ein traum von rosen
Irgendwo zwischen Europa und Asien, in den Ausläufern eines der größten Gebirgsmassive der Erde, liegt jenes Tal. Dorthin führt keine Straße, keine Eisenbahn. Nur verborgene Schmugglerpfade und die Steige der Schaf- und Ziegenhirten ziehen sich hier durch die Steilwände und Schluchten der Bergriesen. Die Landschaft ist von atemberaubender Schönheit mit ihren steil aufragenden, Schnee bedeckten Gipfeln, mit dem kargen Baum- und Grasbewuchs und den Wasserfällen, die hier von den Gletschern zu Tal stürzen. In den Hochtälern gibt es gelegentlich kleine Ansiedlungen, die von einer oder mehreren
Familienclans bewohnt werden.
Diese gehen der Schaf- und Ziegenzucht nach und ringen dem Boden auf kleinen Feldern das Nötigste zum Leben ab. Wo aber genügend Feuchtigkeit vorhanden ist, füllt sich im Frühling und Frühsommer manchmal der ganze Talboden mit silbrig grün schimmernden Pflanzen, die mit ihren weißen oder zartvioletten Blüten alles in Schnee zu tauchen scheinen. Dann herrscht rege Betriebsamkeit. Die Männer sind unterwegs. Sie suchen bald die Flächen nach den großen Samenkapseln ab, ritzen sie vorsichtig und sammeln an den folgenden Tagen die ausgetretene Milch. Sobald auf den Schmugglerpfaden die ersten Händler
auftauchen, fließt Geld in die Ansiedlungen. Aber es ist nicht allzu viel, obwohl der Stoff auf dem Weltmarkt Unsummen an Geld in die Taschen der illegalen Dealer spült. Davon wissen die Bewohner dieser einsamen Täler nichts. Und die Armut bleibt ständiger Gast.
In einem dieser Dörfer lebt eine Frau, deren ganze Liebe ihrem Rosenstock gilt, welchen sie am Haus in einem windgeschützten Winkel hegt und pflegt. Sie hat ihn von ihrer Urgroßmutter geschenkt bekommen, als sie ihr Dorf verließ, um zu heiraten. Ihr Herzblut hängt an dieser außergewöhnlichen Rose, denn deren Blüten verströmen einen so intensiven Duft, dass ihr gesamtes Häuschen davon eingehüllt ist und jeder schon von
weitem weiß, dass ihre Lieblingsblume wieder blüht. Sie selbst fühlt sich dann zu Hause, wieder wie im Dorf ihrer Kindheit.
Eines Tages überlegt sie sehnsüchtig, wie sie diesen Duft bewahren könnte. Bisher hat sie einfach die Blütenblätter oder auch die ganze Blüte getrocknet, weil sie herausfand, dass der Duft auf diese Weise lange erhalten bleibt. Auch Tee hat sie schon daraus bereitet. Sein Geschmack ist unvergleichlich. Doch sie sucht und probiert weiter.
