kapitel
Der Regen prasselte unaufhörlich auf den schon eingeweichten Schlammboden, welches das Weiterkommen immens erschwerte. Der Wind, der zu dem Schauer noch hinzukam, beschränkte die Sicht des Mannes, der sich einen Weg durch das Unwetter suchte, auf nur einige Meter vor ihm. Er war nass bis auf die unterste Schicht seiner Kleidung, doch sein extremer Drang die Suche heute noch abschließen zu können, trieb ihn voran.
Schon drei Tage durchquerte er die triste Landschaft, die ausschließlich aus kleinen Hügeln mit Büschen und kleinen Haufen von großen und kleinen Steinen bestand. Der Nebel, der sich über die ganze Umgebung
gelegt hatte, machte ihm das Vorankommen auch ziemlich schwer. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er so lange unterwegs sein sollte, somit waren seine Essensreserven heute Morgen aufgebraucht gewesen und sein Magen machte sich ab und zu durch lautes Knurren bemerkbar.
Immer wieder fragte er sich, warum er sich dieses Abenteuer überhaupt angetan hatte. Warum er auf den Weg hierher so vielen Gefahren entgegengetreten war? Ob er überhaupt jemals dort ankommen würde, wo er hinwollte? Ob es den Ort überhaupt gab, über den er nur recht oberflächlich gehört hatte?
Konnte er dieser alten Dame überhaupt trauen, die ihm die Geschichte von den Seelen von Lhunaá erzählt hatte? Sie war nicht sehr
vertrauenserweckend rübergekommen und sein Drängen und Bitten hatten bei ihr nur Augenroller ausgelöst, bis er sie doch dazu gebracht hatte, ihm etwas anzuvertrauen. Nichtsdestotrotz glaubte er, dass sie ihm nicht alles preisgegeben und die Erzählung in einigen Punkten sehr abgekürzt hatte. Trotzdem hatte er sich dazu entschieden sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Er hatte auch einen guten Grund dafür. Seine Frau war krank und es gab kein Heilmittel gegen die Krankheit. Das hieß, er musste alles nur Erdenkliche tun, um seine Geliebte zu retten, auch wenn die alte Dame nur gelogen haben sollte und der Mythos gar nicht existierte. Allerdings war dieses Märchen die einzige Lösung für seine ausweglose
Situation.
Der Regen wurde noch stärker. Die Berührungen der Tropfen auf seiner Haut verursachte ihm leichte Schmerzen, als ob in tausend Nadeln auf einmal stechen würden. Er sah gerademal seine Hand vor Augen, alles andere um ihm herum war weiß und nass. Er verlor sich, wusste nicht mehr wohin. Er wusste nicht einmal ob er gerade aus ging. Doch sein Wille seine Frau zu retten, machte ihn stark. So kurz vor dem Ziel durfte er nicht aufhören, nicht aufgeben.
Er nahm all seinen Mut zusammen, schloss die Augen, hielt beide Arme vor sich hin, um nirgends hineinzulaufen und beschleunigte seinen Schritt. Irgendwann musste doch diese Regen endlich aufhören. Es kam ihm vor wie
Stunden, bis er bemerkte, dass der Schauer nachließ. Insgeheim fragte er sich, ob es mit rechten Dingen vor sich ging, dass ihm kein Gebüsch oder Steinhaufen in die Quere gekommen war. Langsam öffnete er wieder die Augen, um sich etwas orientieren zu können, doch was er sah, ließ ihm die Luft weg bleiben.
Vor ihm erblickte er gleichmäßig verlaufende Hügel, auf denen je ein einzelner Baum stand. Die Bäume waren in voller Blüte und ließen, die sonst grüne Umgebung, im rosafarbenen Licht leuchten. Leicht wehten die Äste der Bäume im Wind. Je näher er diesen Hügeln kam, desto weniger wurde der Regen, bis er ganz aufhörte.
