Der matte Schein beinahe heruntergebrannter Kerzen verleiht dem Zimmer ein helles, die Umgebung in flüssiges Gold zu tauchen scheinendes Leuchten und ich spüre die angenehme Wärme, welche die Flammen ausstrahlen, auf meinem Gesicht. Kaum wahrnehmbar dringt leise Musik an meine Ohren, ein Zusammenspiel wohlklingender Töne, die mit den sich im Wind neigenden Bäumen vor meinem Fenster zu harmonieren scheinen.
Ich kann nicht viel wahrnehmen, die Silhouetten der Bäume wirken verschwommen und die Musik vernehme
ich mit jedem verstreichenden Augenblick undeutlicher, doch anlässlich des Tages weiß ich, dass es sich um ein Geburtstagslied handeln muss- vielmehr wurde ich soeben daran erinnert, andernfalls wäre mir mein scheinbar einhunderttausendster Geburtstag wohl entfallen. Die meisten Gäste sind bereits fort, nur leises Gemurmel weniger Leute ist noch zu vernehmen, und ich starre noch immer wie gebannt auf dieses Bild, das man mir geschenkt hat. Ich begreife nicht, warum ich es derart deutlich sehe- jeden Grashalm, jede Einkerbung in der hölzernen Treppe und die Struktur des kargen, grauen Gesteins, welches sich
wie eine gewaltige Wand am Ende der Stufen auftut. Noch weniger jedoch begreife ich, wieso nun ausgerechnet ein solches Bild die zuvor leere Wand über meinem Kamin ziert. Hätte ich mein Leben in einem Bild, einem Symbol zum Ausdruck bringen müssen, wäre es kein anderes gewesen- und müsste ich beides beschreiben, den Verlauf meines Lebens und dieses Bild, wäre jedes Wort wohl identisch gewesen.
Vor mir erstreckte sich eine lange, kein Ende finden zu wollen scheinende Treppe, nicht steil, die Stufen nicht hoch. Der Aufstieg kostete mich keine Anstrengung, sanfter Wind schien mich vorsichtig hinaufzuschieben, sodass ich
selbst kaum etwas tun musste, und sattgrüne, von kühlendem Tau bedeckte Grashalme kitzelten mich. Kein Schlamm blieb an meinen makellosen, golden glänzenden Schuhen haften und kein grauer Stein, nicht der kleinste, rundeste Kiesel, lag in meinem Weg- nicht ein Mal musste ich die Kraft aufbringen, mich nach einem mir den Weg versperren wollenden Stock zu bücken, nicht ein Mal musste ich einem an mir vorüberzischenden Vogel ausweichen. Und wie ich ewig jene hürdenfreie, mir
den leisesten Funken von Arbeit zu nehmen scheinende Treppe hinaufschritt- nein, hinauftänzelte, sprang- wurde der allzu unbeschwerliche Aufstieg zu einer nie angezweifelten Selbstverständlichkeit. Plötzlich jedoch, als ich mit geschlossenen Augen die Treppe hinaufschwebte, nicht das geringste Hindernis erwartend und völlig furchtlos, spürte ich mit einem Mal eine eisige Kälte, welche zunächst mein Gesicht erfasste, dann unter meine glänzende, reine Kleidung drang und mich erzittern ließ. Ich streckte langsam die Hände aus, meine Augen blieben
geschlossen- diesmal jedoch vor Angst. Ich hatte Angst vor dem, was vor mir liegen könnte, Angst davor, den völlig unbeschwerlichen Weg aufgeben zu müssen. Als ich die Finger ausstreckte, spürte ich etwas Hartes, Kaltes, dessen Riesenhaftigkeit ich mit noch immer geschlossenen Augen wahrzunehmen glaubte. Beinahe wären mir Tränen in die Augen gestiegen, doch ich überwand meine Angst und blinzelte, um das vor mir Liegende betrachten zu können. Dann erstarrte ich, mein Herzschlag schien auszusetzen und ich hielt
unwillkürlich die Luft an: Vor mir tat sich eine gewaltige, von scharfkantigen Rissen durchzogene Felswand auf, deren höchsten Punkt ich durch den dichten, sich binnen weniger Augenblicke gebildet zu haben scheinenden Nebel nicht zu erkennen vermochte und die jedes verbliebene Licht in ihrer grauen Trostlosigkeit verschlucken wollte.