Außerdem erinnert sie sich dunkel, dass ihre Urgroßmutter ein Geheimnis hütete. Ob das vielleicht doch etwas mit den Rosen zu tun hatte? Und eines Nachts erscheint ihr wirklich
ihre Urgroßmutter im Traum und erzählt:
„Geliebtes Kind, ja, ich schenkte dir diese Rose nicht ohne Grund. In unserem Dorf lebten wir alle im Wohlstand, wie du dich vielleicht noch erinnern kannst. Du hast geheiratet, bist weg gezogen und die Zeiten haben sich geändert. Deshalb will ich dir heute unser Familiengeheimnis verraten. Unsere Familie ist aus einem Land, das weit in Richtung des Sonnenuntergangs liegt, hierher eingewandert. In jenem Land züchtete man schon seit vielen Menschenaltern diese herrlich duftenden Rosen. Und die Menschen kennen das Geheimnis, wie man ihren kostbaren Duft bewahren kann. Aber zuerst will ich dich
lehren, wie du aus deinem Rosenstock viele machen kannst. Schneide im Frühling kleine Stecklinge, pflanze sie an einen warmen Platz, halte die Erde feucht und gedulde dich. Die meisten werden zu neuen Pflanzen werden und dich in wenigen Jahren mit ihren Blüten erfreuen. Fahre so fort, bis du ein Feld damit bepflanzen kannst. Die duftenden Blüten sammle sehr früh am Morgen, aber nur bis zur Tag- und Nachtgleiche. Und nun zu unserem Familiengeheimnis.“
Im Traum beschreibt und zeigt ihr nun die Urgroßmutter alle Geräte und Verfahren, um den kostbaren Duft der Rosen zu gewinnen und zu bewahren. Schließlich fügt sie noch an:
„Bemühe dich, die anderen Frauen eures Dorfes für die Rosenpflanzung zu gewinnen. Es wird zu eurem Segen sein.“
In diesem Augenblick erwacht die junge Frau. Wieder und wieder überdenkt sie den Traum. Sollte ihre Urgroßmutter wirklich Recht haben? Und weil es noch Frühling ist, vertraut sie ihrem Traum und schneidet von ihrer heiß geliebten Rose die ersten Stecklinge, pflanzt und pflegt sie. Und je mehr sie ihre Rose schneidet, umso kräftiger wächst diese und schenkt ihr mehr Blüten als sonst.
Schon in diesem Sommer probiert die junge Frau im Kleinsten aus, was ihr die
Urgroßmutter im Traum verriet. Und wirklich: es gelingt!
Schon nach wenigen Jahren kann sie von einem kleinen Feld Blüten ernten und ihr Rosenwasser und Rosenöl sind in ihrem Dorf und in den umliegenden Dörfern sehr begehrt. So beginnt sie, die Käuferinnen für den Rosenanbau zu begeistern. Sie bringen die Blüten zu ihr und sie stellt alle die herrlichen Düfte her.
Eines Tages kommen zufällig zwei Fremde in das kleine Dorf. Über einen alten Schmugglerpfand haben sie hierher gefunden. Weil gerade Rosenzeit ist, erleben diese Männer den außergewöhnlichen Duft
und sind begeistert. Als Gäste aufgenommen, erfahren sie denn auch bald, dass es hier im Dorf eine Frau gibt, die diese Düfte bewahren kann. Und wirklich bringt man sie zu ihr. Einer der beiden Männer sagt:
„Wir haben gehört, dass ihr die Frau seid, die den Duft der Rosen zu bewahren vermag.“
Die Frau, Fremden gegenüber sehr zurückhaltend, meint: „Nun, die Leute sagen, dass ich die Kunst beherrsche, den Duft der Rosen in Fläschchen zu sperren. Aber was interessiert euch das? Ihr seid Fremde und könnt damit sowieso nichts anfangen."
Da erwidert der andere Mann: „Verehrte Frau, das ist so nicht richtig. Wir sind verheiratet und lieben unsere Frauen. Deshalb möchten wir sie gerne mit eurem Duft verwöhnen. Daher fragen wir, ob ihr uns vielleicht eine kleine Menge davon verkaufen würdet.“
Und der andere Mann ergänzt: „Wir haben zwar keine Schafe und Ziegen als Bezahlung, aber von uns bekommt ihr Geld.“
Nach einigem hin und her lässt sich die Frau beschwatzen und verkauft wirklich eine kleine Menge ihres selbst gewonnenen, kostbaren Duftstoffes. Die beiden Fremden bezahlen ihr eine so große Summe, dass selbst ihr Mann
feststellt: „Ich habe für den Mohnsaft eines ganzen Jahres noch nie so viel Geld bekommen wie du für diese winzige Menge Duft. Was müssen das für seltsame Fremde sein, die den wahren Wert des Mohns nicht zu schätzen wissen und erst recht nicht die süßen Träume, die er schenkt.“
Aber die Frau antwortet: „Sei still. Ich habe es längst bemerkt und verstehe es nicht, dass die Männer draußen auf den Feldern etwas von dem Mohnsaft zurück behalten, damit sie selbst auch öfter süße Träume haben können.“
Natürlich streitet ihr Mann das ab, aber das Gespräch endet doch in einer heftigen
Zankerei.
