Das Erstgeborene
Die Kirchturmuhr schlug gerade Mitternacht, doch im ganzen Hause schlief keiner. Erwartungsvolles Eilen und Hantieren erfüllten den Palast. Türen klappten leise, aus der Küche im Kellergewölbe hörte man das Scheppern der Töpfe. Der junge Hausmeister trug wieder und wieder Körbe voller Holz ins Haus und beschickte den großen Ofen, der von der Küche aus die Gemächer des Schlosses mit warmer Luft versorgte. »Eduard, holt doch noch Wasser vom Brunnen«, bat Magda ihn. »Wir werden einiges davon brauchen«, meinte Anne, die Haushälterin, die mit Magda der Köchin am Herd beisammen saß. Sie ruhten kurz aus. Mit
der Sonne waren sie aufgestanden und der Tag war voller Aufregung gewesen.
»Seit der Mittagsglocke dauert es nun schon, die Herrin ist ganz bleich und schwach«, sagte Anne voller Sorge. »Hoffentlich geht alles gut.«
»Ja, sie ist so zart und zerbrechlich, die junge Königin. Wir sollten etwas von der Brühe nach oben schicken. Das wird auch allen anderen gut tun,« erwiderte Magda. Anne schlurfte zum Klingelzug, um das Stubenmädchen herbeizurufen. Trude erschien kurz darauf. Müde und blass, sie fragte: »Was kann ich tun?«
»Bring eine Terrine Boullion für alle nach oben, Trude! Ist der Doktor schon bei ihr?« wollte Anne wissen. Ihr rundliches Gesicht
zeigte an diesem Tage keine Lachfältchen. Ihre freundlichen Augen waren umschattet, sie machte sich Sorgen um die junge Königin, die ihr erstes Kind gebären sollte. »Ja, der Doktor ist vor kurzem eingetroffen, der König persönlich hat ihn nach oben geleitet, musste aber das Zimmer auch wieder verlassen«, gab Trude Bescheid. »Gebt schnell die Terrine. Wenn es losgeht, werde ich oben gebraucht!« Magda, die Köchin, hatte die Hühnerbrühe schon eingefüllt und Anne öffnete der Zofe die Tür.
Das ganze Haus, ja das ganze Land - alle erwarteten das Erstgeborene. Genauer, den Erstgeborenen. König Siegward, dem nach vielen Kriegszügen erst im reifen Alter das Glück der Liebe begegnet war, hoffte endlich
auf den Thronerben. Und mit ihm die Untertanen seines Reiches.
Und noch jemand wartete. Der Bruder des Königs. Ihm würde das Königreich zufallen, wenn nicht bis zum 60. Geburtstag des Herrschers der Erbe das Licht der Welt erblickte. Und wehe dem blühenden Staatsgebilde, falls Herweg, der jüngere Bruder, hier die Herrschaft übernehmen sollte. Geiz und Grausamkeit, Härte und Machthunger waren die Handschrift des Grafen und seiner Frau. Nicht nur einmal hatte König Siegward Untertanen aus der Grafschaft des Bruders Asyl gewährt. Zwischen den Brüdern schwelte ein hasserfülltes Belauern, weil der Vater seinem älteren Sohn Siegward Krone und Herrschaft
zugesprochen hatte, obwohl dieser noch nicht verheiratet war, wie es eigentlich Brauch war. Der jüngere Sohn hatte schon früh geheiratet. Dessen Frau, ungebildet und eitel, hatte sich nur für rauschende Feste und ihre Machtentfaltung interessiert. Die zwei Töchter und drei Söhne kamen ihren Eltern in allem nach, eine putzsüchtige und rauflustige Brut. Die vom Vater geerbte Grafschaft hatten sie ausgeplündert durch hohe Steuern und immer neue Sonderabgaben. Freier für die zwei Töchter fanden sich nicht, gab es doch keine Mitgift. Und die jungen Herren brachten außer ihrem Schwert und Ross nichts mit in eine Ehe. Keiner der benachbarten Grafen und Barone hatte Lust, seine Tochter einem der
Tunichtgute anzuvertrauen. So lag die Zukunft des Grafen einzig in der Hoffnung, die Macht über das wohlbestellte Königreich zu übernehmen. Dann müssten die Grafen und Barone in eine Hochzeit einwilligen.
Die Zukunft des Königreiches und seiner Untertanen hingegen lag in der Geburt des Thronfolgers. Seine Bestimmung würde es sein, des Königs Reich zu erhalten.
Wen wunderte es also, wenn das Schloss in dieser Nacht besonders wohl bewacht wurde. Im Schloss standen der werdenden Mutter der beste Arzt und eine Hebammen bei, dem Hoffnungsträger des Königreiches ins Licht der Welt zu helfen.
Und es schien knapp zu werden, denn des Königs Geburtstag fiel auf diesen neuen Tag,
der gerade heraufdämmerte.
