Erinnert sich irgendwer an die Zeit, als Bildtelefonie ein großes Ding war? Ich auch nicht. Deswegen sind Telefonkonferenzen, kurz Telkos, noch heute so praktisch und effizient, wie sie früher schon nie waren. Allen technischen Entwicklungen trotzen sie ähnlich standhaft, wie es Einwegfeuerzeuge und Haarschneidemaschinen seit Generationen tun. Telkos sind noch immer so unnütz und zeitraubend wie ein Anruf bei der schwerhörigen Urgroßmutter, der man zum Geburtstag gratulieren muss, weil Mutti sagt, das gehöre sich eben so. Zum Henker, in jedem halbwegs internetfähigen Toaster
stecken heute eine Kamera und ein Display, ungeahnte Möglichkeiten, und keiner kommt auf die Idee, das Zeug für eine Telefonkonferenz im Unternehmen zu nutzen? Hat denn nie irgendwer Star Trek geguckt? »Auf den Schirm!«
Scheinbar nicht, oder sagen wir mal so, der deutsche Michel ist »very serious«, wenn’s um Datenschutz und Privatsphäre geht, also darum, dass er sich während einer Konferenz nicht beim Popeln zusehen lassen möchte. Da können die Hersteller aktueller Notebooks noch und nöcher HD-Kameras in ihre Notebooks einbauen, dem Deutschen ist das vermeintlich allsehende Auge oberhalb
seines Displays ein Dorn im, äh, Auge, weshalb man auf den Flughäfen dieser Welt reihenweise Businesskasper sieht, die ihre Webcams mit kleinen Papierfetzen abgeklebt haben, damit die böse NSA sie nicht bei ihrer virtuosen Powerpoint-Folien-Verschiebeartistik beobachten kann.
Drum sind Telkos dort stehengeblieben, wo sie begonnen haben: Menschen hocken im Büro, entweder mit dem Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt bis zum Haltungsschaden, oder neuerdings auch mit Headset – ein Zugeständnis an die Bequemlichkeit des Bürostuhlakrobaten. Wer die Hände frei
hat, kann schließlich ungestört im Milchschaum herumrühren und Facebook-Nachrichten beantworten, während im akustischen Kollektiv Dinge geklärt werden, die niemanden weiter voranbringen als eine Stunde näher an den Feierabend.
Und weil man sich eben auch im Jahr 2015 während einer Konferenzschaltung trotz des Einsatzes digitaler Technik nicht sehen kann, trifft man während einer Telko immer wieder auf dieselben Teilnehmertypen, als da wären:
Der Schwänzer: Weil der Schichtsalat aus Terminen im Outlook-Kalender eines
handelsüblichen Büroangestellten zumeist ähnlich übersichtlich ist wie ein Großflughafen zur Urlaubszeit, gibt es immer ein paar Nasen, die den Termin verschwitzen, weil sie mit heruntergelassener Hose auf dem Klo hocken und auf dem Firmenhandy »Candy Crush Soda Saga« spielen oder mit dem Lieblingskollegen aus dem Nachbarbüro die letzte Folge von »The Walking Dead« diskutieren müssen und so durch Abwesenheit glänzen. Das Fernbleiben fällt natürlich erst hinterher auf, wenn der Schwänzer genau jene Fragen stellt, die eigentlich abschließend während der Telko geklärt wurden.
Der Träumer: Es gibt immer ein, zwei Leute, die zwar zur Telko eingeladen sind und die auch teilnehmen, die allerdings im Wesentlichen solange mit sprachlicher Abwesenheit glänzen, bis sie direkt von irgendwem angesprochen werden, der in der Hierarchie weiter oben steht als sie selbst. Weil der Träumer vom Dienst gedanklich gerade entweder das Budget für den Sommerurlaub verplant hatte, dabei war, den Kantinenspeiseplan auswendig zu lernen oder schlicht auf dem PC-Desktop viereckige Kästen mit der Maus ziehen musste, weiß er natürlich kein Stück, worum es gerade eben ging. Den geübten
Träumer ficht das freilich nicht an, wirft der doch schnell einen Blick auf das Thema des Meetings in seinem Kalender, den er zufällig noch geöffnet hat, und sagt dann Sätze wie: »Also ich finde, wir sollten erst mal grundsätzlich klären, inwiefern …« oder »Können wir vielleicht einen Schritt zurückgehen und umreißen, was eigentlich die Kernziele sind?« Die Satzhülsen an sich müssen keinerlei Sinn ergeben, Hauptsache ist, irgendwer anders hat hinterher die Moderationsarschkarte, und der Träumer kann zu seiner Ausgangsaktivität zurückkehren.
