Anja hatte es eilig. Musste sie doch schnell noch vor Dienstantritt einige Besorgungen im Supermarkt tätigen, denn ihr Mann sah es nicht gern, wenn er nach Hause kam und der Kühlschrank war leer.
Also schnell den Einkaufswagen geschnappt und …
Plötzlich stutzte sie und merkte schon, wie ihr Herz vor Aufregung flatterte und sie rote Flecken am Hals bekam.
Vor ihr lief er.
Er, dem sie vor über vierzig Jahren nur all zu gern ihre ganze Liebe geschenkt hätte.
Sie blieb stehen und schaute dem Mann hinterher, der an ihr vorbei schlurfte.
Er hatte sie nicht erkannte.
Sein Ziel, ohne links und rechts zu schauen
war einzig und allein die Getränkeabteilung, um …
Ja ... so schaute er auch aus. Schnell ein Sixpack Bier zum Frühstück, vermutete Anja, atmete erleichtert tief durch und schüttelte über ihre Aufregung den Kopf.
Sie hätte damals, nie im Leben gedacht, dass Edwin sich so entwickeln würde.
Gedacht. Nein gedacht hatte sie damals wirklich nicht und sie hätte es wohl auch niemals wahr haben wollen.
Während sie noch einen Blick auf ihn warf, formte sich in ihren Gedanken schon eine Idee.
Im Projekt 30 Tage – 30 Briefe fehlte noch immer der Brief an einen Schwarm.
Edwin. Edwin bekommt diesen Brief.
Hallo Ed,
kannst du dich noch erinnern?
Vor ... oh Gott ... vor vierzig Jahren?
Edwin.
Anja kaute auf ihrem Füllhalter und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie erinnerte sich an damals. An damals, als er einfach mal so in der Tür auftauchte und sich alle nach ihm umdrehten.
„He der Neue. Edwin. Aber alle sagen nur Ed.“, hörte Anja das Getuschel der anderen Mädchen hinter sich.
Wie kann man sein Kind Edwin nennen. Ein komischer Name für einen Sechzehnjährigen.,
überlegte Anja und blickte neugierig in Richtung Tür. Da stand er und schon spielte der Name für Anja keinerlei Rolle mehr.
Sie konnte die Augen nicht von ihm lassen. Mit seinen dunkelbraunen schulterlangen Locken, seinen fast schwarzen Augen und dem dunklen Flaum auf der Oberlippe war er der Junge ihrer Träume.
Er stand in der Tür zum Klassenzimmer, groß und mit einem selbstbewussten Grinsen im Gesicht. Er ließ seinen Blick über die anwesenden Schüler schweifen und marschierte schnurstracks auf die Checker der Klasse zu. Gesucht und gefunden.
Oh man, muss das ausgerechnet so einer sein, schoss es Anja durch den Kopf. Einer von denen, die so gar nicht in ihrer sozialen
Riege spielte. Einer von denen, die in den Pausen nach Hause verschwanden, um eine schnelle Nummer zu schieben, die sich mit ihren Eroberungen brüsteten und die „Qualitäten der Flachgelegten“ gemeinsam auswerteten. Angeblich coole Jungs eben.
Da saßen sie, Ralf genannt Ralle und Carsten auch Rauchi gerufen, und feixten blöde in die Runde. Blöde waren sie nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Eigentlich waren sie sogar hochbegabt und intelligent. Nur, dass sie das eben nicht sein wollten. Uncool halt. Deshalb tarnten sie sich wohl auch mit echten Nullcheckern wie Uwe und Bernd. Große Klappe und Vakuum im Kopf.
Warum musste Ed sich unbedingt dieser Clique anschließen?
„Erde an Anja. Hallo. Nun starr den Kerl doch nicht so an.“, riss Petra ihre Freundin aus den Gedanken. Petra war eine von den wenigen in der Klasse, die eng mit Anja befreundet war. Beide Mädchen waren zur fast gleichen Zeit in die neue Schule gekommen und ihre gemeinsame Herkunft aus dem Süden des Landes schmiedete ein unsichtbares Band um sie, gegen den Rest der Welt.
Es war nicht so leicht, mit einem Dialekt, den kaum einer verstand oder verstehen wollte, in diesem Klassenverband zu bestehen.
„Oh. Hab ich gestiert? Tut mir leid. Hoffentlich hat er das nicht bemerkt. Sonst hält er mich womöglich für so eine dumme Pute, die was von ihm wollen würde.“
Wollen würde … schon ganz gern. Aber
merken musste er es nicht. Jetzt nicht. Nicht so öffentlich.
