Kapitel 3 Die Burg
Als sie den Burghof erreichten, waren die Arbeiten dort bereits wieder in vollem Gange, wenn sie überhaupt je eingestellt worden waren. Wahrscheinlicher jedoch hatten die Männer auch während der Schlacht einfach weitergemacht. Gut genug bezahlt wurden sie in jedem Fall. Der Orden hatte über die Jahre einige beträchtliche Reichtümer angehäuft, darunter nicht nur Gold, sondern auch seltene Schriften, Bücher und Artefakte, die man aus den halb verfallenen
Tempeln und Ruinenstädten des alten Volkes geborgen hatte. Jene waren schon lange vom Angesicht dieser Welt verschwunden, aber ihr Erbe bestand weiter. Kristalle, die Magie in ihrer Reinstform darstellten und alles übertrafen, was die heutigen Magier erschaffen konnte, magische Waffen, Schrifttafeln mit geschichtlichen Anweisungen oder Zauberformeln….
All das war wertvoller als Edelmetalle und Steine und einige wenige Stücke konnten den kompletten Bau finanzieren. Doch war bloße Münze nicht die einzige Motivation dieser Leute, wie Simon wusste. Man musste nicht einmal besonders aufmerksam sein,
um es zu merken. Wie die Gespräche verstummten, sobald er und Erik durch die Tore traten, wie die Arbeiter auf den Gerüsten, welche die Mauern umgaben, sich plötzlich ganz und gar auf den Wallabschnitt vor sich zu konzentrieren schienen, um bloß nicht in Versuchung zu geraten, in seine Richtung zu blicken. Sie fürchteten sich… Magie war für die meisten etwas befremdliches, etwas, mit dem sich Adelige und Zauberer beschäftigten, das man aber außerhalb der größten Städte oder der gänzlich durch Zauberei am Himmel gehaltenen Hauptstadt nur selten zu sehen bekam. Und hier fanden sich diese Leute nun unter einer ganzen Gemeinschaft von
Hexern wieder. Genug Motivation, das die meisten ihre Arbeit so schnell wie möglich beenden wollten, auch wenn sie noch weitere Wochen, wenn nicht Monate in Anspruch nehmen würde. In großen Bottichen wurde Mörtel angerührt und auf die Gerüste geschafft, damit die Maurer dort die alten Festungswälle ausbessern konnten, bevor man schließlich die Neuen hochziehen würde. Einige hölzerne Wirtschaftsgebäude erhoben sich im Schatten der Mauern. Stallungen, eine momentan leer stehende Schmiede… das einzige Steingebäude befand sich fast am anderen Ende des Hofs, eine Ansammlung von Türmen und zugigen
Hallen, die beinahe wie aus dem Berg gewachsen wirkten. Auch das würde sich ändern, dachte Simon. Die Pläne lagen schon lange bereit. Aber eines nach dem anderen…
Im Augenblick machte ihm immer noch zu schaffen, das er nach wie vor nicht auf seine Magie zugreifen konnte. So sehr er es versuchte, jeden Trick anwandte, den er in Jahren und Jahrzehnten der Ausbildung gelernt hatte… da war einfach nichts mehr. Als wäre er völlig ohne Gabe geboren worden, als wäre er ein nichtsbedeutender… Mensch.
Er wurde aus seinen Gedanken
gerissen, als er beinahe in einen unachtsamen Arbeiter hineinlief, der zwei schwere Eimer mit Mörtel in jeder Hand trug. Der Mann versuchte ihm noch auszuweichen, verlor dabei allerdings beinahe das Gleichgewicht. Einer der Behälter schlug auf dem Boden auf und der zähe Mörtel verteilte sich über den Hof. Simon sprang grade noch rechtzeitig zurück, um zu verhindern, dass zu dem Blut, der Asche und dem Staub auf seiner Kleidung nun auch noch Putzmasse hinzukam.