König Siegward saß im Nebenzimmer seiner in den Wehen liegenden Frau. Bei jedem Laut, jedem immer schwächer werdenden Jammern sprang er auf. »Ach wenn ich doch ein wenig Leid von ihr nehmen könnte«, klagte er. Sein bester Freund, ein Haudegen aus Kriegszeiten, stand ihm auch hier wacker bei, lenkte ihn ab so gut es ging und schaffte es sogar, dass er von der duftenden Suppe aß, die im Nachbarzimmer auch der Königin löffelweise eingeflößt wurde. »Bleibt ruhig, mein Freund. So könnt ihr eurer Gemahlin nicht beistehen. Sie tut das Ihre. Und ihr tut das Eure, sammelt jetzt Kraft für die anschließenden Zeremonien. Es wird wohl ein doppelter Geburtstag werden«, versuchte
Baron Marwin zu scherzen. Doch Siegward lächelte nur mühsam und blickte aus dem Fenster. Der Mond hing blutrot über dem Wald. Der Morgen brach an.
Da ein Schrei, ein sehr langer Schrei, gequält und schmerzerfüllt. Er hallte durch das Schloss und ließ jedes Geräusch erfrieren. Der König sprang auf, bleichgesichtig. Noch ein Schrei. Diesmal eher erleichtert. Dann Stimmen, Geschäftigkeit. Einige Momente später tönte durch die Doppeltür das klägliche Quäken des Neugeborenen. »Habt ihrs gehört, er ist da! Ich habe einen Sohn! Wir haben einen Thronfolger!« Den frisch gebackenen Vater hielt nun nichts mehr, er stürmte hinüber ins Gemach seiner geliebten Königin. Er wollte
den Thronerben begrüßen und seiner Gemahlin für das Geschenk danken.
Der Arzt hatte das Kind soeben abgenabelt und der Hebamme zum Wickeln übergeben, als der König es in ihren Händen sah. Und dann brach er mit einem lauten, langen gequälten Aufschrei zusammen. Der Arzt wies das Stubenmädchen an, geschwind die schmutzige Wäsche hinauszutragen und die Tür hinter sich zu schließen. Dann kümmerte er sich um seinen ohnmächtigen Patienten. Die Hebamme versorgte den neuen Erdenbewohner und legte das Kleine der Mutter, die noch schwach aber glücklich lächelte, an die Brust. »Lebt es? Ist es gesund?«, fragte die Mutter mit schwacher Stimme. Die Hebamme nickte: »Ja, meine
Herrin, ein wundervolles Kind.« Und der Arzt ergänzte: »Ihr könnt stolz sein.“
Angelika hatte darauf bestanden, ihr Kind selbst zu stillen. Sie lächelte glücklich, als sie das ziehende Saugen des Kleinen spürte. »Und wie es lebt!« Nach einer Weile schlug der König die Augen auf, sah den Arzt an, der nahe bei ihm saß und fragte ihn leise: »Stimmt es, was ich sah?«
»Ja, Königliche Hoheit, Ihr saht richtig«, erwiderte der Arzt flüsternd. »Und weiß sie es?« »Nein. Außer mir und der Hebamme hat kein anderer es gesehen. Sie war sehr geschickt. Das Stubenmädchen habe ich mit der schmutzigen Wäsche hinausgeschickt.« Der König nickte dankend und schwieg. Sein müdes Gesicht war nun zerfurcht von
Sorgenfalten, als seine Gemahlin ihn rief: »Siegward, wir haben es geschafft. Ihr habt einen Erben. Seid Ihr glücklich?« Er nahm sich zusammen und trat ans Wochenbett seiner Gemahlin: »Ich danke Euch, Angelika, Ihr habt Euer Bestes gegeben. Nun ruht Euch aus und schlaft.« Er küsste sie auf die Stirn, küsste ihre Hand und küsste das Kind, das an der Mutter liegend eingeschlafen war, auf die Augen. Dann bat er auch den Hofgeistlichen aus dem Raum, damit die junge Mutter Ruhe fände. Nur die Hebamme wachte noch bei seiner Frau. Mit dem Doktor zog er sich ins Nachbargemach zurück, wo auch sein Freund auf ihn wartete und ihm jetzt einen Pokal mit kräftigem Wein reichte. »Auf euer Wohl, Freund Siegward, es ist
vollbracht!«, lachte er ihm zu. Der König nahm den Pokal, lud den Doktor ein sich ebenfalls zu bedienen und sich zu setzen. »Ja, Stärkung können wir jetzt gebrauchen, und ich euren Rat.« Die schrillen Schreie hatten ihren Weg durch die Lüftungskanäle bis in die Küche gefunden. Zunächst erschrocken, dann erleichtert schauten sich die drei an. Ein Lächeln entspannte ihre Gesichter. Doch als sie den Aufschrei des Königs vernahmen, der wie ein Todesschrei dem Lebensruf des Säuglings folgte, sprangen sie erschrocken auf und hielten ihre Ohren an die geöffnete Luftklappe. Was war passiert? Die Königin gestorben? Dann vernahmen sie die Stimmen des königlichen Paares. Nein, alle drei schienen wohlauf zu
sein. Trude kam mit den blutigen Laken und der Schmutzwäsche in die Küche. »Was gibts oben, warum hat der König so geschrien?« fragte Anne besorgt. »Ich weiß es nicht, er kam herein, schrie auf und sank in Ohnmacht. Es war wohl alles etwas zu viel für ihn in seinem Alter.« erzählte Trude, »Ich habe nur noch die schmutzige Wäsche und das Geschirr wegräumen können. Auch der Herr Pfarrer kam dann aus der Stube.« Sie überlegte: »Mutter und Kind sind aber wohlauf. Und die Herren haben sich dann zurückgezogen ins Nachbarzimmer.«
»Dank dir Trude, nun nimm dir von der Suppe und dem frischen Brot. Die Wäsche soll nach dem Sechs-Uhr-Läuten die Waschfrau machen. Du geh dann zu Bett.
