Heute war mal wieder einer jener Tage, an denen ich meine himmel-hoch-jauchzend-zu-tode-betrübt-Stimmung hatte.
Es war nichts Rechtes mit mir anzufangen. Hatte keine Lust, zu was auch immer, aber ... ich hatte ein Gefühl, als könnte ich Bäume ausreißen, als müsse irgendetwas fantastisches geschehen.
Doch es passierte nichts. Die Zeit verging und ich hatte nichts geschafft.
Ich hasste solche Tage.
Was, wenn mal jemand fragte, was ich den ganzen Tag getan habe?
Boah, ätzend.
... und dann geschah es.
Mein Mann gab mir aus der heutigen Post einen super dicken Brief. Ein Brief meiner
besten Freundin Bärbel.
Von ihr hatte ich auch schon lange nichts mehr gehört und jetzt einen Brief mit Übergewicht. Nun ja, in einem Jahr staute sich schon so manch Ereignis an, welches mitgeteilt werden wollte.
Ich war gespannt.
So setzte ich mich in meine Leseecke und tat das einzig Vernünftige. Ich las.
Hallo liebe Antje,
es tut mir echt leid, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe.
Ja, ich weiß, du ziehst jetzt die Stirn in Falten,
weil das Lange wohl sehr lange gewesen ist. Fast ein Jahr. Kannst du mir das verzeihen? Ähm ... und ja, ich habe ein Problem.
Ich höre dich schon sagen: „Das habe ich gewusst. Wie sollte es anders sein? Wenn jemand Probleme hat, bin ich scheinbar der einzige Ansprechpartner und jeder weiß, wo ich zu finden bin.“
Aber du bist ein so guter Zuhörer und meist musst du noch nicht mal einen Ratschlag geben, weil man allein eine Lösung findet, wenn man erst mal seinen Kummer bei dir abgeladen hat, sich alles von der Seele geredet hat.
Ich würde ja auch zu gern zu dir kommen und meine Tränen von dir trocknen lassen, einen großen Eisbecher gegen den Frust futtern und
hinterher eine alte Liebesschnulze auf Video mit dir schauen.
Gott, was vermisse ich das.
Aber im Moment bin ich hier so eingespannt, familiär und auch beruflich, so dass ein Wegkommen leider nicht möglich ist.
Am Telefon ... du weißt, wie ungern ich telefoniere. Doch schreiben, schreiben war schon immer unser beider Leidenschaft.
Du schreibst doch noch?
Ich habe deine Geschichten geliebt. Asche auf mein Haupt, denn ich habe schon so lange nichts mehr von dir gelesen.
Komm schon, Süße. Verdreh nicht die Augen. Ich kenne dich doch ganz genau.
Du sitzt jetzt da und murmelst vor dich hin: „Wenn Bärbel doch endlich zum Punkt
kommen würde und dieses Drum-Herum einfach lassen würde.“
Für mich ist das gar nicht so einfach. Ich weiß nämlich nicht wo und wie ich beginnen soll. Okay, okay!
Also dann von Anfang an.
Hm.
Du kannst dich doch sicherlich noch daran erinnern, dass ich vor ungefähr einem Jahr auf dieser Datingseite im Internet gelandet war. Natürlich ungewollt. Was sonst? Da habe ich ihn kennengelernt. Gabriel. Genau wie der Engel. Entschuldige, ich musste gerade schmunzeln. Ach Schnecke! Er sah so himmlisch aus.
Jeden Tag habe ich seine Fotos auf seiner Profilseite angeschaut. Ich glaube, ich habe
mich in ihn verknallt. Geht sowas? Sich in ein Foto verlieben?
Na auf jeden Fall haben wir uns dann auch auf anderen Seiten gefunden und haben da hin und wieder miteinander und gegeneinander gespielt, gezockt. Ich mochte seine Art, wie er schrieb, was er schrieb. Jeden Tag habe ich die Stunden, Minuten, Sekunden gezählt, bis er wieder on war.
Dann ... eines Tages musste er ins Krankenhaus wegen eines Routineeingriffs, so meinte er scherzhaft. Er melde sich, sobald alles vorbei sei. Aber er meldete sich mehrere Wochen nicht und ich wusste, da war etwas schlimmes passiert.
Antje ... ich habe es gefühlt.
Frag mich nicht, was ich in den Tagen
durchgemacht habe. Sich sorgen, ist noch viel zu milde ausgedrückt. Ich habe es niemandem erzählt. Es hätte eh keiner verstanden und eigentlich erwarte ich auch nicht, dass du es verstehst. Vielleicht verstehe ich es ja selber nicht einmal. Ich konnte jedoch nichts gegen diese Gefühle machen. Du glaubst nicht, wie ich erleichtert war, als Gabriel sich dann endlich wieder gemeldet hatte. Er schrieb, dass bei der OP nicht alles so gelaufen war, wie geplant. Sein Kreislauf hatte schlapp gemacht und so hing sein Leben am seidenen Faden. Er war lange in der Klinik, aber nun sei alles wieder so weit in Ordnung. Nun ja, noch viele Untersuchungen, viele Medikamente. Sein Leben würde nicht mehr so sein, wie es
einmal war. Aber er wolle das Beste daraus machen. Mir fiel ein Stein von Herzen.