„Verzeiht, Herr… verzeiht…“, sobald der Arbeiter merkte, wer ihm gegenüberstand ließ er/ sich rasch auf ein Knie nieder und verschränkte die
Arme vor der Brust.
Er sollte den Armleuchter hier einfach vor aller Augen verbrennen, dachte Simon bei sich. Das würde die übrigen Männer bestenfalls dazu bringen, ihre Arbeit noch schneller zu beenden… er konnte Erik ansehen, dass er praktisch bereits damit rechnete.
Allerdings… seine Fähigkeiten waren seit eben nicht wieder zu Tage getreten, im Gegenteil. Was Magie anging war er… eingeschränkt. Noch wusste das allerdings außer ihm keiner. Und vermutlich, dachte Simon, war es besser, wenn das auch so blieb. Er sah zu Erik. Der ältere Zauberer hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wartete ab,
was geschehen würde.
Schließlich versetzte Simon dem Arbeiter lediglich einen Stoß, der ihn rückwärts stolpern ließ und dafür sorgte, dass er auch die übrigen Eimer verlor. Scheppernd landeten diese ebenfalls auf dem Boden.
„Passt in Zukunft auf, wo ihr hinlauft, oder ich verfüttere euch an die Wyvern. Verstehen wir uns?“
Der Mann nickte und hatte es plötzlich offenbar eilig, seine Sachen zusammenzusuchen und zu verschwinden. Simons Drohung war durchaus keine Leere. Am Anfang hatten sie mehr als einen Maurer oder Zimmermann an die kleinen Drachen der Berge verloren.
Wyvern waren geflügelte Echsen von der Größe eines ausgewachsenen Pferds, die kein Problem damit hatten, einen Menschen in Fetzen zu reißen, wenn sie hungrig waren. Zum Glück begnügten sie sich jedoch meist mit Aas. Es sei denn, sie witterten leichte Beute. Es hatte einige gezielte Jagdaktionen gebraucht, bis die Biester gelernt hatten, dass sie die hier nicht fanden.
„Ihr hättet ein Exempel statuieren sollen“, bemerkte Erik, während sie ihren Weg über den Hof fortsetzten. „Die werden am Ende noch aufmüpfig.“
„Ich will aber auch nicht, dass uns die Leute davon rennen“, gab Simon zurück
Den wahren Grund, aus dem er den Mann verschont hatte, würde er auch weiterhin für sich behalten. Zumindest, bis er einige Nachforschungen angestellt hatte. Die Bibliotheken, die der Orden zusammengestellt hatte, waren bereits zur Burg verlegt worden und so stünde ihm eine der größten Sammlungen an Schriften außerhalb Varas zu jedem beliebigen Thema zur Verfügung. An der Universität in Vara gab es ganze Hallen, die wohl leicht die Fläche der Burg einnahmen, die nur dem Zweck dienten, dort Bücher unterzubringen, aber die Stadt lag eine Monatsreise entfernt in den Herzlanden. Und dort würde man Fragen stellen. Hier hingegen reichte es,
wenn er erklärte, was er suchte. Das warum interessierte niemanden, dem sein Leben lieb war.
Nach wie vor mit Erik im Schlepptau, trat er durch die offen stehenden Türen des Bergfrieds. Das Holz des Portals war genauso alt wie alles hier und hatte mit der Zeit einen Farbton angenommen, der mehr den dunklen Granitfelsen entsprach und selbst die Oberfläche des Holzes fühlte sich beinahe… steinern an.
„Trotzdem, Ihr scheint nicht ganz bei Euch zu sein, Simon. Wie mir scheint… seit wir das Schlachtfeld verlassen haben. Sagt bloß nicht, der Tod einiger Bauern macht Euch zu schaffen?“
Simon lachte, während er gleichzeitig
den scharfen Verstand des Mannes verfluchte. Er war nützlich, so viel war klar. Aber auch zu weilen lästig…..
