Kapitel 4 Die Seher
„Nach allem was ich weiß, sind die Seher eine recht verschlossenen Gemeinschaft. Und auch nicht unbedingt leicht zu finden. Ehrlich gesagt, würdet nicht grade ihr mir eines ihrer Symbole zeigen und danach fragen, ich würde jedem anderen einfach sagen, dass sie wohl gar nicht existieren.“
„Was genau sind das für Leute?“
„Wie gesagt, es gibt recht wenige Quellen über sie und viele davon wiedersprechen sich. Angeblich
entstammen sie den Eisnomaden oder vielleicht bilden sie auch einen eigenen Stamm bei diesen. Selber nicht grade die aufgeschlossensten Gesellen, was das angeht. Leider ist es bisher weder dem Orden noch den freien Zauberern gelungen einen lebend zu… studieren, aber nach allem, was wir wissen, verfügt ihr ganzes Volk bereits über eine ganz eigene Form von Magie. Eine, die sich vielleicht sogar unabhängig von den Blutlinien des alten Volkes entwickelt hat. Menschen, völlig ohne eine Spur des alten Erbes und doch mit klaren magischen Eigenschaften….. Es klingt verrückt, würde aber vielleicht erklären, wie etwas, wie die Seher entstehen
konnte. Man könnte sie als Anomalie bezeichnen, vielleicht ein Ergebnis von Jahrhunderten der Isolation und…..“
„Volero !“ Simons Stimme war laut genug, das sich mehrere Schüler in der Bibliothek zu ihnen umdrehten. „Ich bin nicht an Euren leeren Hypothesen interessiert. Ich will nur wissen, womit ich es zu tun habe. Und glaubt mir, sie sind keine Legende.“
Der ältere Magier räusperte sich umständlich.
„Verzeiht, Ordensoberster. Also… wo genau habt Ihr dieses Symbol gesehen?“
„Auf einem Kleidungsstück…und auf einem Stein. Und mehr werde ich Euch nicht verraten.“
„Ein Stein…“ der Bibliothekar schien den drohenden Unterton in Simons Stimme überhaupt nicht zu beachten.
„Ein Stein… ein… aber das kann nicht sein, oder? Welche Farbe ?“
„Bitte?“
„Welche Farbe hatte der Stein, Simon?“ Nun klang er selbst ungeduldig, beinahe düster. So musste er mit seinen Schülern reden, wenn sie an einer simplen Aufgabe scheiterten… aber so sprach er ganz sicher nicht mit ihm….. „Und seid ehrlich, das kann… Götter, antwortet mir einfach.“
„Ihr wagt es….“ Er hatte sich halb aufgesetzt, bevor er es selber gemerkt hatte. Hätte ihm in diesem Moment noch
seine ganze Macht zur Verfügung gestanden, er hätte dem alten Zauberer eine Lektion erteilt, die ihm mindestens ein paar gebrochene Rippen gekostet hätte.
„Die Farbe. Macht mit mir was Ihr wollt, Ordensoberster, aber das ist wichtig.“
Simon ließ sich auf seinen Platz zurück sinken.
„Schwarz.“, presste er mühsam beherrscht hervor. „Der Stein war schwarz. Könnt Ihr damit etwas anfangen.“
„Bitte sagt mir, dass das Symbol darauf nicht golden war.“
„War es.“, antwortete Simon entnervt.