Petra zerrte Anja an ihre Plätze und meinte:
„Gesehen? Gesehen hat der nichts. Ist doch gleich zu den Blödmännern rüber. … komm schon. Der Unterricht fängt gleich an. Der olle Fiedler steht schon vorn.“
Dann klingelte es auch schon und Herr Fiedler, der Deutsch- und Geschichtslehrer der zehnten Klasse brüllte quer durch Raum: „Für die Herrschaften, die geflissentlich die Schulklingel überhören … hätten Sie die Güte, sich an Ihre Plätze zu begeben, damit ich etwas für mein Geld tun und Ihre leeren Köpfe mit Wissen anreichern kann? … Ach … und Edwin, sie setzen sich neben Anja. Petra bitte eine Bank nach hinten neben Ralf … und
Carsten … Sie bitte in die Fensterreihe. Ja ... ja nun kommen Sie schon. Zwischen Anja und Clara sind Sie gut aufgehoben.“
Boah, das kann ja wohl nicht wahr sein. Eingekesselt. Rundherum nur Idioten. Na prima. Damit wäre dann meine Mitarbeit im Unterricht auf Eis gelegt. Der Fiedler muss doch nicht denken, dass ich jetzt noch einen Ton von mir gebe, beschloss Anja.
Gequält schaute sie über die Schulter zu ihrer Freundin. Diese rollte auch nur mit den Augen und ein leichtes Kopfnicken in Edwins Richtung sagten mehr als genug.
Anja hingegen traute sich nicht, Edwin auch nur anzusehen, geschweige denn, mit ihm zu reden. Nichts für ihn, der darauf aus war ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Also fing er mit
seinen langen Beinen an, die Bank ins Wippen zu bringen. Sichtlich machte es ihm Spaß, seine ruhige schüchterne Banknachbarin zu ärgern. So nach dem Motto, irgendwie muss ich mich ja bemerkbar machen.
Verschmitzt beugte er sich nach vorn, um ihr ins Gesicht sehen zu können und sie anzulachen.
„He Ed, willste die Sachsentusse aus eurer Mitte vergraulen? Ich helf dir dabei.“, zischte Uwe, der in der Reihe vor ihnen saß, dem Neuen zu.
Uwe. Zinken ohne Ende und Nasenlöscher, dass man hätte bis ins Hirn schauen können, wenn denn da eins gewesen wäre. Hohl in der Birne bis zum Abwinken.
„Schau dir mal der ihr Holz vor der Hütten an. Man, wenn du zwischen die Ohren gerätst, stirbst du garantiert den Erstickungstod ... ha ha ha.“
Edwin schaute ihn an, dann Anja und ihre üppige Oberweite und kniff die Augen zusammen.
Plötzlich nahm er sein Lineal und knallte es dem Blödmann auf den Hinterkopf.
„Halt die Klappe, Blödi. Das hier ist mein Spielplatz. … und wer weiß, vielleicht sind die Titten ja nicht so übel. Oder spricht aus dir der Neid, weil sie dich nicht ran lässt? Wobei mit diesem Riechkolben stößt du vermutlich schon an die Grenzen, ohne sie angefasst zu haben.“
Dabei zwinkerte Edwin Anja zu, die rot anlief,
sich aber ein Lachen verkneifen musste. Endlich mal wer, der Uwe Paroli bot und gleich so ganz nebenbei sie verteidigte.
War das der Beginn einer wundervollen … Freundschaft?
Freundschaft? Anja wäre damals viel viel mehr bedeutend lieber gewesen. Man war sie in ihn verliebt. Aber … da war noch Clara., sinnierte Anja, bevor sie weiterschrieb.
Ich war so verknallt in dich und du hattest nur Augen für Clara.
Clara meine damalig zweitbeste Freundin.
Zwei Sätze. Wie weiter?
Anja grübelte, ob der Brief wirklich eine gute
Idee war. Was schreibt man jemanden, der einem vor langer Zeit das Herz gebrochen und es noch nicht einmal bemerkt hatte? Vielleicht einfach darauf los, alles was einem einfällt. Dann flog die goldene Feder des Füllhalters übers Papier.
„Deine Spuren im Sand, die ich gestern noch fand, hat die Flut mitgenommen ...“ war damals der Hit für einsame Herzen.
Nur gut, dass die Flut deine Spuren mitgenommen hat.
Ich kann mir heute gar nicht mehr vorstellen, was gewesen wäre, hätte ich deine Spuren gefunden :)
Gestern habe ich dich beim Einkaufen gesehen. Ich glaube kaum, dass du mich
erkannt hast. Du liefst an mir vorbei.