„Nein. Ich mache mir nur… Gedanken, alter Freund.“
Der Zauberer zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts weiter, während sie eine von Fackeln erhellte Eingangshalle betraten. Zwar viel durch eine Reihe von Fenstern Licht herein, aber diese waren zerkratzt und angelaufen, sodass selbst am helllichten Tag nur Zwielicht innerhalb der Burgmauern herrschte.
„Ich will, dass Ihr die Baupläne überprüft“, erklärte Simon schließlich, während sie sich dem Bibliotheksflügel
näherten.
Die Wände hier waren mit Wandteppichen behangen, die wohl einstmals kunstvolle Szenen aus der Geschichte Cantons gezeigt hatten. Jetzt jedoch waren die Farben ausgegraut, der Stoff brüchig geworden. Und allgemein hatte die gesamte Anlage schlicht schon bessere Tage gesehen, dachte Simon, während Erik sich mit einem Nicken verabschiedete und den Gang hinab verschwand. Aber zwei wildfremde Prätorianer waren ihm eine Verbeugung wert gewesen….. Nun, Hauptsache, er war ihn erst einmal los, damit er sich in Ruhe Gedanken machen konnte, ohne ständig jemanden zu haben, der ihm über
die Schulter sah.
Die Bibliothek befand sich am Ende des Ganges, hinter einer schweren Tür, die halb von einigen weiteren Wandbehängen verborgen wurde. Im Winter war das vermutlich die einzige Möglichkeit, diesen Ort halbwegs warm zu halten, aber Simon hatte nicht vor, das herauszufinden. Bevor das nächste Mal Schnee fiel, würde die Festung bereits in neuem Glanz erstrahlen.
Der Raum, den er betrat, war vielleicht der hellste im ganzen Gebäude. Durch Dutzende aneinandergereihte Fenster fiel Sonnenlicht herein und beleuchtete die dicht an dicht gestellten Regale, auf
denen sich Dutzende schwere Folianten, Schriftrollen und auch Steintafeln oder Abriebe von Inschriften auf Kohlepapier übereinanderstapelten.
In den wenigen Nischen, die nicht von Büchern in Beschlag genommen wurden, standen mehrere kleine Tische. Einige junge Magier saßen daran und arbeiteten, scheinbar konzentriert über einzelne Bücher oder Schriftstücke gebeugt. Oder vielleicht taten sie auch nur so, um eine Weile ihren Lehrern zu entkommen. Die meisten Zauberer wurden nicht gezielt ausgebildet. Wenn überhaupt, erhielten sie das nötige Training zur Beherrschung ihrer Gabe von ihrer Familie oder gingen bei einem
der freien Zauberer in die Lehre, ohne sich an eine Organisation zu binden. Doch es wurden weniger, dachte Simon. Der Orden bot einige Vorteile, welche die freien Zauberer einfach nicht hatten. Es mangelte ihnen nie an Ressourcen und war die Ausbildung eines freien Zauberers mehr oder weniger den Launen seines Meisters unterworfen und damit alles andere als vollständig, war der Orden um einiges organisierter. Und mit jedem Magier, der sich ihnen anschloss, wuchs ihre Macht. Ein einziger Zauberer war auf dem Schlachtfeld bereits eine Macht, mit der man rechnen musste, aber zwei Dutzend oder mehr konnten den Ausgang eines
Krieges verändern.
Simon trat an den Schülern vorbei, ohne sie groß zu beachten. Die meisten wussten wohl, wer er war, aber an sich hatte er wenig mit ihrer Ausbildung zu tun. Er suchte nach jemand anderen. Dem Archivar. Dieser war auf den ersten Blick ein freundlicher älterer Herr, dem die türkisfarbene Ordens-Robe, die er trug beinahe zu groß war und ihm ein wenig das Aussehen einer Vogelscheuche verlieh. Die grauen, verfilzten Haare hatte er im Nacken zusammengebunden um sie zu bändigen. Hellgrüne, wache Augen blickten Simon entgegen, sobald er den Zauberer bemerkte.
