sie erwähnten, im Koma wären sie nicht alleine gewesen. Wie meinten sie das?‘
‚So wie ich es sagte. Ich war nicht allein. Ich meine hier nicht den Quatsch mit außerkörperlichen Erfahrungen oder ein letztes Abschiedsgespräch mit meiner Tochter. Nein, das meine ich damit weiß Gott nicht. Sie haben keine Vorstellung, was ich dort erlebt habe. Ich lag nicht im Koma. Ich war einfach woanders. Ich kann es ihnen nicht beschreiben. Es war heiß und gleichzeitig kalt. Alles bewegte sich um mich herum, ich schien zu schweben. Es waren Existenzen dort und sie kommunizierten mit mir. Diese
Existenzen stellten mir Fragen. Wer ich sei, wo ich herkäme, wo ich hin wolle. Warum ich diese Wut in mir trage. Sie wollten mir helfen. Sie haben mir ein Angebot gemacht, wie ich mit meiner Wut, meinem Hass umgehen kann. Wer hätte an meiner Stelle nicht mit Ja geantwortet?‘
‚Und dann? Was ist dann passiert? Wie sind sie aus dem Koma wieder aufgewacht, Frank?‘
‚Nicht Koma.‘ korrigierte Frank die Psychologin spürbar gereizt aber noch immer ruhig mit geschlossenen Augen und leichtem Kopfschütteln.
‚Nicht Koma, das habe ich ihnen doch gerade erklärt. Ich weiß nicht was es
war, aber es war kein Koma. Nennen wir es doch einfach einen Ausflug. OK Vanessa?‘ die Beherrschtheit und Ernsthaftigkeit von Frank erzeugte bei Vanessa eine Gänsehaut, welche sich vom Nacken bis runter zu den Nieren verbreitete.
‚OK. Also, ein Ausflug. Wie sind sie von dem Ausflug wieder in ihr normales Leben zurückgekehrt?‘
‚Einfach so. Ich war einfach wieder da. So als ob man einen schlafenden Computer mit dem Betätigen der Leertaste wieder aufweckt. Einfach so.‘ Dann beugte sich Frank leicht aus seinem Liegesessel über die Lehne in Vanessas Richtung und flüsterte verschwörerisch
‚Und soll ich ihnen etwas verraten? Etwas für ihre so wichtigen Notizen? Ich kam nicht mit leeren Händen zurück. Ich habe etwas mitgebracht.‘ Er lehnte sich noch weiter über die Lehne, seine Züge im Gesicht wurden immer härte. Vanessa blendete das Büro um sich herum vollständig aus und bemerkte gar nicht, wie sie sich langsam wie von Geisterhand auch in Franks Richtung beugte. Ihre Pupillen erweiterten sich, der Mund öffnete sich einen Spalt. Der Stoff ihres Rockes knisterte leise bei dem Wechsel ihrer Sitzhaltung. Franks Hände griffen fester in die lederne Armlehne.
‚Etwas unvorstellbar Schönes. Etwas
von Wert, was diese Welt noch nicht gesehen hat. Aber wie das im Leben so ist, gibt es mit dem Licht auch immer Schatten. Ich habe zudem etwas ungeheuer Mächtiges und Gefährliches mitgebracht.‘
Vanessa war so gebannt von Franks Worten, dass sie beinahe von ihrem Sessel gerutscht wäre. Im letzten Moment fängt sie sich und rutscht wieder in eine normale Sitzhaltung.
‚Wie meinen sie das? Etwas Schönes und etwas Gefährliches?‘
‚Das werde ich ihnen erklären, wenn ich glaube, dass sie dafür bereit sind. Stellen sie mir jetzt bitte ihre Fragen,
damit sie ihre Analyse fertigstellen können. Sie mögen ihr Honorar auf Stundenbasis erhalten, für mich kostet das hier jeweils eine Stunde meiner Zeit. Auch wenn dieser Sessel hier weit bequemer ist, als die Ausstattung meiner Zelle, so ziehe die vier Wände und meine Isolation darin vor. Lassen sie uns das hier nicht in die Länge ziehen.‘
Vanessa war erneut etwas konsterniert. Das kannte sie nicht. Viele ihrer Patienten waren ungehalten, verständnislos oder einfach nur wirr oder aggressiv. Aber Frank war anders. Er hatte diese unterschwellige Aggressivität aber gleichzeitig eine
überlegene Beherrschtheit, welche sogar sie beeindruckte. Sie hatte für sämtliche Persönlichkeiten einen grundsätzlichen Standardansatz. Sie wusste, wie sie mit ungerichteter Aggressivität oder Schüchternheit, Trauer, Trotzigkeit oder Blendertum umgehen musste. Das hier war für sie neu. Das hier würde eine Herausforderung, eine neue Erfahrung werden. Dazu musste sie sich aber besser vorbereiten. Sie brauchte mehr Zeit.
‚Unsere Stunde ist um, Frank. Wir müssen das wohl auf morgen verschieben. Ich bin froh, dass wir heute den ersten Schritt gemacht haben und das Gespräch eröffnet haben.‘ Sie sah in
Franks Blick, dass er sie durchschaut hatte. Sie konnte aber nicht mehr zurück und drückte einen Knopf an ihrer Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch, um einen Wärter zu rufen, der Frank in sein Zimmer zurückbringen sollte. Der Wärter kam binnen weniger Momente. Ein hochgewachsener, kräftiger junger Mann dessen Unterarme vollständig mit kunstvollen Tätowierungen verziert waren. Frank erhob sich aus dem Liegesessel, streckte sich kurz, neigte den Kopf erst zur rechten Schulter ‚Knack‘ und dann zur linken Schulter ‚Knack‘. Er rollte seine Schultern ließ sein Genick erneut links und rechts knacken. Dann drehte er sich
in die Richtung des Wärters und streckte seine Arme aus, die Hände zu lockeren Fäusten geballt und die Innenseiten seiner Handgelenke nach oben gerichtet. Die typische Haltung, welche das Anlegen von Handschellen ankündigt. Ein zweiter Wärter erschien in diesem Moment in der Tür. Vor sich schob er einen Rollstuhl mit Fesselvorrichtungen an den Armlehnen und der Fußstütze.
‚Bitte setzen sie sich in den Rollstuhl. Arme auf die Lehne, Handflächen nach unten. Füße nebeneinander, Fußspitzen nach vorne richten. Ich lege ihnen jetzt diese Manschetten um ihre Handgelenkte und
Fußgelenke.‘
Während Frank in seinem Rollstuhl den Gang hinunter zum Fahrstuhl geschoben wurde blickte Vanessa den dreien aus ihrem Türrahmen hinterher. Sie schüttelte sich kurz, so als ob ihr ein kalter Schauer durchs Rückenmark gelaufen wäre. Sie streifte sich mehrfach über die Bluse und den Rock, so als ob sie etwas von sich abwischen möchte. Mit einem letzten Blick zu Frank, der sich im Rollstuhl mit dem Rücken zu immer weiter entfernte, trat sie ein paar Schritte rückwärts wieder in ihr Büro welches mittlerweile von den langen Schatten der untergehenden Sonne
durchzogen wurde.