Deine noch immer schulterlangen Haare, heute fettig und ungepflegt, hatten mittlerweile Geheimratsecken. Dafür wuchsen die Haare unkontrolliert in deinem Gesicht.
Irgendein Komiker hat mal gesagt, die
Haare, die auf dem Kopf ausfallen, suchen sich einen anderen Platz am Körper. Deine haben sich zweifelsohne für einen kurzen Weg entschieden.
'Wie der Herr so's Gescherr!'
Faul wie eh und je.
Heute sehe ich die Dinge mit ganz anderen Augen, aber damals ...
Da kamst du zur Tür herein, groß,
braune Locken bis zur Schulter, einen Schnauzer (oder das, was es mal werden
wollte) und dunkelbraune, fast schwarze Augen. Alle Mädchen aus der Klasse gafften dich an.
Ich auch.
Boah, der ist es. Mir wurde heiß und kalt.
Seit dem Tag hielt ich mich ständig in deiner
Nähe auf, obwohl ich nicht viel hielt von der Clique, die ständig um dich herum war. Irgendwie wollte ich auch deine Aufmerksamkeit erhaschen.
Dann kam der Tag, der Tag meines 15.Geburtstages.
Zum ersten Mal in ihren Leben hatte Anja ihren Geburtstag so richtig mit Freunden feiern dürfen. Warum auch immer. Sie kann sich nicht mehr erinnern, weshalb es sonst nie
möglich war. Muss wohl an Weihnachten gelegen haben. So kurz vor den Feiertagen hatte scheinbar keiner Zeit oder was auch immer.
Voller Ungeduld fieberte sie nun dem Eintreffen ihrer Gäste entgegen.
Sie hatte von ihren Eltern einen Plattenspieler bekommen und hoffte nun, dass sie eventuell noch eine zweite Schallplatte dazu bekam. Ein Klingeln an der Tür verkündete die ersten Besucher.
Raimund, Kirsten und Frank standen vor der Tür und meinten, Clara werde sich um einige Minuten verspäten, weil sie noch eine besondere Überraschung für Anja habe.
Es war dann auch tatsächlich eine Überraschung.
Anja starrte mit weit aufgerissenen Augen Clara und ihre Begleitung an.
Ihr Herz begann zu rasen und eine tiefe Röte schoss in ihre Wangen. Vor ihr stand ...
Clara ließ Anja gar nicht erst Luft holen und meinte: „Hallo Süße. Alles Gute zum Geburtstag und ich habe dir hier jemanden mitgebracht.“ Dabei nickte sie zu Ed.
„Ich hoffe, du schickst ihn jetzt nicht wieder weg. Ich weiß, er war nicht eingeplant und es hat mich ein ganzes Stück Arbeit gekostet, ihn zu überreden. … Du weißt schon, wegen deiner Eltern. Die sind so … na ja.“
Anja stotterte ein Dankeschön und bat die Beiden ins Wohnzimmer, wo die Nachzügler mit Halli Hallo empfangen wurden. Nach anfänglicher Zurückhaltung wurde die Fete
etwas lauter, ungezwungener. Es wurde geredet, gelacht und getanzt.
Die Freunde hatten alle zusammengelegt und eine Platte mit Rock'n Roll mitgebracht. Da wackelte dann schon mal die Schrankwand. Anjas Mutter überwachte die Feier ihrer Tochter mit Argusaugen. Wenn sie glaubte, es würde keiner bemerken, verzog hin und wieder sarkastisch den Mund und verdrehte die Augen. So bald sie einen der Jugendlichen habhaft werden konnte, weil sich momentan vielleicht keiner mit ihm unterhielt, wurde er einem „Verhör“ unterzogen.
Ed und Anja, die fast den ganzen Nachmittag nebeneinander auf dem Sofa saßen und über dies und jenes sprachen, registrierten das
Gebaren der Mutter genervt und lästerten darüber ab. Davon abgesehen, dass sich Anja für ihre Mutter schämte, dass ihr ihr Verhalten gegenüber ihren Freunden peinlich war, fand sie diese Feier einfach himmlisch. Sie und Ed. Konnte es wirklich sein?
Aber wie es so oft ist, wenn es am Schönsten ist, ist es auch schon vorbei.
„So Leute, einen letzten Tanz. Es ist 22:00Uhr und damit Zapfenstreich.“, verkündete Anjas Mutter. Allgemein erstaunte Gesichter, aber was soll's.
Während Anja Frank, Raimund und Kirsten bereits zur Tür brachte und verabschiedete, war von drinnen der Schmusesong „Deine Spuren im Sand...“ zu hören. Wehmütig, etwas traurig, sehnsuchtsvoll... genau so.
