Komm nach Hause, Mutter!
Die letzten Strahlen der Sonne wärmten ihre Gesichter, ließen den Wein in den Gläsern wie flüssige Rubine funkeln und ließen die kleine Runde, die sich oberhalb des Weinberges unter dem dreihundertjährigen Maronenbaum versammelt hatte, lange Schatten werfen. Freunde aus der Nachbarschaft und dem Ausland, Sohn und Enkel aus Berlin, die Schwester aus Paris, und sie alle hatten es sich bequem gemacht. Unterhalb des Weinberges, dessen Reben sich schwer über den dunklen Trauben bogen, ein kleines Häuschen. Davor hatten
die Gäste ihre Zelte aufgeschlagen. Das Lagerfeuer, von Ziegelsteinen umfasst, würde bald so weit zu Glut zusammengebrannt sein, dass man Maroni rösten und Fleisch grillen könnte. Alles für ihr Fest, den 65. Geburtstag. Ein Sprachgewirr aus Deutsch, Französisch, Englisch und Ungarisch mischte sich mit fröhlichem Lachen und dem Klingen der Gläser. Plötzlich Ruhe, ausgelöst durch eine Frage, die wohl mancher hier sich stellte, aber ihr Sohn sprach sie aus und sie wurde sofort kreuz und quer in die anderen Sprachen übersetzt. „Mutter, du bist nun seit 5 Jahren hier, hast deinen Weinberg bestellt und dich als Selbstversorgerin bewiesen. Aber in deinem Alter wirds doch mühsam, das Leben hier in
der Fremde, in der Wildnis, ohne jeden Komfort. Wann kommst du zurück nach Hause, nach Berlin?“
Sie entgegnete: „Und was soll ich dort wohl tun? Vom Balkon aus auf die Straße schauen? Hier genieße ich den Muskelkater nach dem Umgraben.“
Sie hielt ihr Glas gegen die Sonne und ließ den dunklen Kekfrankos aufleuchten, ehe sie einen kräftigen Schluck nahm. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem hochgesteckten Haar gelöst hatte. Ihr Blick streifte über Obstbäume, den Garten, das Feld, den Trinkwasserbrunnen. Fast ein Hektar. Und sie schaute auf die gegenüberliegende Hügelkette, auf der sich eine bunte deutschsprachige
Selbstversorgergemeinschaft mit kleinen Kindern in selbstgebauten Behausungen niedergelassen hatte, um hier ein neues Leben zu beginnen, wie sie.
„Ich bin hier zu Hause. Genau dieses Land, diese verrückte Sprache, diese Menschen hier die meine Nachbarn sind und all das, was ich mir in den vergangenen fünf Jahren geschaffen habe, aus eigener Kraft. Dieses kleine Dorf mit seinen einfachen Lehmhäusern, dieses sanfte Tal. Mehr Komfort brauchts nicht. Und überhaupt, was hat das mit meinem Alter zu tun? “
„Wie kannst du dir so sicher sein?“ wollte er nun wissen, „du bist in deinem Leben mehr als dreißigmal umgezogen, Leipzig, Berlin, Leuna, Frankfurt am Main, Berchtesgaden.
Und nun bist du in Ungarn gelandet, in diesem kleinen Dorf, das nicht mal eine Durchgangsstraße besitzt. Und dann noch auf einem Weinberg, in einem Haus ohne fließendes Wasser? Das nennst du Komfort?“
Sie überlegt, ja, die Ortswechsel waren immer verbunden mit beruflichen Veränderungen, besonders in den Jahren nach 1989. „Bist du auf der Flucht gewesen“, wollte ihr ungarischer Weinbergnachbar wissen, ein Mann von knapp 90 Jahren, der hier im Dorf geboren war und wohl auch sein Leben hier beenden würde. Der die wechselhafte Geschichte Ungarns kannte. Wenn er das Gras mähte, die wilden Pflaumen oder die Haseln schnitt, sang er mit wunderschöner Stimme alte Lieder, aus
denen all seine Liebe zu diesem Land strömte, aber auch eine große Traurigkeit. Oft saß sie auf ihrer Bank und hörte ihm zu. Und obwohl sie kaum verstand, worum es in den Liedern ging, waren sie ihr nicht fremd. Sie verstand sie ganz tief im Inneren.
„Auf der Flucht? Eine gute Frage. Ich zog in den letzten zwanzig Jahren der Arbeit hinterher wenn der alte Arbeitsplatz in Gefahr war. Ja, und ich floh vor der Arbeitslosigkeit. Aber gleichzeitig genoss ich die Freiheit, immer etwas Neues zu lernen und zu machen, Arbeitsstellen, die ich mir nach dem Zusammenbruch und Verschwinden meiner ehemaligen Heimat, der DDR, nicht vorstellen konnte. Herausforderungen, die mich bis an die äußersten Grenzen meiner
selbst brachten. Gestern noch Selbständigkeit mit der Konsequenz des Scheiterns, morgen mittlere Führungsebene in einem westdeutschen Unternehmen mit einem Burnout, übermorgen wieder Selbständigkeit. “ Ihr Sohn bohrte weiter: „Mutter, das war gestern. Aber was mit deiner Heimat, deinem Heimatland?“
„Meinst du Heimweh, Sven? Nein, hatte ich nie. Warum auch. Für den Ort, den ich mir jeweils gewählt hatte, schlug mein Herz. Und wenn es an der Zeit war, zog ich weiter. Es war immer spannend, was ich erlebte, schnell hatte ich Freunde gewonnen und die Arbeit ließ mir auch keine Zeit dafür. Und so flog mein Leben dahin. Du hattest doch auch dein Leben, oder? Und Mathias? Ja, nach 30
gemeinsamen Jahren war es Zeit, loszulassen. Wir hatten uns beide geändert. Nun sind wir gute Freunde, aber jeder lebt sein eigenes Leben.“
„Aber diese ungarische Sprache?“ fragte ein Anderer. „Sie ist eine Herausforderung.
