Kurzgeschichte
Gestatten - Kamilla

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"Gestatten - Kamilla"
Veröffentlicht am 03. Mai 2015, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse. Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie. Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.
Gestatten - Kamilla

Gestatten - Kamilla

„Habt ihr   nicht schon genug zu tun?“ grinst mich meine beste Freundin an.

„Für Experimente sind wir immer offen. Denke an unsere WG, als du vorübergehend bei uns einzogst“, grinse ich zurück, dann muss ich berichten.

Für 3 Monate haben wi also ein weiteres Kind, ein Mädchen, ab diesem Sonntag süße 17 Jahre, also im besten Teenageralter. Eine junge Russin.

Kamilla, wie die Gattin des britischen Thronfolgers, nur ohne „C“, weil das kyrillische Alphabet diesen Buchstaben nicht kennt. Nicht mehr Olga oder Tamara, die einst typischen russischen Namen.

Sie stammt aus Kasan. Das liegt im Westen des Riesenlandes an der Wolga und ist die Hauptstadt der Autonomen Republik Tartastan. Die Hälfte der Einwohner sind Russen, die andere Tartaren. In Kamillas Lehrplan sind beide Sprachen vertreten und darüber hinaus noch deutsch, seit nunmehr 9 Jahren. Auf ihrem Zeugnis steht durchweg die Note 5 und dahinter das Wort „otlitschno“ für: „ausgezeichnet“.

Der Schüleraustausch erfolgte über einen gemeinnützigen Verein, die Mitglieder arbeiten unentgeltlich, die Gasteltern bekommen ebenfalls keine Vergütung. Nur so kommt der Austausch zustande, denn die Eltern der Kinder verdienen

meist nicht mehr als 200 bis 350 Euro im Monat. Nur die besten Schüler werden, u.a. nach ihren sozialen Kompetenzen, ausgewählt. Der Auswahltest fand vor Ort statt, Kamilla erhielt die Note 2, eine bessere wird nicht vergeben.

Ein großer Teil der Tataren sind Muslime, die Russen orthodoxe Christen. Menschen jüdischen Glaubens, Katholiken und Protestanten sowie Angehörige anderer Minderheiten leben hier ebenfalls. Zum Zeichen des friedlichen Zusammenlebens wurde ein „Tempel der Religionen“ errichtet, erzählt Kamilla. Schon rein äußerlich findet sich jeder in diesem Bauwerk

wieder. Daneben besitzt Kasan auch die größte Moschee Europas.

Kamilla findet das normal.

Sie geht hier in Deutschland gern zur Schule und freut sich jeden Morgen auf ihre Klasse. Die Mitschüler bemühen sich um die Neue, und sie genießt die Aufmerksamkeit sichtlich. Besonders interessant findet sie das Fach „Ethik“, nicht nur, weil die junge Lehrerin ihr den Stoff ins Russische übersetzt. So ein Fach gibt es an ihrer Schule nicht. Aber auch die Thematik findet sie spannend.

Wir Dörfler fahren viel Fahrrad, jetzt, da der Raps blüht und die Wiesen voller

Löwenzahn leuchten, für uns ein unbeschreibliches Glücksgefühl, für das Großstadtkind ein völlig neuer Blickwinkel. Schnell hat sie sich an die tägliche „Willyrunde“ per Pedes gewöhnt.

Am Samstag fährt meine Tochter Maria nach Dresden und nimmt Kamilla mit. Übers ganze Gesicht strahlend erzählt sie am Abend: „Ich liebe Dresden, so wunderschön!“ Na, dann sind wir ja schon 2, die diese Leidenschaft teilen.

Ansonsten ist unsere Tochter auf Zeit so wie alle in diesem Alter. Ihr Handy ziert das Abbild eines Herrn mittleren Alters.

„Dein Papa?“  

„Nein, ein Schauspieler.“

„Achso, schade ich kenne keine russischen Schauspieler.“

„Er ist Amerikaner.“

Natürlich, die Zeit ist nirgendwo stehen geblieben. Dafür bringt ihr mein Mann, der Korrekte, sofort bei, wann und wie man bei uns grüßt. Es liegt also doch am Alter und nicht am Land, die „Maulfaulheit“ der Teenager.