Ich hätte vor Freude im Kreis hüpfen können. Endlich war er wieder da.
Jedoch merkte ich sehr schnell, dass er nicht mehr so unbekümmert, wie früher war. Irgendetwas belastete ihn und das war nicht gut für seine Gesundheit.
So habe ich ihn denn einfach gefragt. Während seines Krankenhausaufenthaltes hatte sich eine Bekannte um seine finanziellen und sonstigen Angelegenheiten gekümmert. Leider nicht zu seinem Vorteil. Rechnungen flatterten nun ins Haus. Später auch Mahnungen. Dumm, wie ich nun mal bin, aber ich habe ihn gefragt, ob ich helfen könne. Er wollte nicht. Erst als ich ihm
begreiflich machte, dass ich das Geld momentan nicht brauche und ihm geholfen wäre, stimmte er zu. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus und alles ging seinen Gang. Dann rief er an, dass man ihm trotz des Darlehns den Strom abgestellt hatte und er einstweilen bei einem Freund untergekommen sei. Die erste Pfändung sperrte dann letztlich sein Girokonto und er fragte, ob er vielleicht ... nun ja, du kannst es dir bestimmt denken.
Ich wäre zu gern bereit gewesen, wenn wir das wie und warum es so weit kommen konnte, hätten besprechen können. Ich wäre so weit gegangen, alles so zu regeln, dass er ein geordnetes Leben hätte führen können. Da er nun auch wieder Arbeit hat, hätte er mir
das Geld in monatlichen Raten zurückzahlen können.
Jetzt wo ich dir das hier alles schreibe und mir vorstelle, wie du deinen Kopf schüttelst, kommt mir mein Verhalten ja auch mehr als dämlich vor. Aber ich kann nicht aus meiner Haut. Es ist wie ein Zwang, ihm helfen zu müssen.
Leider ist nun schon seit einem Monat der Kontakt gänzlich abgebrochen.
Jeder normal denkende Mensch würde jetzt sagen, der hat dich nur verarscht.
... und was denke ich?
Er hat noch kein Internet und auch kein Telefon. Vielleicht ist der Strom noch immer abgestellt. Meine Telefonnummer hat er sich nicht aufgeschrieben, weil sie ja im Chat
hinterlegt war. Möglicherweise hat ihm auch die Gesundheit wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ich weiß, ich weiß.
Es sind alles nur fadenscheinige Entschuldigungen, an die ich mich zu klammern versuche. Aber er geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
Zu allen Blödsinn, den ich schon verzapft habe ...
Ich habe eine Anschriftenermittlung gestartet. Jetzt habe ich seine Adresse und könnte ... Ach nein.
Er denkt bestimmt, was ist die Alte aber auch aufdringlich.
Nein so etwas denkt er nicht. Oder doch?
Ich habe bei Google nachgeschaut.
Es ist mir so vertraut. Vertraut von seinen Fotos. Die Straße, das Haus, der Baum davor.
Ach so ... nein. Nicht besuchen!
Ich meinte nur schreiben.
Vorbeigehen? Oh Gott nein ... du kennst mich und meinen ungeheuer großen „Mumm“.
Aber schreiben? Was spricht dagegen?
Dann wird er fragen, woher ich seine Adresse habe. Er wird fragen, ob ich ihm nach spioniere. Er wird sagen, dass ich ihn stalke. Oder nicht?
Ich weiß mir echt nicht mehr zu helfen. Ständig spukt er durch meinen Kopf.
Ich will. Ich will nicht. Ich will.
Ich weiß es nicht.
Höre ich auf meinen Verstand, muss ich ihn
vergessen, abhaken, weg, weg, weg.
Mein Herz protestiert dagegen.
Er meldet sich ganz bestimmt. Gib ihm noch Zeit. Er weiß doch nicht, dass du dir solche Gedanken machst. Für ihn bist du nur eine nette Internetbekanntschaft, die unkompliziert geholfen hat.
Ha, höre ich dann meinen Kopf wieder sagen. Du bist nur eine leichtgläubige und dumme Internetbekanntschaft, die man ausnehmen konnte, wie ein Suppenhuhn. Der ist Vergangenheit, Schnee von gestern. Aus! Schluss! Vorbei! Von dem hörst du nie wieder. Andererseits ... er wäre ganz schön dumm. Gibt dir seinen richtigen Namen, seine Kontonummer. Du hast sein Geburtsdatum. Andere aus dem Netz kennen ihn auch.
Vertraue ihm.
Vielleicht ist er deine Bestimmung.
Deine Bestimmung, mehr Vertrauen in deine Menschenkenntnis zu setzen.
Deine Bestimmung, dir selbst und deinem Tun mehr zu vertrauen.