Die fremden Männer sind abgereist, es ist wieder Ruhe im Tal und den Dörfern eingekehrt. Nach geraumer Zeit stehen plötzlich die beiden Fremden erneut im Dorf. Das hat sich schnell herum gesprochen, besonders weil die Männer ein Gespräch mit allen Dorfältesten wünschen. Als endlich alle versammelt sind, gibt es große Neuigkeiten. Der eine Fremde begrüßt die Anwesenden mit folgenden Worten:
„Danke, dass alle Dorfältesten so viel Vertrauen haben und heute gekommen sind. Wie ihr alle wisst, haben wir der Frau hier“, und damit zeigt er auf die Gastgeberin von
damals, die das wunderbare Rosenöl und Rosenwasser bereitet, und fährt fort: „Rosenwasser und Rosenöl abgekauft. Der besondere Duft davon hat uns schon damals außerordentlich gefallen. Wir haben auch das kleine Rosenfeld begutachtet und uns von dem hervorragenden Zustand der Pflanzen und Blüten überzeugt. Und wir wissen, dass hier bevorzugt Mohn angebaut wird, was nicht erlaubt ist.“
Großes Gemurmel unter den Männern. Manche reagieren sogar mit Unmut. Aber als jetzt der zweite Besucher spricht, wird es wieder still:
„Wir bieten euch an, dass ihr anstelle von
Mohn Rosen anbaut. Die Pflanzensetzlinge bekommt ihr von uns. Ebenso stellen wir die Anlage auf, die es euch ermöglicht, die gesamte Rosenernte des Tales zu Rosenöl und Rosenwasser zu verarbeiten. Wir kommen jedes Jahr und kaufen euch die gesamte Menge der Produkte zu einem sehr guten Preis ab. Wie gut wir bezahlen, bestätigt euch die Frau hier.“
Die Angesprochene nickt mit dem Kopf, ist ganz rot im Gesicht vor Freude, Stolz und Aufregung und weiß kaum, wohin sie schauen soll. Die Dorfältesten mustern sie noch argwöhnisch, sind sie doch ein solches Handeln von einer Frau nicht gewöhnt. Da beruhigt der erste Fremde:
„Bitte, die Frau hat nichts Schlechtes gemacht. Wir haben sie gedrängt, uns etwas zu verkaufen. Und wir versprechen, dass wir einhalten, was wir euch angeboten haben. Geht jetzt in eure Dörfer und unterrichtet die Bewohner. In drei Tagen wollen wir uns wieder treffen und hören, welches Ergebnis ihr mitbringt.“
Ein Raunen geht durch die Männergruppe. Dann erhebt sich die Frau und sagt mit fester Stimme:
„Im Namen unserer Kinder und Enkelkinder bitte ich euch, lasst uns aus diesem Tal ein Tal der Rosen machen. Dann können endlich alle in Wohlstand und Frieden leben. Und
tragt es auch in die anderen Täler.“
Zuerst betretenes Schweigen. Dann vorsichtiges Nicken und schließlich leise Zustimmung. Auch die beiden Fremden freuen sich und die kleine Gesellschaft trennt sich.
Nach drei Tagen trifft sich die Gruppe wieder. Verträge werden vorgetragen, besprochen und dann unterzeichnet im wirklichen Sinn des Wortes, denn hier kann so gut wie niemand schreiben und lesen. Dann beginnt ein eifriges Werkeln im Tal. Ein paar Jahre später, das heißt heute, ist es erfüllt vom Duft der Rosen. Es gibt keine Familienfehden mehr, die Kinder können in der kleinen Schule
etwas lernen und schlichter Wohlstand ist eingekehrt. Und im Sommer, nach der Blumenernte, feiern alle gemeinsam ein großes Rosenfest. Aus Dankbarkeit!
© HeiO30-06-2011
Ideengeber für diese Geschichte war ein Zeitungsartikel über ein Hilfsprojekt, das sich um Rosenanbau in armen Regionen bemüht. Rosenöl ist ein wichtiger Rohstoff in der Kosmetikindustrie.