Walpurgisnacht
Es ist wieder einmal soweit: die Nacht der Nächte für Hexen und Geister aller Art ist gekommen. Die ersten Frühlingsboten zeigen, dass es wieder aufwärts geht mit dem Licht und in der Natur. Gerade in der Walpurgisnacht sind die Welten durchlässig und alle möglichen Wesenheiten können sich hier auf der Erde tummeln.
Kommt man an bestimmte Plätze auf freier Flur, auf den Anhöhen im Gebirge, auf verschwiegen liegende Lichtungen im Wald, dann fühlt man ein geheimnisvolles Weben um einen herum. Und wenn man den Mut hat, die Zeit bis kurz nach Mitternacht an einem
solchen Ort zu verweilen, dann kann man dort den Wesen aus der Anderwelt begegnen und die wunderlichsten Sachen erleben.
Ein verhältnismäßig früher Abend senkt sich nieder. Die Luft ist schon mild, zarte Wolkenschleier liegen über dem Himmel wie eine dünne Decke. Sterne sind kaum zu sehen, weil der Vollmond viel zu hell scheint. Ein paar Rehe ziehen über die Waldlichtung und aus den Wipfeln der Bäume hört man den Schrei eines Kauzes. Kiwitt, kiwitt, kiwitt. Es klingt fast wie "komm mit" und scheint der Auftakt zu sein für jene, die wenig später die Lichtung bevölkern werden.
Als eine dunklere Wolke für Augenblicke den Mond verbirgt, senkt sich das erste Geschöpf auf die Waldlichtung nieder. Aus den Lüften kommt es, hässlich anzusehen mit seinem großen Buckel, den Fetzengewändern, die den dünnen Leib nur dürftig verhüllen, und den langen Beinen, die das Reisegefährt fest umklammern. Ihr Reisegefährt, einen Besen, rammt sie mit dem Stiel in die Erde, auf dem Birkenreisig des Besens nehmen die drei Eulen Platz, die eben eingetroffen sind. Dann hockt sich das Wesen auf den Boden, murmelt unverständliche Worte und entzündet auf diese Weise ein Feuer, dessen Flammen nicht von Holz genährt werden.
Wenig später treffen sie aus allen
Himmelsrichtungen ein, scheinen sich gegenseitig an Hässlichkeit überbieten zu wollen. Die eine ist ebenso dünn wie die zuerst angekommene, hat lange rote, zerzauste Haare. Ihr Gesicht gleicht einem runzeligen Apfel und trägt auf der Nase eine riesige Warze. Eine andere hat lange schwarze Zöpfe, auf die sie fast tritt. Ihr in schrillen Farben leuchtender Rock verbirgt kaum ihre Bocksbeine. Wieder eine andere hat beinahe ein Puppengesicht, aber die grünen Haarzotteln und die feurigroten Augen lassen sie auch nicht gerade hübsch aussehen. Eine schleppt eine magere, schwarze Katze mit sich, andere bringen ihre Tiere in Form von Ratten, Eulen, Raben oder Schlangen mit. Ihre Reisegefährte sind so
unterschiedlich wie die Wesen selbst.
Es sind die Frühlingshexen, die mit ihren Mitteln das Gedeihen in der Natur unterstützen oder blindwütig zerstören können. Eine von ihnen schnippt nur einmal mit den Fingern und schon steht ein riesiger Kessel bereit. Jede von ihnen hat irgendetwas mitgebracht, was nun in dem Kessel landet. Als er über das Feuer gestellt wird, duftet es bald verführerisch. Hinein schauen müsste man können, um zu wissen was wirklich drin ist!
Das Schwatzen und Lachen der Hexen tönt über die Waldlichtung. An der einen Stelle stehen drei zusammen, lachen, scherzen,
singen. An anderer Stelle haben sich noch mehr zusammen gefunden. Sie stecken die Köpfe dicht zusammen. Wahrscheinlich tauschen sie gerade Rezepte für unbekannte Zaubertränke aus. Wieder woanders steht eine kleine Gruppe, die hört man deutlich an einem neuen Hexeneinmaleins basteln.
Dann ist es endlich soweit. Die Oberhexe aus dieser Region bittet zu Tisch. Ruckzuck haben sie gemeinsam ein rotes Tischtuch auf der Erde ausgebreitet. Teller, Besteck und Becher holen sie irgendwo aus ihren langen Röcken oder Zipfelgewändern. Ein beherzter Griff in den Kessel fördert bei einer Satansbraten mit Blutsoße auf den Teller.
Eine andere füllt Teufelsgulasch in Feuertunke in eine kleine Schüssel. Dann findet man noch gebratene Raben, gegrilltes Drachensteak, Tintenspaghetti, lila Schierlingssalat, grüne Teufelseier mit weißer Soße, dunkelblauen Kartoffelbrei mit gehacktem Eulenhirn und andere Spezialitäten aus der Hexenküche.
An Vegetarier ist auch gedacht mit ausgebackenen Engelstrompeten und Einbeerenmus sowie Eibenmarmelade. Und die Getränke erst: Blutgeschwür, schwarzen Glühwein, grünen Gallapfelmost, Bilsenkrautlimonade und Stechapfelsaft. Die Nachspeise besteht aus Mutterkornpudding mit eingemachten Tollkirschen. Und zur
besseren Verdauung serviert man Zaunrübenschnaps.
Die Anwesenden schlemmen nach Herzenslust und genießen die Vielfalt der nur für sie bekömmlichen Speisen und Getränke.
Als drei späte Gäste mit ihren Musikinstrumenten eintreffen, kennen die Anwesenden kein Halten mehr. Jetzt wird getanzt, dass die Sohlen rauchen. Einige beginnen laut zu juchzen, andere heulen oder hüpfen wie junge Stiere zwischen den Tanzenden herum. Es ist ein lautes und wildes Spektakel geworden, das noch weit bis nach Mitternacht andauert.
Immer wieder streuen sie Hexenstaub oder Fruchtbarkeitspuder in die Luft. Das muss unbedingt sein. Und jährlich an einem anderen Tanzplatz. So will es das Gesetz der Frühlingshexen. Als irgendwo ein Hahnenschrei ertönt, löst sich die ganze Versammlung im Nu auf. Schnell noch einen Fliegenpilzdrink, dann besteigen sie ihre Gefährte und schneller als der Schall sind sie über alle Berge.
Als es am Morgen danach richtig hell geworden ist, sieht man auf der Lichtung eine zarte, kreisrunde Spur, die vom Tanzvergnügen der vergangenen Nacht erzählt. Setzt man sich in deren Mitte und lauscht ein wenig, kann man die eine oder
andere Frühlingshexe noch kichern hören. Oder ist es nur der Laut eines Vogels?
Kommt man im Sommer und Herbst zufällig an diesen Platz, dann wachsen hier in der Kreislinie eine Menge Pilze. Sie zeugen von der wilden Tanzerei in der Walpurgisnacht und sind die Reste von Hexenstaub und Fruchtbarkeitspuder. Wenn man Glück hat, sind sie sogar essbar. Sonst lässt man sie am besten stehen.
Setzt man sich in einer Neumondnacht oder am Vorabend des Allerheiligentages in die Mitte des Kreises, dann kann man vielleicht noch einmal eine Ahnung von dem Spektakel im Frühlingerhaschen.
© HeiO 02-08-2011