„Mir scheint, ihr wisst etwas, das ich nicht weiß. Also… was ist es?“
„Ich muss sicher gehen…..“
Mit diesen Worten stand Volero auf und trat erneut zwischen die Bücherregale. Simon sah ihm lediglich schweigend nach, während der Bibliothekar begann, mehrere Einbände hervorzuziehen, einige Seiten durchblätterte und sie dann wieder zurück stellte. Volero mochte die meisten Schriften hier im Kopf haben, das hieß aber nicht, dass er auch wusste, wo sie sich befanden. Dutzende von Magier-Schülern brachten eine gewisse Unordnung mit sich und so sehr der alte Magier darüber auch fluchen mochte, am
Ende fand selten etwas wieder ein Buch auch dorthin, wo es hingehörte. Schließlich jedoch fand er, was er gesucht hatte. Ein Buch, das selbst hier unter all den vergilbten Wälzern noch alt wirkte. Der Einband war wohl einmal rot gefärbt gewesen, aber die Farbe war durch tausende von Händen langsam abgetragen worden, so dass das braune Leder des eigentlichen Umschlags darunter sichtbar wurde und selbst dort, wo sich noch Farbe gehalten hatte, war sie eher rosa statt dem ursprünglichen dunkelrot. Mehrere Seiten hingen nur noch lose an einigen Fäden oder waren ganz herausgefallen und unachtsam einfach zwischen die Buchdeckel gelegt worden.
Volero legte das schwere Buch auf dem Tisch ab, bevor er sich selber wieder Simon gegenüber niederließ und begann, die Seiten durchzublättern, bis ihm eines der losen Blätter in die Hand fiel. Einen Moment betrachtete er, was immer darauf war, bevor er es schließlich an Simon weiterreichte. Dessen Geduld war ohnehin langsam erschöpft und so riss er dem Bibliothekar die Seite schlicht aus der Hand. Es war kein Text, wie er erwartet hätte. Stattdessen handelte es sich um eine Zeichnung. Mit verblasster Tinte hatte irgendein lange vergessener Künstler das Abbild eines tropfenförmigen, schwarzen Steins
eingefangen. Lediglich an einer Stelle auf der dunklen Oberfläche des Steins schimmerte das darunterliegende Pergament durch und diese Aussparung hatte die exakte Form eines offen stehenden Auges. Simon erkannte den Gegenstand sofort wieder.
„Das ist das Juwel, das ich gesehen habe.“, erklärte er und sah auf.
Volero war plötzlich bleich geworden und der Ordensoberste war später davon überzeugt, dass er wohl gestürzt wäre, hätte er nicht bereits gesessen.
„Das ist vollkommen unmöglich.“, antwortete Volero überzeugt.
“Was immer auch geschehen ist, es kann unmöglich genau dieser Stein
gewesen sein, vielleicht eher eine Fälschung…..“
Simon schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was den anderen Magier so aufbrachte, aber eines war klar. Dieser Stein hatte irgendetwas mit dem zu tun, was mit ihm passiert war. Da war er sich absolut sicher. Nicht zum ersten Mal gingen ihm die Worte dieser Frau, Delia, der Seherin durch den Kopf. Ein verrücktes Rätsel über gebrochene Ketten, Stahl und Verlust. Und doch konnte er sich an jedes Wort erinnern…
„Simon habt Ihr auch nur eine Ahnung, was das ist?“ , wollte Volero derweil wissen.
