Apfelkuchen mit Schlagsahne
„Schon wieder diese laute Musik! Wie soll ein Mensch das nur ertragen?“, beschwerte sich Herr Maier bei seiner Gattin, welche gerade im Begriff war, den Kaffeetisch zu decken. Schon am Morgen hatte sie einen saftigen Apfelkuchen gebacken, welcher nun aufgetafelt wurde.
„Da fehlt doch noch was!“, merkte der Hausherr mit mürrischer Miene an.
Frau Maier griff sich an die Stirn. Natürlich! Es war die Schlagsahne, welche fehlte. Apfelkuchen ohne Schlagsahne, das ging ja gar nicht.
Da es Sonntag war und nicht ein einziger
Laden extra wegen Herrn Maier geöffnet hatte, musste jener wohl an diesem Nachmittag ohne Schlagsahne auskommen.
„Ein Sonntag ist kein Sonntag, ohne Schlagsahne“, merkte Herr Maier mit schmollender Miene an.
„Dann kaufe ich eben morgen diese gottverdammte Schlagsahne“, schimpfte seine Gattin.
Die Kaffeetafel wurde eröffnet. Stillschweigen machte sich breit. Herr Maier aß den Apfelkuchen mit Widerwillen und seine Gattin war nur mit ihrer Kaffeetasse beschäftigt.
Da war er wieder, dieser laute Krach, welcher vom Nachbarhaus an das Ohr
von Herrn Maier drang.
„Diese Jugend heutzutage, rücksichtslos und charakterlich verdorben. Das gab es in meiner Zeit nicht“, merkte er an. „Vielleicht sollte ich diesem Bengel einmal ordentlich die Leviten lesen. Der kann doch hier nicht machen, was er will!“, ereiferte sich Herr Maier, erhob sich aus seinem Sessel und ging zum Fenster hin. Er reckte seinen Kopf hinaus. „Gleich morgen gehe ich zum Bürgermeister. Der wird schon für Ruhe sorgen!“, rief er frei heraus.
Nichts änderte sich, denn die Musik war einfach zu laut, um Herrn Maiers Stimme wahrzunehmen.
„Willst du noch etwas essen, oder soll
ich den Tisch abräumen?“, meinte seine Gattin beiläufig, denn Herr Maier hatte sein Stück Apfelkuchen nur zur Hälfte gegessen.
„Ohne Sahne schmeckt der Kuchen nicht!“, merkte der Hausherr an, ohne seinen Blick, welcher immer noch auf das Nachbarhaus gerichtet war, abzuwenden. „Vielleicht sollte ich hinübergehen, um diesen Dahergelaufenen meine Meinung zu sagen. Wie lange wohnen die jetzt schon hier?“
Frau Maier schien sich unsicher zu sein. „Zwei Monate vielleicht?“, sprach sie ihre Überlegung aus.
„Dich kann man auch nichts fragen“,
folgte prompt die Antwort. „Du wirst langsam vergesslich, meine liebe Frau. Erst die Schlagsahne und dann weißt du nicht einmal, wie lange deine Nachbarn hier schon wohnen. Herrgott, wie soll das bloß weitergehen.“
Wortlos nahm Frau Maier das Tablett mit dem Kaffeegeschirr und trug es in die Küche.
„Na warte nur, du Bengel. Mal sehen, wer am Ende das Nachsehen hat“, rief der Hausherr hinaus, die Straße entlang, dann warf er das Fenster zu, sodass die Scheibe vibrierte.
Eine halbe Stunde später trat endlich die ersehnte Ruhe ein. Herr Maier nahm sich die Zeitung und begab sich zurück in
seinen Sessel. Konzentrieren, konnte er sich nicht, denn diese heimtückische Stille erschien ihm merkwürdig. Frau Maier kam hinzu, nahm sich ihr Strickzeug und ließ sich auf dem Sofa nieder.
„Will der mich etwa provozieren? Der wartet doch nur darauf, dass ich dort auftauche. Da hat der sich aber getäuscht. Der Bürgermeister wird das schon richten“, wirkte Herr Maier von seiner Sache überzeugt.
Die ganze Nacht fand der Hausherr keinen Schlaf. Seine Worte wollte er sich ganz genau zurechtlegen, um diesen bösartigen Nachbarn das Handwerk zu legen. Vielleicht würden die sogar
wegziehen, wenn er die ganze Straße auf seine Seite ziehen würde. Immerhin lebte er hier schon sein halbes Leben lang. Nein, hier in seiner Straße herrschte Ordnung und das sollte auch so bleiben.
Gleich am Morgen, nach dem Frühstück, machte sich Herr Maier auf, dem Bürgermeister den geplanten Besuch abzustatten. Der war allerdings so früh noch nicht in seinem Amt, was den Bittsteller zutiefst verärgerte. Auf dem Nachhauseweg kam er am Supermarkt vorbei. Schlagartig fiel ihm der Apfelkuchen ohne Sahne wieder ein. Ja, heute würde es jene geben, ganz bestimmt.
Er nahm den Becher an sich, bezahlte
und lief die Straße entlang. Seine Gedanken überschlugen sich. Noch am Nachmittag wollte er es erneut beim Bürgermeister versuchen. Dieser musste ihm einfach Gehör schenken.
Das eindringliche Quietschen von Autorädern drang plötzlich an Herrn Maiers Ohr. Der Becher mit der Schlagsahne fiel unweigerlich zu Boden. Eine Hand packte ihn plötzlich von der Seite.
„Ist alles in Ordnung, Herr Maier?“, vernahm er eine freundliche Stimme. Sein Kopf schnellte zur Seite. Neben ihm stand der Bengel aus dem Nachbarhaus, welcher ihm noch rechtzeitig davor bewahrt hatte, unbedacht die Straße zu
überqueren. Herrn Maier stockte der Atem. Kein einziges Wort brachte er heraus, so groß war seine Verblüffung. Nie im Leben hätte er angenommen, dass dieses Kerlchen im Grunde genommen, ein anständiger Junge war.
Zusammen gingen sie nun über die Straße. Herr Maier öffnete das Gartentor zu seinem Haus.
Noch immer hatte er seine Sprache nicht wiedergefunden. Verblüffung stellte sich ein, als der Junge ihm einen Becher Schlagsahne zureichte. „Ich kann heute Nachmittag neue kaufen gehen.“
Herrn Maiers Kehle war wie zugeschnürt, als er das Haus betrat.
„Hast du denn beim Bürgermeister Erfolg
gehabt?“, fragte seine Frau.
„Ich habe es mir anders überlegt. Vielleicht sollten wir unsere Nachbarn einmal einladen, um sie besser kennenzulernen“, sprach der Hausherr kleinlaut und überreichte seiner Frau, mit einem süßsauren Lächeln, den Becher mit der Schlagsahne.
Und was ist die Moral von der Geschicht? Verurteil deinen Nachbarn nicht