Der mit der Technik zickt: Wenigstens
ein Konferenzteilnehmer findet bereits in der Telefontechnik an sich seine Nemesis. Während alle anderen das Meeting möglichst schnell hinter sich bringen wollen, weil der Organisator ein Kollegenschwein ist und Meetings grundsätzlich über die Mittagspause hinaus plant, gibt es diesen einen Typen, der den Beginn der Diskussion hinauszögert, weil er es schlicht nicht schafft, ins Meeting zu kommen. Nachdem er versucht hat, die Hälfte der Kollegen per Mobiltelefon darüber zu informieren, dass bei ihm (wieder mal) die Technik streikt, schafft er es mit einiger Verspätung doch irgendwie, sich in die Konferenz einzuwählen,
unterbricht dann aber die anderen Teilnehmer mit Zwischenrufen wie: »Hallo? Hallooo? Kann mich jemand hören?« oder »Können Sie das bitte wiederholen? Gerade war bei mir der Empfang schon wieder weg.« Nicht selten kann niemand die Hilferufe hören, weil das Technikopfer auch nach einer halben Stunde noch immer nicht gemerkt hat, dass sein Telefon auf stumm gestellt ist. Egal, hinterher ist sowieso immer die Technik schuld.
Das Gespenst: Diese Gattung ist besonders perfide. Das Gespenst wurde zwar zur Telko eingeladen und nimmt auch pflichtbewusst teil, doch niemand
scheint davon zu wissen. Wie dieser eine Klassenkamerad früher, von dem nach der Party niemand wusste, ob er wirklich dabei war. Wie eine Gottesanbeterin verharrt das Gespenst in aufmerksamer Lauerhaltung in der Leitung und meldet sich fast die gesamte Zeit über nicht zu Wort, um dann gegen Ende gnadenlos zuzuschlagen und eine spitzfindige Frage zu stellen oder irgendetwas anzumerken, um überhaupt was beigetragen zu haben. Alle anderen Teilnehmer sind erschrocken und zugleich froh, während des Meetings in lockerer Runde nicht über besagte Person gelästert zu haben. Wenn aber doch mal jemandem die Zunge ausgerutscht sein sollte, tut er
natürlich so, als hätte er nie was gesagt, obwohl er genau weiß, dass das Gespenst alles gehört hat, weshalb er sich insgeheim nicht mehr sicher in seiner Haut fühlt. Schlimme Bürounfälle passieren schließlich immer wieder.
Inspektor Columbo: Für die meisten Menschen sind Telefonkonferenzen eine lästige Pflicht, die sie nur allzu gern hinter sich bringen, um zum fünften Mal am selben Tag zum Kaffeevollautomaten zu pilgern oder aber, um nicht zu spät in die Kantine zu kommen und statt leckerer Currywurst nur noch das übrig gebliebene vegetarische Gulasch serviert zu bekommen, das aussieht wie
Plastikkotze aus dem Scherzartikelladen. Es gibt da aber diese eine Person, die den Currywursttraum jäh zunichte macht, indem sie während des Meetings Dinge auf den Tisch bringt, die eigentlich längst hinreichend erörtert wurden, weil sie entweder nicht zugehört hat, zu doof ist, den Sachverhalt zu kapieren oder schlicht ein Klugscheißer ist. Der Columbo vom Dienst sagt statt »Schönen Tag noch!« Dinge wie »Können wir noch mal auf den zweiten Punkt zurückkommen?«, »Also eine Frage hätte ich da noch …« oder »Habe ich das jetzt richtig verstanden, dass …«, während alle anderen Teilnehmer schweigend auf ihre Uhren schauen, mit den Augen
rollen und der eine oder andere vor Wut ob seines leeren Magens einen Bleistift zerbricht.
Der Heimscheißer: Wenigstens ein Kollege arbeitet grundsätzlich von zu Hause aus, wenn gerade eine Telko stattfindet. Der Heimscheißer ist die Sorte Mensch, die vergisst, das Telefon auf stumm zu stellen, wenn im Hintergrund das Kind anfängt zu brüllen. Mit Sätzen wie »Eugen-Justus, jetzt lass die Emily auch mal damit spielen, sonst nehm ich’s euch beiden weg!« nimmt der Heimscheißer so dem wichtigsten Tagesordnungspunkt der Telko jede Ernsthaftigkeit. Und ist mal kein Kind
zur Hand, ergänzt garantiert ein bellender Hund die geschäftige Geräuschkulisse um ein Stück pure Natur.
Der Genießer: Zehn Menschen hängen gerade in der Leitung, wovon fünf in der Firmenhierarchie höher angesiedelt sind? Na und, das stört doch den Genießer nicht, der penetrant laut Kaffee schlürft, während andere sich gerade verbal die Köpfe einschlagen. Und was auch immer er gerade nebenher futtert, ist ganz egal, bei ihm verursacht es mit Sicherheit laute Geräusche. Hat er selbst mal was zur Diskussion beizutragen, verschwendet er keine Zeit damit, das
Stück BiFi hinunterzuschlucken, das er schon seit mehreren Minuten schmatzend von einer Backentasche in die andere schiebt. Aus Regeln wie »Mit vollem Mund spricht man nicht!« ist der Genießer schließlich längst herausgewachsen, seit Mutti ihm nicht mehr die Krawatte binden muss.
Die Liste ließe sich vermutlich noch um den einen oder anderen Stereotyp ergänzen. Ob Bildtelefonie nun Telkos effizienter machen würde, sei ehrlicherweise mal dahingestellt, seltener wären sie auf jeden Fall! Denn kaum einer der genannten Typen würde seiner Störaktivität nachgehen, wenn er
davon ausgehen müsste, dass gerade ein gutes Dutzend Augen auf ihn gerichtet ist. Drum her mit dem Bildtelefon, damit man endlich mal zum Arbeiten kommt, verdammte Axt!