Ja. Aber nach drei Kursen an der Volkshochschule hatte ich zumindest die Grundlagen. Die Sprache selbst lerne ich jetzt hier mit den Menschen.“
Ihre Freundin aus Berlin schaute skeptisch: „Naja, das klingt ja alles sehr romantisch. Aber das Alter. Und wenn man dann krank wird, in einem fremden Land. Du bist 65, meine Liebe.“ Marianne lächelte ihre Freundin an. „Angelika, schau dir Ferry an. Was heißt schon alt? Hier im eigenen Haus
mit Garten und Weinberg, Feld und Obstbäumen kann ich mir ein angenehmes Leben gestalten. Die Arbeit hält mich jung. Ich fühle mich wohl und reich. In Deutschland gälte ich mit meiner Rente als arm und würde schneller altern. Wie absurd.“
Ein Blick hinunter zum Feuer und ihr knurrender Magen holten sie wieder zurück aus ihren Gedanken. „Lasst uns ans Feuer gehen, Zeit zum Essen.“ Jeder der Gäste hatte zuletzt seinen Gedanken nachgehangen, nun nahmen sie Gläser und Flaschen und gingen durch die Reihen des Weinberges hinunter. Mangalizasteak, deutscher Kartoffelsalat, ungarisches eingesäuertes Gemüse, ausgebackene Pilze und Zucchini, Honigmelonen vom Feld. Und
dazu herrlich duftendes frisches ungarisches Weißbrot. Alle langten mit Appetit zu. Und bald verwoben sich wieder die Sprachen, die Stimmen und das Lachen. Ihr Sohn griff zur Gitarre und sang ihr ein Ständchen. Ihre Schwester stimmte ein französisches Chanson an und mancher sang mit.
Dann erhob sich Ferry, ihr Nachbar, stützte sich auf seinen Stock und bedankte sich für ihre Nachbarschaft.
„Durch dich ist der Weinberg wieder belebt und dein Garten ist ein Paradies geworden, Marianne.“ Sie wurde verlegen und umarmte ihn. Er war ein strenger Gärtner, sie wusste sein Lob zu schätzen. Sie dachte schon, er wolle sich verabschieden, musste er doch bis ins Dorf hinunter laufen. Doch er wolle nun
auch ein Lied singen, erklärte er. Sie übersetzte das ungarische Gespräch den Gästen, dann schwiegen alle. Und in der Dunkelheit, nur angestrahlt vom Feuer, begann er zu singen. Anfangs noch nach dem Ton suchend, etwas zittrig. Doch dann erklang eine große ungarische Melodie, seine wohltönende Stimme reihte Strophe an Strophe, es wechselten getragene und schnelle Passagen und bald hatten alle die musikalische Struktur erfasst und summten leise mit. Als er endete war es ganz still. Auch sie war gerührt. Sie applaudierten ihm. Er verabschiedete sich. Alle dankten ihm mit ihrem Geleit ins Dorf, wo seine Frau auf der Bank vorm Haus saß. Die große Gesellschaft erstaunte sie nur kurz, dann stand sie mit
einem Tablett voller Gläser und einer Flasche selbst gebrannten Aprikosenpalinkas vor den Gästen. Auf das Wohl aller mit jedem anstoßend störten ihre vielsprachigen Zuprostungen kurz die dörfliche Nachtruhe. Der Nachtwächter des Dorfes war sofort zur Stelle, lächelte verstehend und legte den Finger an den Mund. „PSSST!“ Auf dem Weg nach oben nahm sie das Gespräch über Heimat und Fremde, die Jugend und das Altern wieder auf. War es ihr doch wichtig, verstanden zu werden. „So ist das hier im Dorf, kann man sich da nicht wohl fühlen? Es spielt keine Rolle, ob ich hier geboren wurde und auch nicht, wie perfekt ich die Sprache beherrsche. Ich denke, je neugieriger und offener jemand auf Neues zugeht, naiv und
neugierig wie ein Kind, desto weniger Fremdheit kommt auf. All das hält doch jung, oder?“
Am wärmenden Lagerfeuer leerten sie noch manche Flasche Rotwein und alle stießen mit ihr an auf ihr Zuhause, auf die Jugend und das Altern. Und sie hatte den Eindruck, dass den anderen ihr Lebensgefühl nun weniger fremd war.