All meine Gedanken, meine Gefühle schienen sich zu vermischen- ich verspürte Wut, weil ich mich so lange vom Wind hatte die Treppen hinaufschieben lassen, mit verschlossenen Sinnen- ich hatte nichts gehört, nichts gerochen, nichts gesehen. Hätte ich die Augen geöffnet, vielleicht
hätte ich dann die grauen Silhouetten dieser riesigen Wand ausmachen können, von weitem, um mich darauf vorzubereiten. Ich verspürte Verzweiflung, weil plötzlich kein Wind mehr blies, der mir auch den Aufstieg auf diesen Felsen ermöglichte. Ich verspürte Trauer, weil mir plötzlich meine eigene Feigheit klar wurde. Warum hatte ich nicht den Mut aufgebracht, einen etwas beschwerlicheren Weg zu wählen, der jedoch nicht von einem solchen Hindernis blockiert wurde, warum brachte ich nun nicht den Mut auf, diese Wand zu erklimmen?
Versuche es, dachte ich und sog einmal
tief die plötzlich von keinem süßen Duft mehr durchzogene Luft ein, wobei sich mein Blick steil nach oben richtete, wo ich den Gipfel der Wand vermutete.
Wie von selbst legten sich meine Hände auf das von jedem leisesten Funken von Wärme verlassen zu sein scheinende Gestein, meine Finger krallten sich in die Furchen hinein und ich versuchte verzweifelt, mich hinaufzuziehen- doch ich fand keinen Halt, meine Füße glitten wie ein herabstürzender Fluss an dem Felsen hinab und aus meinen Armen schwand jede Kraft, sodass ich mit einem leisen Schluchzen zu Boden sank. Unzählige Male versuchte ich es erneut, stürzte, sank auf die Knie und wollte in
meiner Verzweiflung nicht mehr aufstehen. So oft verspürte ich den Drang, mich herumzudrehen und die Treppe hinabzulaufen, ohne nur ein Mal zurückzublicken.
Irgendetwas, ein undefinierbares Gefühl in mir hielt mich jedoch vom Aufgeben ab, eine Art innere Stimme, die mir Anweisungen gab. Doch es waren keine Befehle, die ich zu befolgen hatte, vielmehr waren es vorsichtige, wohlwollende Ratschläge. Letztendlich war es meine Entscheidung, mein eigener Wille, der mich zum Weitermachen antrieb, denn ich war mir über diese gewaltige Hürde als das wohl einzige Ziel meines Lebens, das es zu erreichen
galt, im Klaren. Immer wieder wagte ich neue Versuche, probierte neue Wege aus, und nach einiger Zeit wurde ich mir meiner Fortschritte klar. Mit mehr Kraft hielt ich mich an immer kleineren, schmaleren Vorsprüngen fest und meine Züge gewannen an Sicherheit, bis ich nach unzähligen mir zu mehr Mut sowie Motivation gereichenden Stürzen einen tiefblauen Himmel erkennen konnte, wo zuvor nichts als jenes karge Grau über mir aufgeragt hatte. Das war es, das Ende der gewaltigen Felswand, mein Ziel, für welches ich derartig viel Zeit sowie Anstrengung aufgebracht und auf das ich mich so lange vorbereitet hatte. Mit einem Mal spürte ich die wärmenden,
mich in ein orangenes Glänzen tauchenden Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, vernahm das melodische Zwitschern scheinbar unsichtbarer Vögel, das in mir ein unbändiges Glücksgefühl aufflammen ließ.
Mit den Händen ertastete ich die von der Sonne erwärmte Kante und nahm all meine Kräfte zusammen, um mich mit zusammengebissenen Zähnen hinaufzuziehen- und dann saß ich plötzlich dort, auf dem Gipfel, in das unendliche Blau des beinahe wolkenlosen Himmels hinausblickend. Nie zuvor hatte ich eine solche Freude verspürt, und in dem Moment wurde mir die Richtigkeit meiner Entscheidung, jene Hürde zu
überwinden, klar. Man kann sagen, ich sei zuvor verwöhnt und bequem gewesen, doch eins weiß ich nun sicher: Hätte ich nach einem einfacheren Weg gesucht oder wäre jene lange, weite Treppe wieder hinabgestiegen, hätte ich zwar nie Anstrengung gekannt, jedoch auch kein wirkliches Glück.
Und genau das ist wohl der Grund, warum dieses Bild einer hölzernen Treppe nun mein Wohnzimmer ziert.