„Würde ich das wissen, wäre ich nicht
zu Euch gekommen. Und langsam aber sicher, strapaziert ihr meine Geduld mehr, als gut für euch ist. Verstehen wir uns?“
„Es ist eine Träne, verdammt. Ich habe keine Ahnung, Ordensoberster, was Ihr vorhabt, aber nichts Gutes geht je daraus hervor, wenn eine Träne Falamirs im Spiel ist.“
„Die Tränen, Volero, sind seit Jahrhunderten verschollen. Seit dem Fall des Marionettenkaisers…“
„Zumindest ein Teil davon. Der andere befindet sich nach wie vor im Besitz der Ordeal-Kaiser. Und es kann von denen gewesen sein, die Ihr gesehen habt. Die schwarze Träne… der
Leerenstein, war unter denen, die im Bürgerkrieg verloren gingen.“
„Aber verloren heißt nicht zerstört.“, stellte Simon fest. „Falls es überhaupt möglich ist, eine Träne zu zerstören.“
„Angesichts ihrer langen Geschichte würde ich das bezweifeln. Oder zumindest, glaube ich nicht, dass es möglich ist, eine dauerhaft zu vernichten. Vermutlich würde sie sich einfach irgendwann wieder herstellen. Die Tränen sind nur eine… Inkarnation, die physischen Objekte sind nicht wirklich die Quelle ihrer Kraft, ich…. es gibt ganze Bände die sich nur damit beschäftigen, was sie eigentlich sind.“
„Die versteinerten Tränen eines
Zauberers des alten Volkes.“
„Das ist die Legende.“, meinte Volero wenig überzeugt. „Falamir war ein Schwertmagier des alten Volkes und wenn man glauben darf, was uns an Überlieferungen glauben darf, stand er in der Schuld eines Erzmagiers seiner Art. Um diese zu begleichen zog er in einem Kampf gegen eine Kreatur, die er nicht besiegen konnte, da unter ihrem Griff alles zu Stein wurde. Als ihm das klar wurde, ließ er zu, dass sie ihn angriff… und berührte sie im selben Augenblick. Sowohl der Krieger als auch die Bestie wurden daraufhin zu Felsen. Was dann passierte hängt davon ab welchen Barden ihr fragt. Angeblich
hatten selbst die Götter Mitleid mit dem gefangenen Falamir und so berührten sie seine letzten Tränen, die fielen, als ihm klar wurde, dass er seine Aufgabe nie erfüllen würde. Ich persönlich gebe nicht viel auf diese Geschichte, aber wie immer sie nun auch wirklich entstanden, die Tränen Falamirs gehören vielleicht zu den gefährlichsten Dingen auf dieser Welt. Und ich habe einige davon gesehen oder darüber gelesen. Aber nichts davon kommt der Macht einer Träne gleich. Wenn Ihr also wirklich glaubt, eine gesehen zu haben dann… vergesst es Simon. Das ist ein Rat. Nicht als Bibliothekar oder Ordensmagier, sondern als jemand, der sich ernsthaft um Euch
sorgt. Magie hat immer ihren Preis, seht mich an, wenn ihr daran zweifelt. Und den Preis den die Tränen zu weil von ihrem Träger verlangen… ist nichts wert.“
„Das zu entscheiden, überlasst Ihr besser mir…..“
Mit diesen Worten stand er auf und legte das Blatt mit der Zeichnung zurück. Zumindest wusste er jetzt um einiges mehr als zuvor. Aber wirklich weiter war er immer noch nicht.
„Simon, bitte…..“
Der Ordensoberste war bereits drauf und dran, die Bibliothek zu verlassen, als er doch noch einmal innehielt. Nicht wegen den Worten des alten
Bibliothekars, sondern wegen etwas anderem.
„Sagt mir nur noch… Ihr wisst nicht zufällig etwas über den Wert des Stahls oder wenigstens, was ein aus Schatten wiedergeborenes Juwel sein soll?“
Volero sah ihn an, als befürchtete er, er hätte den Verstand verloren.
„Was bitte soll das wieder sein?“
„Nichts“, antwortete Simon enttäuscht, während er endgültig wieder auf die Gänge der Burg hinaus trat und die Tür hinter sich zuzog. „Nur ein unbedeutendes Rätsel…..“
Er musste nachdenken, dachte er. Einen Ort zum Meditieren finden…. er hatte
viel erfahren und gleichzeitig nichts. Und selbst wenn er Ohren für die Warnungen des Bibliothekars gehabt hätte… welche Wahl blieb ihm denn? Noch wusste niemand von seiner momentanen Schwäche, aber das konnte nicht ewig so bleiben. Und bevor das geschah, musste er herausgefunden haben, was mit ihm geschehen war… und einen Weg finden es rückgängig zu machen. Vorzugsweise indem er einer gewissen Seherin die Haut abzog. Simon wollte sich nicht vorstellen, was sonst geschehen würde. Er hatte Jahre gebraucht, um zu der Position zu gelangen, die er jetzt innehatte. Und er hatte nicht vor, sie wieder abzugeben,
ganz im Gegenteil.
