Der gestempelte Kater
In Gedanken versunken wendete Hilde das Salatblatt, das sie möglichst dekorativ auf dem Teller platzieren wollte. Linksrum, rechtsrum, vielleicht hochkant? Letztlich war es egal. Kurt aß alles, was sie ihm vorsetzte. Und das war nicht viel seit einem Jahr.
Die 120 kg, die mittlerweile die Waage anzeigte, wollten einfach nicht schwinden. Hilde machte sich Sorgen, der Arzt machte sich Sorgen, Kurt weniger. Trotz Kurzatmigkeit und anderer Begleiterscheinungen, die starkes Übergewicht mit sich brachten,
nutzte er das überaus reichhaltige Angebot der Betriebskantine und ergänzte die von Hilde so liebevoll zubereitete Diät mehr als großzügig. Davon ahnte Hilde natürlich nichts.
Doch das war nicht ihre einzige Sorge. Immer darauf bedacht ihrer kleinen Familie das Beste angedeihen zu lassen, hatte sie ihr Augenmerk darauf gerichtet, ihre Tochter standesgemäß unter die Haube zu bringen. Das Kind sollte es einmal gut haben. Das Kind war inzwischen 29. Kurt hatte immer umsichtig für die Familie gesorgt. So einen Mann wünschte sich Hilde für Karin auch. Ein Akademiker wäre angemessen. Zu jeder Betriebsfeier in
Kurts Firma wurde Karin mitgenommen. Doch die Hoffnung, dass einer der jüngeren oder auch älteren unverheirateten Kollegen von Kurt, Diplomingenieure wie er selbst, Interesse an Karin zeigten, zerschlug sich jedes Mal.
Hilde hatte das Öffnen und Schließen der Wohnungstür nicht gehört und schrak zusammen als Karin die Küche betrat.
Aufgeregt und ohne Gruß, rief sie lauter als von ihr gewohnt:
„Ich bin zum Abendbrot nicht zuhause. Ich habe eine Verabredung.“
Hilde rutschte mit dem Messer ab. Die Tomate rollte über den Tisch und landete mit einem schmatzenden Geräusch auf
dem Küchenboden.
„Du hast eine Verabredung? Mit wem?“
„Mit einem Kollegen von einem anderen Amt.“
Hilde blickte auf ihre Tochter, die mit hochrotem Gesicht in der für sie unvorteilhaften Uniform vor ihr stand. Karin war keine Schönheit. Während ihre Mutter auch mit Mitte 50 durchaus als attraktiv zu bezeichnen war, Charme versprühte und vielen Interessen nachging, zeichnete sich Karin nur mit der Liebe zu ihrem Beruf aus. Auf Kleidung legte sie keinen besonderen Wert, kleine kosmetische Hilfsmittel waren ihr zuwider, körperliche Ertüchtigungen, die ihr gutgetan hätten,
da sie zunehmend ihrem Vater ähnelte, lehnte sie ab. Doch sie hatte ein freundliches hilfsbereites Wesen.
Seufzend blickte Hilde auf ihre Tochter und verfluchte, wie schon so oft, den Tag vor 24 Jahren, als sie damals der 5jährigen einen Stempelkasten schenkte. Karin stempelte mit Begeisterung. Hasen, Vögel, Schweine. Doch besonders hatte es ihr ein dicker unförmiger Kater angetan. Er fand sich als Verzierung auf Tischen, Schränken, Tapeten. Wenn die Stempel abgenutzt waren, hatte Hilde Mühe, schnellstens neue zu besorgen. Das ansonsten ruhige Kind, bekam regelrechte Wutanfälle wenn sie nicht stempeln konnte. Diese Leidenschaft
hatte Bestand und somit war es nicht verwunderlich, dass Karin zur Berufswahl gezwungen, sich für den Schalterdienst in einem Postamt entschied. Glücklicherweise gab es zu dieser Zeit noch Postämter, die diesen Namen auch verdienten. Nach der Reform änderte sich das.
Ihren Beruf übte Karin mit Hingabe aus. Als Kollegin gemocht, manchmal belächelt, vom Betriebsleiter geschätzt, saß sie hinter der Glasscheibe am Schalter, froh darüber, wenn die Schlange der Kunden wuchs, und stempelte was das Zeug hielt.
Formulare, Geldanweisungen, Briefe, Auszahlungsbelege. Wenn sie den
Stempel mit Vehemenz auf das Objekt donnerte, breitete sich ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Heute hatte sie in Absprache mit ihrem Vorgesetzten den Schalter eine halbe Stunde früher schließen dürfen. Der Kundenstrom floss recht zäh an diesem Tag, so dass ihre Kollegin am zweiten Schalter ihn bewältigen konnte.
