Beitrag zum Forumbattle 40.
Vorgegebener Anfangssatz: J. fuhr nach Spanien, um zu sterben.
Pflichtwörter (alle verwendet):
Distel
flirrend
Perle
Vermächtnis
schwindelig
Sonnenuntergang
palavern
Wildbienen
Affenbrotbaum
beurlauben
Kaninchen
ungezähmt
Ein kleines Herz den Sternen nah
J. fuhr nach Spanien, um zu sterben. In ihrem Wagen glitt sie über die ebene Fläche der Autobahn, die sich zur Morgenstunde noch leer und unaufgeregt vor ihr erstreckte. Der Mittelstreifen blinkte: weiß, grau, weiß, grau, weiß, grau, weiß, grau, weiß, grau, hypnotisch. Sie versuchte jede weiße Linie einzeln zu erfassen, schwenkte ihren Blick wieder ins Periphere und erlag der Illusion der Geschwindigkeit. Wie schnell war sie? Würde es reichen, wenn sie plötzlich das Lenkrad nach rechts zog und den Graben mit dem Blechhaufen ihres Wagens bestückte? Darin ein zerfetzter Rest eines Körpers, einer Frau? Wer würde das erkennen? Zeit ihres
Lebens war sie dem Weiblichen so nah, wie Perlen der Wüste. All das Schöne, Grazile, Elegante und Zarte lag ihr fern, doch ging ihr so nah in jedem flirrenden Gelächter, das sich über ihrem Haupt ergoss, in jedem beiläufigen Wort, das sie streifte und doch tief traf, strafte mit der Gewissheit, anders zu sein. Im kleinen Prinzen las sie von Affenbrotbäumen. Diese seien gefährlich, wenn man sie nicht früh genug am Wachsen hindert und ihre Triebe ausreißt. – Sie ließ sie aber wachsen, antriebslos, sie gediehen in ihrer Brust und schlugen unsichtbaren Pranken zu allen Seiten aus. Es war eine Pest, ein Parasit, der sich am falschen Lächeln nährte, an den Lügen ihrer Ausreden, am Kampf, den sie jeden Tag focht
und immer verlor.
Sie warf einen Blick auf den Beifahrersitz. Ein Büchlein lag darauf. Ein Büchlein, das sie seit Jahren begleitete. Darauf war ein kleiner, blonder Junge zu sehen, der auf einem kleinen Planeten stand und in die Sterne schaute. Unzählige Male hatte sie seine Geschichte gelesen. Wenn man sie fragen würde, könnte sie wohl jedes Kapitel auswendig aufsagen. Von der kleinen Rose, mit den vier Dornen, vom Fuchs und der Schlange, vom Brunnen in der Wüste und der Leere im Herz, wenn ein Freund geht. Und vom Sonnenuntergang, der traurige Menschen tröstet.
An einer Raststätte holte sie sich ein Brötchen und Wasser. Unverschämt diese
Preise, dachte sie. Wenn ich nicht zum Sterben führe, könnte ich mir das nie leisten.
Am Rande des Parkplatzes wuchsen wilde Disteln. Ihre Stacheln erinnerten sie an die Rose aus dem Buch. Aber es waren viele, wie die Rosen im Garten auf der Erde, als der kleine Prinz erkennt, dass sie nichts wert sind, weil niemand sie liebt. Das ist bei Menschen wohl genauso, dachte sie. Was bin ich wert, wenn niemand mich liebt? All diese leere Worte, die etwas von Menschenwürde palavern, von der Individualität. Vieh sind wir! Kaninchen, die sich von Tag zu Tag poppen und hoffen, ihre Ängste mögen nicht auffallen. Es ist so erbärmlich, so widerwärtig menschlich. Sie wollte das nicht mehr mitmachen und bald
würde sie diesem Strudel entstiegen sein. Wieso Spanien? Sie wusste es nicht genau. Vielleicht war Spanien weit genug weg, um das Ende lang genug vor sich herschieben zu können. Da lag ja ganz Frankreich dazwischen und davor noch viel, viel Deutschland.
Die Urlaubsfahrten damals dauerten immer eine Ewigkeit, wenn ihr Vater den vollgepackten Wagen durch die Nacht lenkte, um am Morgen am Meer zu sein. Er plante alles akribisch. In seinem Kalender war das Datum rot angestrichen, an dem er sich beurlauben ließ, um mit seiner Familie die Reise anzutreten. Bei der Autofahrt saß sie hinten und schaute aus dem Fenster. Sah die Sonne untergehen und zählte die
Laternen am Rand der Straße, die LKW's, die sie überholten, die Songs im Radio und die Kilometer auf der Anzeige. Es waren viele, viele und irgendwann schlief sie ein, mit einem Lächeln auf den Lippen, in der Erwartung eines ersten Tages am Meer.
„Du bist Zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ Zähmen nannte es der Fuchs im Buch, wenn der kleine Prinz ihn an sich gewöhnt hatte. War es Liebe?
Eigentlich war es doch nur ein Kindermärchen und doch breitete sich in ihr das ungezähmte Gefühl aus, dass es mehr war. Wie konnte ein Buch so viel über sie wissen? Ihr wurde schwindelig, wenn sie daran dachte, wie genau er ihre Seele erfasst
hatte, er, der vor vielen Jahrzehnten eine Geschichte geschrieben hatte, ein Vermächtnis hinterließ, das ihn und sie und viele weitere Generationen überdauern wird.
Trotz ihres Aussehens, trotz ihres Andersseins war da dieser eine Mensch, der sie geliebt hatte oder immer noch liebte und lieben wird – wie ein Blitz durchbrach dieser Gedanke die Leere ihrer Seele und gab für Augenblicke Hoffnung. Was tat sie hier? Wie dumm war der Gedanke daran, sterben zu wollen? Wie beschränkt die Vorstellung, dass das die Lösung ihrer Probleme wäre?
Sie bremste.
Hielt auf dem Seitenstreifen an und stieg aus.
Die Sonne kletterte langsam hinter dem Horizont hervor und tauchte die Baumwipfeln
in Gold. Hinter der Leitplanke wuchsen Blumen. Sie konnte nicht genau erkennen, welche Art Blumen es waren, dazu war es noch zu dunkel. Aber sie sah, wie Wildbienen um sie herum schwirrten. Ihr Summen war leise zu hören, wenn gerade kein Auto hinter ihr vorbeifuhr.
Sie atmete ein und wieder aus, lehnte sich an ihren Wagen und sah in den Sonnenaufgang. Die Schwere wich von ihrer Brust und sie lächelte zaghaft. Irgendwo da draußen ist jemand, der sie liebt. Vielleicht geht für ihn gerade die Sonne unter und er schaut ihr traurig nach und denkt an J., von der er noch nichts weiß.