Kamilla lernt schnell, ist äußerst neugierig, probiert alles aus, ob beim Essen, bei technischen Geräten im Umgang miteinander. Und wo wir hinkommen, erweisen sich auch andere

als gute Gastgeber. Der Inhaber des Fitnessstudios lässt sie dort trainieren, während wir unsere Rückenschule absolvieren, die Lehrer sammeln Geld, damit sie an der Klassenfahrt teilnehmen kann.

Wir sind zufrieden mit unserer „Tochter“, und ihr gefällt es in ihrem neuen Zuhause.

Und wenn sie in Kasan dann ihrer Klasse und die Kinder ihren Eltern von uns und von Deutschland erzählen, hat der jetzt gesäte Hass keine Chance mehr und unsere Welt ist vielleicht ein Körnchen besser geworden.

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Über den Autor

Albatros99
Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse.
Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie.
Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.

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pekaberlin Schön, Christine!
Die Welt könnte so friedlich sein, ließe man die Jugend einfach reisen.
Reisen, als Pflichtfach in jeder Schule!
Ich war übrigens am 09.05. im Treptower Park! Es war großartig! Kein nationaler Wahn, kein Heldengeschrei! Einfach Lebensfreude, Besinnung und auch etwas Trauer, aber immer optimistisch nach vorn schauend. Eben so, wie ein Mensch seinen "zweiten Geburtstag" feiert, an jeder Wiederkehr des Tages, als er mit knapper Not dem Tode entkam. Nur, etwas mehr deutsch hätte ich dort gerne gehört. Aber vielleicht wird das ja doch mal.
Liebe Grüße
Peter
Vor langer Zeit - Antworten
NORIS Mit einander reden, Fragen stellen, offen sein für das andere, sich vor dem Fremden nicht fürchten, denn durch Reden und Zuhoren verliert es seine Fremdheit ... nur so kann es gehen. Bei uns hier in Fürth gab es am 30. April die lange Nacht der Religionen ... eine gute Gelegenheit, viele Vorurteile abzubauen ... die gibt es nämlich nur in unseren Köpfen, aber sie werden hartnäckig gepflegt. Für mich ist das völllig unverständlich.
Eine tolle Geschichte.
Liebe Grüße
Heidemarie
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Liebe Heidemarie, danke für deinen so positiven Kommentar. Ich werde versuchen, dich heute Abend, so nach 6, einmal anzuklingeln. Ich hoffe, es klappt.
Lieben Gruß bis dahin
Christine
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Was spricht mich mehr an ... der Inhalt oder die Form dieser Geschichte?
Beides, liebe Christine. Schön, dass Du Herz und Tür Deiner Gasttochter geöffnet hast - und genauso schön hast Du diesen verbindenden Akt in Worte gefasst. Ein unverkrampfter, fließender Schreibstil, der mich wieder einmal von der ersten bis zur letzten Zeile begeistert. Das muss belohnt werden! :-)
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Vielen Dank für deinen netten Kommentar, liebe Kara. Du hast mich gleich doppelt geehrt!
Dir eine wunderbare Woche
Christine
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Gestatten - Kamilla..."
Eine sehr verbindende Geschichte,
die uns im Kontext sagen will,
was alles möglich ist,
wenn der gute Wille und gegenseitige Akzeptanz
von allen Seiten gleichermaßen zusammenkommen.
Gern gelesen...
LG Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Das ist ja interessant! Ich finde es toll, dass ihr sie aufgenommen habt!
Da wünsche ich euch noch viel Freude mit Kamilla und ihr natürlich auch!
Wir hatten früher auch Freundschaften mit Russen und Ukrainern, da hat es nie Probleme gegeben. Ich hatte mal ne Brieffreundin in Swerdlowsk, die wir eingeladen haben, aber sie durfte nicht kommen, es war damals sehr kompliziert...
Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Ja, da haben wir wieder unsere "alte Liebe" gefunden, Fleur. Vielleicht landen wir eines Tages doch noch mal am Baikal und fischen Omul, und vielleicht kommst du mit!
Liebe Grüße
Christine
Vor langer Zeit - Antworten
erato 
Ein wunderschöner Bericht von DIR,
der zu eigenem Tun inspirieren sollte.

Ganz liebe Sonntagsgrüße
Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 dank dir für deinen netten Kommi,

Christine
Vor langer Zeit - Antworten
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