Sie wollte sich für das bevorstehende Treffen ein bisschen schick machen.
Das teilte sie etwas aufgeregt ihrer Mutter mit bevor sie die Küche verließ und ihr Zimmer aufsuchte.
Hilde war auch aufgeregt. Sie hatte die auseinandergeplatzte Tomate entsorgt, den Boden kurz gereinigt und war nun
dabei die grüne Gurke zu schälen, die sie Kurt in mundgerechten Stücken auf den Teller legen wollte.
Ein Kollege von einem anderen Amt, dachte sie. Vielleicht der Betriebsleiter, vielleicht sogar der Amtsvorsteher, wenn es ein großes Amt war. Er wäre dann Beamter. Zwar kein Akademiker ... oder vielleicht doch?
Hilde sah Karin in Weiß mit einem Blumenstrauß. Sie wurde jäh aus ihren Träumen gerissen als Karin erneut die Küche betrat um sich zu verabschieden.
Mit einem Seufzen stellte sie fest, dass Karin in einem geblümten Glockenrock und weißer Bluse auch nicht vorteilhafter aussah als in ihrer Uniform. Der nicht
sehr kleidsame Kurzhaarschnitt umrahmte das runde Gesicht wie ein Helm und brachte das schon beträchtliche Doppelkinn besonders zur Geltung.
„Wo trefft ihr euch denn?“, fragte sie.
„Im ´Cafe Sylvia`.“
„Dieses Cafe am Bahnhof?“, wunderte sich Hilde.
Karin nickte mit dem Kopf, griff sich ein Radieschen und verabschiedete sich von ihrer Mutter.
„Ach“, sagte sie noch im Hinausgehen, „ich habe bei Papa reingeschaut, er sitzt am Schreibtisch und ist eingeschlafen.“
Hilde schaute ihr nachdenklich hinterher. Das passierte Kurt häufig in letzter Zeit.
Er schlief beim Fernsehen ein, sogar im Theater. Einmal hatte sie es nicht rechtzeitig bemerkt. Erst die Schnarchtöne hatten sie aufmerksam gemacht. Meine Güte, war das peinlich. Seitdem ging sie lieber allein oder mit ihrer Freundin ins Theater oder Konzert. Kurt hatte Verständnis dafür. Wie er für alles Verständnis hatte, was Hilde tat, nicht tat oder entschied. Er vergötterte Hilde. In einem Jahr würde er in Rente gehen. Er war um einiges älter als Hilde und sehnte diese Zeit herbei. Auch Hilde freute sich. Sie würde sich dann besser um ihn kümmern können. Nur schade, dass die Betriebsfeiern dann wegfielen.
Chancenverlust für Karin.
Hilde hatte den Tisch nett gedeckt und anschließend ihren Mann, der mit gesenktem Kopf auf seinem Schreibtischstuhl saß und schlief, geweckt.
„Das Abendbrot ist fertig. Wir können essen.“
Schnaufend erhob sich Kurt von seinem Stuhl und folgte Hilde ins Wohnzimmer. Ein gut gefüllter Salatteller erwartete ihn, zwei Scheiben Knäckebrot und Mineralwasser. Hildes Abendbrot hatte mehr Kalorien.
Aufgekratzt erzählte sie ihm von Karins Treffen. Schwelgte in Fantasien und hatte in Kurt einen aufmerksamen Zuhörer.
In ihrer Euphorie schob sie, ohne es zu bemerken, den Teller mit den zwei Frikadellen, die eigentlich sie essen wollte, zu Kurt. Sichtlich erfreut führte Kurt diese schnell ihrer Bestimmung zu.
„Kurt“, rief sie vorwurfsvoll, als sie es bemerkte.
Doch dann galt ihr Interesse wieder Karin und deren Treffen.
„Na siehst du“, sagte Kurt, „sie wird schon noch den Richtigen finden.“
Der gemeinsame Fernsehabend fand ein abruptes Ende als Kurt schon 20 Minuten nach Beginn des Krimis sein Schnarchkonzert anstimmte. Hilde schlug ihm vor, doch ins Bett zu gehen. Gern stimmte Kurt zu und verschwand in der
Kammer, die vor langer Zeit den Dienstboten vorbehalten war, und ihm nunmehr als Schlafgemach diente. Seinen unruhigen Schlaf, so nannte er seine Schlafapnoe, wollte er Hilde nicht zumuten.
Auch Hilde konnte nicht mit der gewohnten Aufmerksamkeit den Geschehnissen auf dem Bildschirm folgen. Sie wartete auf Karin. Endlich hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen. Früher als erwartet. Karin betrat mit missmutigem Gesicht das Zimmer und plumpste in den Sessel.