Wenn etwas ist rufe ich Klara.« Anne hatte alles geregelt, schickte auch die Köchin und den Hausmeister zu Bett. Sie würde in der Küche bleiben, für alle Fälle. Es wurde ruhig im Schloss. Anne nahm sich vom Wein und setzte sich in den Lehnstuhl am langen Gesindetisch. Der königliche Schrei wollte ihr nicht aus dem Kopf. Was hatte den starken mutigen König in dem Moment, als er die Stube betrat - ja sein Kind sah - so erschüttert, dass er aufschrie wie ein verwundetes Tier und in Ohnmacht fiel?
»War der junge Prinz etwa entstellt? Ein Krüppel?« grübelte sie. »Aber das rechtfertigte nicht diesen Schrei. Denn der lebende Erbe war jetzt das Wichtigste. Die junge Frau wird noch viele Kinder gebären
können,« sprach sie halblaut ihre Gedanken aus. Doch schließlich schlummerte sie in der warmen Küche ein. Erst als Martha und das Küchenmädchen Klara die Küche betraten, schreckte sie aus wirren Träumen auf, in denen sie immer wieder ein Mädchen sah, dass auf einem Ross das Schwert schwang. Sie grübelte dem Traum hinterher, schwieg aber darüber und wusste ihn nicht zu deuten.
Es war bereits strahlender Tag, als die Herrschaften erwachten. Der König verkündete: »Das Erstgeborene wird am Nachmittag dem Volk präsentiert.« Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren und es verbreitete sich wie ein Lauffeuer, dass sich auch die junge Königin zeigen würde. Das Volk und auch die Gesandten des königlichen
Bruders drängten sich schon bald im Schlosshof. Man wollte nichts verpassen. Anne war gespannt, ob sie herausbekommen würde, was den König zu seinem Schrei und der Ohnmacht veranlasst hatte. Eine Fanfare ertönte. Sie brachte das Volk zum Verstummen.
Die Balkontüren wurden geöffnet. Der König trat hinaus ins strahlende Sonnenlicht. Er reichte seiner Gemahlin die Hand, die nach ihm den Balkon betrat. Alle sahen, wie schön jedoch auch wie blass sie war. Sie trug das Neugeborene auf dem Arm und barg es an ihrem Busen. Nur ein feines hellblaues Leinentuch verhüllte das Kind.
Der Abgesandte Herwegs rief respektlos und provozierend zum Balkon herauf: »Zeigt uns
dass der Knabe lebt, noch ist nix bewiesen!« Der König ignorierte den Schreihals. Er nahm der Königin vorsichtig seinen Sprössling ab und schaute ihn liebevoll an. Das Kleine beantwortete den Ortswechsel mit einem intensiven Protestgeschrei. »Nun, lebt es?« fragte der König und hatte die Lacher auf seiner Seite. Das Volk ließ Kind und König hochleben. »Wir geben dem Erstgeborenen den Namen Signy-Siegmund. Er wird die Taufe beim nächsten Vollmond erhalten«, verkündete der König und hob das Baby hoch über seinen Kopf. Für einen Moment war seine Nacktheit zu sehen, und man vermeinte auch sein Geschlecht zu erkennen. Danach ruhte das Kind sofort wieder wohl verhüllt an der Brust seiner
Mutter, schrie noch einige Augenblicke und verband sich dann mit der nährenden Quelle.
Seine Aufgabe war es nun zu trinken, zu wachsen und zu leben. Seine Bestimmung war es, Thronfolger und Bewahrer des Königreiches zu sein. Seine erste Schlacht schien siegreich geschlagen.
Doch Anne hatte genug gesehen, um zu wissen, dass sie der jungen Herrin und der Thronfolgerin ihre ganze Aufmerksamkeit widmen würde. Sie hatte das Geheimnis erkannt. Und sie schwor sich, was auch immer geschehen mochte, sie würde dem Erstgeborenen, der Thronfolgerin, die nun ein hartes Leben als junger Mann leben musste, ihr eigenes Leben widmen. Und so hatte auch sie ihre Bestimmung gefunden.