Volero mochte alt wirken, zählte aber
kaum dreißig Sommer. Simon konnte sich noch daran erinnern, dem Mann einmal bei seinem Eintritt in den Orden begegnet zu sein. Damals hätte niemand geglaubt, dass aus dem energiegeladenen jungen Mann einmal ein bloßes Wrack werden könnte. Und doch war genau das geschehen.
„Kann ich etwas für Euch tun, Ordensoberster?“, fragte er mit leiser, zurückhaltender Stimme. Nichts an ihm schien noch den Krieger zu verraten, der er einst gewesen war. Die Magie hatte ihren Preis gefordert… und wenig übrig gelassen.
„Ich… suche nach Informationen. Zu einem ganz bestimmten Symbol.“ Wenn
es in den Bibliotheken einen Hinweis auf das gab, was mit ihm geschah oder die Frau, der er begegnet war, musste jemand danach suchen. Trotzdem… es war gefährlich auch nur Kleinigkeiten bekannt zu geben. Je weniger Leute von seinem momentanen Zustand wussten, dachte Simon, desto besser. Die Begegnung im Dorf hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Jedes Detail, jede Bewegung… und natürlich auch das Zeichen des offenen Auges, das er gesehen hatte. Einmal auf dem Umhang der Fremden… und dann auf diesem Stein.
„Von was für einem Symbol genau reden wir hier?“, fragte Volero mit kaum
verhohlener Neugier.
Simon wusste nicht, woran es lag, aber seit er nicht mehr im Kampf diente, hatte der jung gealterte Zauberer eine neue Leidenschaft entwickelt.
„Ich kann es Euch aufzeichnen, wenn ihr wollt.“
„Wenn ich euch sagen soll, ob es etwas dazu gibt… bitte…“
Volero griff zielsicher hinter sich in ein Regal und holte ein Stück Pergament sowie einen Federkiel und ein Tintenfass hervor. Mit einer Geste bedeutete er einer Gruppe Schüler, Platz zu machen, bevor er die Utensilien auf einem Tisch absetzte. Simon trat zu ihm und griff nach der Schreibfeder. Er versuchte, sich
das Zeichen, das er gesehen hatte noch einmal genau ins Gedächtnis zu rufen. Mit einigen wenigen Strichen entstand etwas, das dem Augensymbol aus dem Dorf so nahe kam, wie es seiner Meinung nachging. Und offenbar hatte er recht damit, den Volero runzelte die Stirn, während er das Pergament eingehend betrachtete. Eine Weile sagte er gar nichts, sondern schien lediglich sein Gedächtnis zu durchforsten.
Vermutlich hatte der Zauberer mittlerweile den Großteil der Schriften hier im Kopf, dachte Simon, so viel Zeit wie er hier verbrachte. Es war wohl schon mehr eine Obsession als gesunde Beschäftigung damit… doch was dahinter
stand, das hatte Simon nie ergründen können. Suchte Volero in den Büchern eine Antwort auf seinen Zustand? Oder ging es um etwas ganz anderes?
Es war nicht wichtig, solange er seine Antwort bekam.
„Das“, erklärte Volero, „ist ein Symbol der Seher. Ich dachte nicht, dass sie noch existieren. Wenn, dann haben sie sich in den letzten Jahren sehr bedeckt gehalten.“
„Seher… Ihr redet von Gauklern und Trickbetrügern?“
Echte Magie war selten, doch auf Jahrmärkten und bei den wandernden Schaustellern des Landes, fand man billigen Ersatz. Eine Schande, wenn er
genauer darüber nachdachte. Wahrsager, Hellseher… jeder Novize könnte einem sagen, das Magie nicht allmächtig war. Und das Zauberer nun einmal nicht in die Zukunft sehen konnten.
Volero schüttelte den Kopf, während er gleichzeitig leise in sich hinein lachte.
„Wenn Ihr die meint, denen Ihr auf der Straße begegnen… das sind tatsächlich Betrüger. Aber nein. Nach allem, was die alten Quellen hergeben, sind die Seher… etwas völlig anderes.“