„Na, wie war es?“
Karin schwieg. Gefühlte fünf Minuten. Hilde war beunruhigt. Endlich grummelte Karin:
„Der Kollege wollte meinen guten Draht, den ich zum Betriebsleiter habe, nutzen. Er bat mich, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Das Versetzungsgesuch, das er eingereicht hatte, um in unserem Amt arbeiten zu können, müsse nur noch von meinem Chef genehmigt werden.“
Hilde schnappte nach Luft. Der Traum in Weiß zerplatzte.
„Na ja, ich werd´ ´mal sehen, was ich machen kann.“
Karin war eben gutmütig. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer und widmete sich ihrer
Lieblingsbeschäftigung. Sie stempelte. Doch nicht mehr auf Papier wie in Kindertagen. Jetzt stempelte sie auf
Stoff. Auch die Motive hatten sich geändert. Pflanzen, Herzen, Schmetterlinge. Mit Textilfarbe malte sie ihre Bilder aus, zog sie auf Holzrahmen und hatte somit immer ein Geschenk, wenn sie eines benötigte. Hilde hatte schon sehr viele Bilder.
So vergingen Wochen, Monate, Jahre, in denen sich kein geeigneter Heiratskandidat für Karin am Horizont zeigte.
Eines morgens wunderte sich Hilde, dass Kurt nicht wie gewohnt, fünf Minuten nach dem Klingeln des Weckers, ins Bad ging. Obwohl inzwischen Rentner, stellte
er sich jeden Tag den Wecker. Nach einem seiner Gesundheit zuträglichem Frühstück begab er sich auf einen ausgedehnten Spaziergang. Den machte er auch jeden Tag nach dem Abendbrot. Hilde freute sich über seine Disziplin. Nur am Sonntag blieb er zuhause. Die Imbissbude am Bahnhof hatte geschlossen. Hilde war schon bei den Frühstücksvorbereitungen und hatte den Wecker gehört. Er wird wohl wieder eingeschlafen sein, dachte sie und ging in die Schlafkammer um ihn zu wecken. Sie hatte recht. Kurt schlief. Für immer. Empört hatte sein Herz die Zumutungen nicht mehr ertragen und einfach aufgehört zu schlagen. Der Schock und
die unermessliche Trauer drängten für einige Zeit ihre Sorge um Karin in den Hintergrund.
Doch nach Ablauf der Trauerzeit fasste Hilde einen Entschluss.
Sie würden umziehen. In eine kleinere Stadt. In eine kleine Universitätsstadt. Dort würde es genug Anwärter auf einen akademischen Grad geben. Den Gedanken, dass die Studenten möglicherweise um einige Jahre jünger als Karin sein würden, die mittlerweile vor ihrem 33sten Geburtstag stand, schob sie erst einmal zur Seite. Außerdem gab es noch die Dozenten, Professoren und deren Assistenten. Hilde war guten Mutes.
Sie teilte ihren Plan Karin mit der Begründung mit, dass es ihr in der Großstadt mit zunehmendem Alter zu hektisch war. Karin war einverstanden, sofern sie eine Arbeit in einem Postamt am zukünftigen Wohnort aufnehmen konnte. Sie bedauerte zwar, den ihr vertrauten Kollegenkreis verlassen zu müssen, doch der Mutter zuliebe, war sie zu vielem bereit.
Zunächst zog Hilde Witzenhausen in Erwägung. Doch diese Stadt schien ihr dann doch zu klein. Außerdem gab es dort nur ein Postamt. Gießen kam in die engere Wahl und trug auch den Sieg davon.
Drei Monate später bezogen Hilde und
Karin ihr neues Domizil. Eine geräumige 3-Raum-Wohnung in Gießen. Karin hatte sofort Arbeit in einem Postamt gefunden. Sie hatte gute Referenzen. Hilde hielt Ausschau nach geeigneten Heiratskandidaten. Doch die Sache gestaltete sich schwieriger als von ihr gedacht. Karin leistete ihren Schalterdienst weiterhin mit Hingabe, ließ den Stempel wie eine Ramme auf die entsprechenden Formulare sausen, in ihrer Freizeit stempelte sie in ihrem Zimmer, an Aktivitäten außerhalb dieser Örtlichkeiten hatte sie kein Interesse. Hilde verzweifelte. Was sollte aus dem Kind werden. Eine alte Jungfer, wisperte ihr eine innere Stimme zu. Hilde war
entsetzt.
