VORWORT
„Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse: Vater, vergib!“
Ein Schlüsselsatz aus dem Friedensgebet, das seit 1959 im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale von Coventry jeden Freitag zur gleichen Zeit gesprochen wird.
Dieses Gebet ist entstanden innerhalb der „Nagelkreuzbewegung“, der sich weltweit Kirchengemeinden angeschlossen haben. Die Bewegung entstand in England, in Coventry. Der damalige Domprobst ließ nach der Zerstörung durch die Deutschen im
2. WK aus drei riesigen Zimmermannsnägeln
vom Gebälk des zerstörten Domes ein Nagelkreuz zusammensetzten.
VERGEBUNG
Für kurze Zeit ist Susanne zu ihrer Familie zurückgekehrt. Ihr Vater liegt im Sterben. Sie will ihn trotz allem in dieser Zeit begleiten und ihrer Mutter einige Lasten abnehmen.
Täglich verbringt sie mehrere Stunden am Bett ihres sterbenden Vaters. Kindheitserinnerungen steigen auf, schöne Bilder, aber auch die Bilder jener Stunden, in denen ihr Vater ihr zu nahe kam. So nahe, dass sie jetzt noch überall an ihrem Körper seine Hände spürt: besonders dort, wo Vaterhände gar nichts zu suchen haben. Sie sieht sich im Bett ihres Vaters, wehrlos, schutzlos diesen widerwärtigen Berührungen
ausgeliefert. Sie fühlt wieder, wie sie sich steif macht. Mit Entsetzen fühlt sie, wie sie heute noch steif wird sogar beim Anblick des Sterbenden.
Sie nimmt mit Entsetzen noch einmal wahr, wie sie ihr Gehirn spaltet, wie ihr Herz von Hass erfüllt ist, während ihr Mund lügt, weil er formuliert: Papa, ich hab dich lieb. Wieder und wieder, wenn er sie fragt. Und Hass und Lügen werden zu einem schweren Gewicht, das sie nun schon Jahrzehnte trägt.
So flüchtet sie ins Gebet. Fleht Gott an, jenem Menschen zu verzeihen, der ihr und ihrer Seele so unendlich viel Schmerz und Leid zugefügt hat. In ihrem Glauben sucht Susanne Halt, sucht nach Kraft in ihrer
Hilflosigkeit und bittet schließlich Gott, ihr Ruhe zu schenken.
Hat sie sich nicht auch ihrer Mutter anvertraut, von der Zuspruch und Hilfe gegen den Mann erwartet? Vergeblich. So bezieht sie auch die Mutter in ihre Gebete ein, Gott möge ihr verzeihen, dass sie geschwiegen und allem tatenlos zugesehen hat.
Mehr als eine Woche währen ihre ungezählten Gebete nun schon. Susanne fühlt, dass sie nicht ruhiger wird, dass Hass und Ablehnung gegenüber jenen Menschen wachsen, die sie Eltern nennt. Verzweiflung bemächtigt sich ihrer und oft weint sie sich in
den Schlaf, die Starke, die sie immer zu sein schien. Mehr und mehr fühlt sich Susanne von Gott und der Welt verlassen.
Endlich kann der Vater nach mehrtägigem Todeskampf sterben. Susanne kann nicht trauern. So stürzt sie sich ins Vergnügen, das letztlich keines ist; geht zu Fasnachtsveranstaltungen und sucht hier das Vergessen. Es gelingt nicht. So wendet sie sich wieder an Gott, versucht, in ihrem Glauben zur Ruhe zu kommen. Zur Versöhnung mit dem Leben. Susanne scheitert kläglich, fällt in eine tiefe Depression und trägt sich sogar mit
Selbstmordgedanken.
Als ihre Mutter im Sterben liegt, hofft Susanne, zumindest mit ihrer Mutter in einem liebevollen Gespräch Antworten auf ihre vielen Fragen zu bekommen. Sie hofft, endlich einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit ziehen zu können. Wieder muss sie eine bittere Enttäuschung hinnehmen.
Immer noch lastet der Fluch der bösen Tat, der tiefe Hass gegen den Vater, das Versagen der Mutter, auf ihrer Seele, raubt ihr ihre Lebensenergie. Auch von ihrer Kirche fühlt sich Susanne mehr und mehr enttäuscht. Wie oft hat sie zu Gott nicht nur
gebetet; nein, sie hat in ihren Gebeten geschrien, Gott möge ihrem Vater und ihrer Mutter ihre Fehler vergeben. Immer wieder hat man ihr bestätigt: Gott ist die Liebe, Gott vergibt.
Hat sich dadurch in ihrem Herzen, in ihrer Seele etwas verändert? Nein. Noch trägt sie Hass und Verachtung in ihrer Seele und in ihrem Herzen herum. Wenn sie daran denkt, spürt sie, wie sich ihr Herz verkrampft, wie eine Welle von Hass aufsteigt und durch ihren Körper zieht und eine unendliche Wut alle ihre anderen Gefühle dominiert. Blind vor Tränen begibt sich Susanne in die nächstgelegene Kirche. Was will sie überhaupt an diesem Ort?
Susanne lässt sich vor dem Ständer mit den vielen Opferkerzen nieder. Plötzlich macht sich der Schein der Opferkerzen selbständig, umfließt Susanne und eine innere Stimme sagt zu ihr:
„Gott hat längst vergeben, denn er ist Liebe. Vergib auch du aus Liebe zu deinen Eltern. Dann kannst Du genesen.“
Heute weiß Susanne, dass diese Sätze ihr Leben verändert haben. Sie hat vergeben und ihre Eltern fanden den rechten Platz in ihrem Herzen. Und so sagt Susanne immer und immer wieder:
„Mensch, vergib den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, Mensch von Mensch. Mensch, vergib dem anderen seine Fehler. Nur so trocknet man Aggression, Kampf und Krieg aus und schafft Frieden. Eine Entschädigung für begangenes Unrecht, sei es in Form von Geld oder auch Ländereien oder anderen Sachwerten, bringt keine echte Versöhnung. Das schafft einzig und allein Vergebung, wechselseitige Vergebung.“
© HeiO 19-04-2015
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