So wunderschön diese Landschaft auch war, hatte der mittelständige Mann ein ungutes
Gefühl in der Magengegend und es war nicht die Tatsache, dass er hungrig war. Emotionen kamen in ihm hoch. In seinem Hirn hörte er Frauen sprechen. Geschockt drehte er sich in alle Richtungen, jedoch war keiner außer ihm in Sichtweite. Gespenstisch strich ein weiterer Windhauch um seinen Körper, der die durch den Regen nasse Haut zum Gefrieren brachte. Generell lief ihm ein Schauer über den Rücken, den er nicht kontrollieren konnte. Die Stimmen in seinem Kopf wurden lauter, als er auf den nähesten Hügel ging, um dem Baum näher betrachten zu können.
Er hatte es geschafft. Er hatte den beschriebenen Ort gefunden an dem Dinge, die unmöglich zu sein schienen, möglich werden zu lassen. Jetzt hieß es nur noch die
passende Seele zu suchen, die seiner Frau, dass Leben retten sollte, jedoch wurden die Töne, die die Frauen in seinem Gehirn gaben, fast unerträglich. Sie fingen regelrecht zu schreien an. Der Mann war nur noch einige Meter von dem Baum entfernt und konnte nun ein Zeichen in deren Rinde wahrnehmen.
In einem runden Kreis waren einfache zwei Wellen zu erkennen. Wasser. Er wusste, von der Geschichte, dass die Fähigkeiten in Elemente aufgeteilt wurden. Feuer. Wasser. Erde. Luft.
Doch welches Element welche übernatürliche Kraft hatte, konnte die alte Dame ihm nicht offenbaren. Wie sollte er nun die passende finden?
Sieben Schritte trennten den Mann jetzt von
dem Stamm, die rosablühende Krone reichte ihm schon über den Kopf, als plötzlich ein schrill grellender Schrei durch seinen Kopf jagte. Schwerfällig fiel er zu Boden, hielt mit beiden Händen seine Ohren zu, um den Ton irgendwie zu entkommen. Allerdings machte das wenig Sinn, da die Stimme nicht von außen kam. Schmerzerfüllt wälzte er sich am Boden. Die Sonne schien durch die Äste direkt auf sein Gesicht und er musste die Augen zukneifen, um nicht geblendet zu werden.
Auch wenn er sich nicht sicher war, was ihm auf dieser Reise erwartete, hatte er sich das ganze schon um einiges leichter vorgestellt. Schnell versuchte er von dem Baum weiter weg zukommen, um das Geräusch wieder los zu werden oder besser gesagt, um den Pegel
der Lautstärke wieder etwas zu reduzieren. Er war sich nun ganz sicher, dass die Schreie von dem Baum ausgingen und je weiter weg er von ihm war, desto erträglicher wurde es.
Als er sich jedoch rücklings weg robben wollte, stieß er plötzlich auf einen harten Gegenstand. Noch immer geblendet von der Sonne und etwas betäubt von dem ohrenbetäubenden Geräusch, sah er hoch und konnte nur die Umrisse eines schwarzen Hutes erkennen. Geschockt stolperte er einige Meter davon. War ihm doch jemand gefolgt?
Er starrte auf die Person, die vollkommen in schwarz gehüllt war und deren Gesicht man nicht ausmachen konnte, da es von einer Maske verdeckt wurde. Wie war sie ihm so schnell nachgekommen? Und wieso hatte er
sie nicht bemerkt? War er so auf den Baum fixiert gewesen, dass er alles anderen um ihn vergaß oder waren die Stimmen schuld, die dauernd vor sich her schrien oder sprachen?
Als er speziell an diese dachte, musste er plötzlich feststellen, dass diese verschwunden waren. Frei von allem konnte er nun endlich die Umgebung wahrnehmen, das Geräusch des Windes, das durch die Blätter der Bäume wehte, seine schnelle Atmung, da ihm der Unbekannte ziemliche Angst bereitete und die Wärme der Erde, die keineswegs, schlammig von dem Regen war, sondern weich und saftig wirkte.