Doch dann stellte sie Veränderungen an Karin fest. Sie kam später vom Dienst nachhause, machte ab und an einen Einkaufsbummel. Zeigte dann stolz das Erworbene ihrer Mutter mit der Bemerkung:
„Ich muss mir auch ´mal was gönnen. Wozu gehe ich arbeiten?“
Auch wenn das Erworbene geschmacklich fragwürdig war - das pinkfarbene T-Shirt mit dem aufgedruckten Kater, auf dessen Kopf ein Sombrero thronte, das Karin sich kürzlich gekauft hatte, war wenig vorteilhaft für ihre doch recht füllige Figur - freute sich Hilde über das ungewohnte Interesse ihrer Tochter.
Und dann kam der Tag, der Hilde Freudentränen in die Augen trieb.
„Ich habe zum Sonnabend einen Gast eingeladen“, sagte Karin.
„Zum Kaffee. Ist dir das recht, Mama?“
Hilde schluckte.
„Wer kommt denn?“
„Ich habe jemanden kennengelernt. Im Krankenhaus. Ich musste wegen meines Fußknöchels doch zum Röntgen. Auf dem Klinikgelände habe ich Edgar kennengelernt. Er ist Pathologe.“
In Hildes Kopf erklangen Sphärenklänge.
„Aber natürlich, mein Kind, ist mir das recht. Was soll ich denn für einen Kuchen backen?“
„Edgar isst gern Obstkuchen. Vielleicht eine Erdbeertorte.“
Es war Dienstag als Karin ihre Neuigkeit offenbarte. Bis zum Sonnabend hatten in Hildes Kopf keine anderen Gedanken Platz als die, der bevorstehenden Zusammenkunft.
Endlich war der mit Spannung erwartete Tag angebrochen.
Pünktlich um 15:00 Uhr läutete es. Karin öffnete die Tür und betrat mit einem Mann, der einen Blumenstrauß vor sich hielt wie eine Kommunionkerze, das Wohnzimmer. Diesen überreichte er nun etwas linkisch Hilde. Nun, er hat Benehmen, dachte Hilde. Auch Karin hatte einen Strauß im Arm. Deutlich
größer als Karin, hager und mit schütterem Haar machte er eine steife Verbeugung und stellte sich vor. Das hätte auch Karin übernommen. Doch er kam ihr zuvor. Hilde stellte ihre und Karins Blumen in passende Vasen. Dabei ließ sie sich mehr Zeit als nötig. Sie wollte den beiden noch etwas Zeit für eventuelle private Worte geben.
Als sie das Zimmer betrat, standen Karin und Edgar am Fenster und schauten hinaus. Sie hielten sich an den Händen. Hilde war selig.
Nachdem sie sich an den liebevoll gedeckten Kaffeetisch gesetzt hatten, dauerte es einige Zeit, bis das Gespräch einen zwanglosen Charakter annahm.
„Morgen Nachmittag gehe ich zu Edgar und schaue mir seine Arbeiten an.“
Hilde erstarrte.
„In die Pathologie?“
„Nein, ich schaue mir seine Handarbeiten an.“
Hilde war irritiert.
„Handarbeiten?“
„Ja, Edgar strickt, häkelt, stickt oder fertigt Hohlsaumarbeiten in seiner Freizeit.“
Hilde legte die Gabel, mit der sie gerade ein Stück von der Erdbeertorte in den Mund schieben wollte, auf den Teller zurück.
„Nun ja, als Pathologe braucht man schon ein sehr entspannendes Hobby“,
bemerkte sie nicht sehr überzeugt.
Sie merkte selbst wie banal ihre Worte klangen. Jedes Hobby hatte in irgndeiner Form einen entspannenden Charakter.
„Wieso Pathologe“, antwortete Edgar.
„Ich bin Sektionsassistent.“
„Was ist das denn?“, wunderte sich Karin.
„Ich denke, du arbeitest in der Pathologie.“
„Das ist richtig. Aber deshalb bin ich doch kein Pathologe. Ich stehe ab und an neben ihm.“
Es herrschte einige Verwirrung am Kaffeetisch. Bei Hilde machte sich Enttäuschung breit. Wieder kein Akademiker.
Doch ein Blick auf die beiden genügte, um zu erkennen, hier hatte der Topf den passenden Deckel gefunden.
Die beiden heirateten, zogen in eine hübsche Wohnung und waren mit ihrem Leben zufrieden. Hilde wartete vergeblich auf Enkelkinder. Für Aktivitäten, die der Familienbildung dienten, hatten Karin und Edgar wenig Zeit. In der Freizeit stempelte Karin und Edgar stickte die Motive aus. Zwischendurch übte er immer wieder neue Stiche. Hexenstiche, Kettenstiche, Stielstiche, den Kreuzstich beherrschte er perfekt. Vielleicht sagte der diensthabende Pathologe doch einmal:
„Zumachen, Edgar!“
© KaraList 08/2015