„Herr…“
Ein Schatten tauchte aus einem Seitengang auf und gesellte sich zu ihm. Simon brauchte nur einen kurzen Blick über die Schulter zu werfen, um das schütter werdende Haar und die wachen, grünen Augen von Erik Svensson zu erkennen. Der Großmagier hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt, während er Simon durch die Gänge und Hallen der Burg folgte.
So viel zu seinen Plänen, eine Weile in Ruhe nachzudenken. Der Ordensoberste seufzte, bevor er sich seinem Gefährten zuwendete.
„Was gibt es denn?“
„Ihr wolltet, das ich mir die Baupläne ansehe… ich habe die Gelegenheit auch genutzt, mich mit dem Vorarbeiter zu unterhalten.“
„Und ?“
„Jetzt, wo das letzte Hindernis aus dem Weg ist und wenn es keine weiteren Überraschungen gibt, werden die Arbeiten wohl um einiges schneller voran gehen. Das wichtigste sollte bis Herbst stehen. Eure Pläne schreiten schnell voran, aber verratet mir eines Simon…..“
Der Zauberer blieb stehen und drehte sich zu seinem Gegenüber um. Eigentlich war ihm nicht wirklich danach, Eriks Neugier noch weiter zu ertragen, aber
der Mann war so gewesen, seit er ihm das erste Mal begegnet war. Vor langer Zeit, in den Straßen von Vara. Vielleicht war es Schicksal gewesen, auch wenn Simon selbst nicht daran glauben wollte. Seitdem hatten sie beide viel erreicht, aber bisher war ihm nie die Idee gekommen, dass sie jemals gleichberechtigt sein würden. Erik ließ sich selten dazu verleiten, vertraulich mit ihm zu sprechen. Am Ende, war er nach wie vor der Meister des Ordens und Svensson bestenfalls eine nützliche linke Hand. Eine, die er eines Tages vielleicht abschlagen musste.
„Fragt.“ Es spielte letzten Endes keine große Rolle.
„Das alles hier… ich kenne Euch Simon. Ihr werdet Euch nicht damit zufrieden geben, Euer eigenes kleines Reich zu erschaffen. Was ist der nächste Schritt?“
Genau das wusste er im Augenblick nicht, dachte er bei sich. Alle seine Pläne waren heute über den Haufen geworfen worden. Doch er wusste nach wie vor, wo sein Ziel lag, dachte er.
„Der nächste Schritt… wird sein dem Kaiser einen Besuch abzustatten. Tiberius wird langsam alt…..“
Der ältere Magier wich einen Schritt zurück.
„Wenn das heißen soll…..“
„Es heißt, was es heißt“, antwortete
er kühl.
Er hätte nichts sagen sollen, dachte er bei sich. Er hatte grade mehr oder weniger erklärt, das er nicht bloß vorhatte, sich die Magier Untertan zu machen… über kurz oder lang, würde er den Himmel selbst erstürmen. Der Mann auf dem Bernsteinthron war der uneingeschränkte Herrscher über die bekannte Welt.
„Mit einem habt Ihr Recht, Erik. Ich habe nicht vor, hier aufzuhören. Noch lange nicht.“
Zumindest, sobald er sich um sein drängenderes Problem gekümmert hätte. Nach wie vor versuchte er, mehr aus
Gewohnheit als Absicht, nach dem ruhigen Zentrum in seinem Geist zu greifen, in dem normalerweise die lodernden Flammen der Magie brannten. Doch all, was er fand war Asche. Ihm war sogar kurz so, als könnte er den Staub schmecken. Der Geschmack von Tod und Verlorenheit…
Es fühlte sich… leer an. Er war Simon Belfare der Oberste des Sangius-Ordens, der mächtigste Zauberer, der seit Jahrhunderten auf dieser Welt wandelte… und was war er ohne Magie? Er wagte es nicht, sich die Antwort selbst zu
geben.