Deine Bestimmung, anderen Menschen nicht immer zu misstrauen.
Ich stecke in einer wahren Zwickmühle.
Habe mich im Labyrinth meiner Gedanken verirrt und finde weder Weg noch Ziel.
Antje, liebe, liebe Antje.
Du bist meine letzte Hoffnung.
Ich kann mich ja sonst an niemanden wenden.
Bitte, bitte, sag du mir, was ich tun soll!
Ich hoffe, du verurteilst mich nicht und antwortest mir ganz ganz schnell.
Ich werde jeden Tag zum Briefkasten laufen
und sehnlichst nach einen Brief von dir Ausschau halten.
Lass dich ganz lieb umarmen und küssen von
Babsi.
Ich saß wie von Blitz getroffen da und starrte den mehrseitige Brief meiner Freundin an.
Oh ja. Sie hatte vollkommen Recht. Zwischendurch runzelte ich die Stirn, schüttelte mehrmals den Kopf und verdrehte die Augen.
Was hatte sie auch anderes erwartet?
Ich konnte es einfach nicht fassen, was sie mir da schrieb.
Das hatte Babsi jetzt nicht wirklich getan?
... oder ... doch. Doch, sie hat ...
Sie war ja schon immer ein verrücktes Huhn. Viel zu gut für diese Welt. Wenn ich jemandem so eine Aktion zutraute, dann ihr. Oh man, oh man.
Ich konnte ihr da nicht wirklich helfen. Nicht in so einem Fall.
Dann schoss es mir durch den Kopf, vielleicht sollte ich mir den Typen erst einmal anschauen? Lieber nicht. Auf keinen Fall.
Das hätte nur mein Urteilsvermögen beeinträchtigt. Womöglich hätte ich ihn auch unwiderstehlich gefunden und dann ...
Wenn Babsi mich hätte so sehen können. So entsetzt, hilflos , innerlich leer.
Was hatte sie von mir erwartet?
Dass ich vor Freude und Glück über ihre Tat Luftsprünge vollführen würde?
Dass ich dies alles gut heißen würde?
Oh man.
Ratlos ging ich auf den Balkon und schaute, wie ich es gern und oft tat, in die Ferne.
In die Ferne, wo die Sonne gerade hinter den Häusern verschwand
... irgendwo da in der Ferne ... wohnte Er.
Mein Er.
Gott, wenn Babsi das gewusst hätte, ... dass auch ich einst in ein Foto und in wunderschön traurige Worte verliebt war.
Ich ertappte mich bei einem versonnenen wehmütigen Lächeln.
Wir waren halt schon immer unbelehrbare Romantikerinnen und Träumerinnen.
Wir waren uns so ähnlich, unzertrennlich, wie Zwillinge eigentlich.
Wen wunderte es da, dass wir den gleichen Mist verzapften.
Stopp!
Ich hatte rechtzeitig die Reißleine gezogen. Hatte meine Sehnsüchte, meinen Frust zu Papier gebracht. Hatte mich ständig im Spiegel betrachtet und war letztlich zu dem Ergebnis gekommen, dass ich mich keinerlei Hoffnung hingeben sollte. Dabei spielte eine bedeutende Rolle, dass ich zehn Jahre älter war, halb so groß aber doppelt so schwer. Das
war's dann.
Nur wenn ich auf meinem Balkon stand, schaute ich der untergehenden Sonne nach und stellte mir vor, wie Er die letzten Strahlen genoss.
Hoffnungslos romantisch eben.
Nun stand ich wieder da, träumte vor mich hin, noch immer den Brief in der Hand.
Was sollte ich nur tun? Hatte ich nicht genug mit meinen eigenen Problemen, die mir wie aus dem Nichts zurück ins Bewusstsein katapultiert wurden, zu tun? War es denn meine Bestimmung, ständig anderen zu helfen? Immer Rat zu wissen? Für alle der Kummerkasten zu sein?
Vielleicht ... vielleicht, wenn ich die Antwort noch etwas hinaus zögerte ...
Wie hatte Bärbel doch gesagt?
Meist findet man einen Weg, wenn man sich den Kummer von der Seele geredet und das Chaos in Kopf und Herz beseitigt hat.
Ich hoffte es von ganzen Herzen, dass es so sei.
Für sie ... und ... für mich.
© A.B.Schuetze 05/2015
Nachtrag vom 17.05.2016
(Auszug aus Babsi's letztem Brief)
...
Der Kopf ist wieder frei.
Das Herz ... nun ich weiß es nicht so genau. Es bleibt ein bitterer Geschmack.
Nach langer Zeit fasste ich Vertrauen in die Worte anderer. Gern war ich bereit zu Glauben. Doch dann ... wieder ein Mal hat mich meine Menschenkenntnis verraten. Hat mich meine Gutmütigkeit anderen zum Fraß vorgeworfen.
Die Schule des Lebens hat mich eine weitere Lektion gelehrt. Ich bin in mein altes Leben zurückgekehrt.
Meine Gefühle gehören wieder nur mir allein.
...