Anja beeilte sich, um noch einen letzten Tanz mit Ed zu haben und …
Sie wusste nichts zu sagen. Was sie zu sehen bekam, als sie das Wohnzimmer betrat, verschlug ihr fast den Atem. Eng umschlungen und aneinander festsaugend wiegten sich Ed und Clara zu Anjas Lieblingssong. Sie merkten gar nicht, dass jemand ins Zimmer getreten war, dass sie nicht mehr allein waren.
Apropos allein. Wo war denn der "Anstandswauwau"? Ständig scharwenzlte sie hier rum und jetzt? Jetzt wo es wichtig gewesen wäre … war ihr wohl unangenehm, dieses Herumgeknutsche!?
Anja konnte ihren inneren Aufruhr kaum bändigen. Mühsam unterdrückte sie die ersten
Tränen, die ihr in die Augen schossen. … und dann die Erkenntnis, wieder eine zerschlagene Hoffnung, wieder ein schmerzendes Herz, wieder allein.
So war das damals. Damals an ihrem einzigen Geburtstag, der je mit Freunden gefeiert wurde. Anja seufzte leise.
Oh ja. Sie war gekränkt. Hatte wochenlang nicht mit den Beiden gesprochen. Selbst dann nicht, als sie wusste, dass sie kein Paar waren. Sie hatte Ed noch bis zum Schulschluss heimlich angeschmachtet, aber der Wunsch mit ihm zusammen zu sein, war verpufft. Es stand ständig die Frage zwischen ihnen, was wäre gewesen, wenn ...
Heute konnte Anja nur noch darüber lächeln.
Sie schaute auf ihr Briefpapier. Viel hatte sie noch nicht geschrieben. Stattdessen war sie in ihren Erinnerungen gefangen gewesen. Diese galt es nun zu Papier zu bringen.
Ich hätte nie den Mumm gehabt, dich einzuladen. Clara tat es für mich.
Wenn ich mich genau erinnere, war es auch der erste und letzte Geburtstag, an dem ich Freunde einladen durfte.
Es war schon irre.
Clara, Raimund, Kirsten, Frank und du zu meinem Geburtstag ... bei uns zu Hause im Wohnzimmer ... und meine Mutter immer mittenmang.
Ich weiß noch, ich hatte einen Plattenspieler von meinen Eltern bekommen und ihr habt
mir die erste Schallplatte mitgebracht „Rock'n Roll“.
Zum Glück wohnte unter uns keiner. Im Laufe des Nachmittags oder war es doch schon Abend wurde die Musik dann ruhiger, halt Kuschelrock.
Genau wie es sein musste, Clara und du
habt euch abgeschleckt.
Ich saß da, wie vom Donner gerührt ...
Meine Eltern versuchten mir dann später klar zu machen, dass so ein Loser eh nichts für mich wäre. Ich sei ohnehin erst 15 (ich dachte nur: andere in meinem Alter hatten schon Sex und ich würde wohl eine alte Jungfer werden) und hätte noch alle Zeit der Welt. Mein Hauptaugenmerk müsste die Schule, die Ausbildung, das Studium sein. Dann
würden sich auch die richtige Partie finden lassen. Solche Typen wie du (ich hatte scheinbar das „Mutter-Theresa-Syndrom“, fühlte mich immer zu solchen Kerls, wie dir hingezogen, um denen zu helfen) seien nur mein Verderben. Ich solle mich gefälligst fernhalten.
Ich verstand die ganze Welt nicht mehr.
Dich nicht.
Clara nicht.
Meine Eltern erst recht nicht.
Warum wollte mich eigentlich keiner verstehen?
Ich war todunglücklich.
Nicht das erste Mal und mit Sicherheit nicht das letzte Mal. Ja, heute sehe ich die Dinge mit ganz anderen Augen und ich bin dem
Schicksal dafür dankbar, dass alles so ist, wie es ist.
Mach's gut und leb' dein Leben, wie auch immer es aussehen mag ... ohne mich.
A.B.
Anja legte den Füllhalter beiseite und betrachtete ihr Werk.
Ein gelungener Brief, dachte sie.
Ja, so konnte er bleiben, der Brief.
Hm ja … und Ed war nicht der Erste, der ihr Herz gebrochen hatte.
Gebrochen? Es war nur ein kleiner Sprung, musste sie heute feststellen.
Einer von vielen und sicherlich folgen ja noch weitere Sprünge bis der EINE kommt und sie alle wieder kittet.