„Was willst du hier?“, fragte nun die schwarze Person eintönig.
Ihn überraschte, dass er auf einmal sprach,
obwohl es die natürlichste Sache zwischen zwei Menschen war. Allmählich richtete sich der gestürzte Mann wieder auf, da er sich am Boden wie ein kleines Häufchen Elend vorkam. Noch dazu nutze er die Gelegenheit um seine Stimme wieder zu finden.
„Bist du mir gefolgt?“, stellte er räuspernd die Gegenfrage.
Die Person war ihm nicht ganz geheuer. Sie wirkte nicht gerade groß und imposant, allerdings schon furchteinflössend und mit dem schwarzen Umhang, der Maske und dem Hut nicht ganz von dieser Welt.
„Ich bin der Wächter der Seelen“, erwiderte er dem Mann.
„Wächter?“, wunderte er sich, „Die alte Dame hat mir gar nichts davon
erzählt.“
Da hatte er schon das erste Beweisstück, dass die betagte Frau ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Er wusste, dass sie etwas geheim hielt und es würde wahrscheinlich nicht die letzte Sache bleiben.
„Ob wissen oder nicht. Du bist nicht befugt hier zu sein.“
„Es geht um meine Frau, sie leidet an einer unheilbaren Krankheit. Könnt ihr mir helfen?“, flehte der der Mann, da er genau merkte, dass dies der Moment war, um solch eine Bitte auszusprechen.
„Du willst also die Seelen bestehlen, um dir eine ihrer Fähigkeiten anzueignen?“, die Sprechweise des Unbekannten wurde bedrohlicher und der eisige Tonfall seiner
Stimme rann dem Mann wie ein kalter Schauer den Rücken hinab.
„Nein!“, widersprach er den in Schwarz gehüllten, „Ich will keine Fähigkeit für mich. Ich will meine Frau retten! Bitte, helft mir!“
„Die Seelen von Lhunaá verbleiben an ihrem Ort. Die Geschichte soll sich nicht wiederholen.“
„Aber…“, wollte der nun verzweifelte Mann, den Wächter umstimmen.
„Schweigt!“, fuhr dieser ihn nur an, „Ich weiß nicht, wie ihr so schnell diese geheime Gegend gefunden habt, dass wird jedoch zu euerm Verhängnis. Keiner darf hierher und die, die sich hierher verirren, dürfen nie wieder hinaus. Es tut mir Leid, mutiger Mann. Das ist dein
Ende!“
Wieder durchfuhr ihm ein durchdringender dröhnender Ton, der ihn die Knie zwang. Die Hügel bewegten sich vor ihm hin und her und verblassten langsam vor seinem Auge, bis er nichts mehr sah, außer der schwarzen Gestalt. Wieder presste er sich die Hände auf die Ohren. Wieder erfolglos. Bitterlich kämpfte er gegen das Schwindelgefühl. Er war so weit gekommen. Er hatte den Ort gefunden, wo er seiner Frau ein zweites Leben schenken konnte. Er hatte Gefahren ausgestanden, war furchtlos und tapfer jeder Begegnung entgegen gestanden und kurz vor seinem Ziel war alles sinnlos geworden.
Nun fing auch, der Unbekannte sich vor seinen Augen zu drehen an. Seine Lider wurden
immer schwerer, der schrille Ton unerträglicher, bis er ihn gänzlich einnahm. Sein Körper sackte ganz zusammen und er lag reglos auf dem Boden vor dem wunderschönsten blühenden Baum, den er in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
Die ganze Hoffnung, die er gehabt hatte, wurde mit einem Schlag beziehungsweise Ton, zunichte gemacht. Seine Frau starb eine Woche nach ihm.