Gedanken zur Geisterstunde
Zwölf Uhr nachts schreckte ich auf. Ich war allein, denn Stefan hatte mich noch am Abend verlassen. Er meinte, dass es eine dumme Idee gewesen wäre, hier, in dieser Einöde abzusteigen, nur um ein paar Ideen für ein Buch zu sammeln, was am Ende doch nur in der Menge untergeht.
Tatsächlich hatte ich mir eingebildet, in diesem alten Gemäuer, mit dem weitläufigen Gelände drumherum, jene Eingebungen zu finden, die mir einen neuen Weg weisen würde. Doch womöglich hatte Stefan recht, was sollte hier, weit ab jeglichen Geschehens,
schon passieren? Nicht einmal ein streunender Hund würde sich hierher verirren, da war ich mir sicher.
Stefan war mit dem Auto weggefahren. Vor morgen früh würde er nicht zurück sein, so hatte er gemeint. Ich ärgerte mich über mich selbst. Ein schönes, gemütliches Hotel mit einem wunderbar heißem Bad wäre wohl jetzt genau das Richtige gewesen.
Ich zog die Decke über meine Schultern, denn die Kälte machte mir zu schaffen. Das Feuer im Kamin war schon längst erloschen.
Mir kam ein Gedanke! Stefan, sicher würde er zurückkommen, wenn ich ihn darum bitten würde. Mein Handy,
verdammt wo hatte ich es zuletzt hingelegt? Es musste sich noch in meiner Tasche befinden. Gott sei Dank, da war es. Verflucht, kein Empfang!
Was war das? War da nicht ein Schatten am Fenster? Ich war mir sicher, dass da irgendjemand war. Aber niemand würde sich doch die Mühe machen, die Fassade hinaufzusteigen. Immerhin war das Zimmer, in welchem ich mich befand, im dritten Stockwerk. Schon wieder! Ganz deutlich hatte ich ihn wahrgenommen, diesen Schatten, welcher sich an der Fassade bewegte. Der Vollmond verriet seine Präsenz. Wer, um alles in der Welt, trieb hier nachts sein Unwesen. Mir wurde unwohl, bei dem Gedanken daran,
dass nur bestimmte Wesen vorwiegend nachts unterwegs waren. Vampire!
Nein, das war absurd. Und wenn es doch einer war? Wollte er etwa mein Blut? Vor Angst zog ich die dicht gewebten Vorhänge vors Fenster. Nein, mich würde er nicht bekommen.
Was sollte ich jetzt tun? Die Dunkelheit, welche mich umgab, machte mir zu schaffen. Vielleicht war dieser Blutsauger schon längst in mein Zimmer eingedrungen und befand sich in meiner unmittelbaren Nähe. Ich schärfte meine Sinne, um jedes noch so kleinste Geräusch in mir aufzunehmen. Das alte Gemäuer knackte in allen Ecken. Ja, er war da, ganz bestimmt.
„Ich will nicht sterben!“, rief ich in den Raum hinein, ohne mich zu rühren. Nichts geschah.
Ich riss die Vorhänge auf. Ich brauchte das Licht des Mondes, unbedingt! Meine Augen durchsuchten nervös das Zimmer. Nur ich war sein einziger Bewohner. Mein schneller Atem beruhigte sich wieder. Wo war er hin, dieser Geist der Nacht? Vorsichtig blickte ich zum Fenster hinaus. Also alles doch nur Einbildung?
Ein leichter Wind war aufgekommen, der die Wipfel der Bäume hin und her wiegte. Wenn doch Stefan hier wäre, um mich in den Arm zu nehmen, dann wäre
meine zurückkehrende Angst nur halb so schlimm, denn ich sah deutlich, dass sich zwischen den Büschen etwas bewegte. War da nicht ein Knurren? Nein, das konnte nicht sein. Der Wind war mittlerweile so stark, dass er kein Geräusch durchsickern ließ.
Ich zuckte zusammen. Eindeutig hatte ich zwei leuchtende Punkte wahrgenommen, welche einem Augenpaar sehr nahe kamen. Vielleicht ein Tier, was sich verlaufen hatte? Aber welches Tier besaß schon solche stechend gelben Augen? Mir blieb die Luft weg. Ein Werwolf! Ich zitterte am ganzen Leibe.
Starker Regen prasselte plötzlich an das Fenster. Ich fühlte mich einem
Nervenzusammenbruch nahe. Der Wind jaulte wie ein junger Wolf, welcher nach seiner Mutter rief. Ich blickte auf die Uhr. Wie konnte das sein? Die beiden Zeiger standen immer noch auf der zwölf.
Ich verkroch mich im Bett. Dieser Spuk musste doch irgendwann ein Ende haben.
Da waren doch Schritte, eindeutig. Sie kamen nicht aus meinem Zimmer, sondern aus der Etage über mir. Nein, nein, dieses Mal nahm ich all meinen Mut zusammen. Auf alles würde ich vorbereitet sein. Ich öffnete die Schubladen meines Nachtschränkchens. Tatsächlich fand ich das, nach was ich
gesucht hatte. Ich nahm eine von den Kerzen heraus, um mir einen Überblick zu verschaffen.
Die Holztreppe knarrte, als ich mich endlich dazu entschlossen hatte, hinaufzugehen. Mir fielen plötzlich die Worte des Verwalters wieder ein. Die letzte Besitzerin sei eine alte Frau gewesen, welche in ihrem Schaukelstuhl verstorben sei. Hatte er nicht gesagt, dass sie nicht gut zu Fuß gewesen wäre? Wie kam ich jetzt plötzlich auf diese Geschichte? Wie sollte diese Frau, ohne fremde Hilfe, hinauf in den vierten Stock gelangt sein? Ich musste über mich selbst schmunzeln.
Als ich die letzte Stufe erklommen hatte,
traf mein Augenmerk auf eine geöffnete Tür. Genau darunter befand sich doch mein Schlafzimmer. Ich stutzte. War es nur Zufall, dass gerade diese Tür offen stand? Womöglich!
Vorsichtig, so geräuschlos wie möglich, bewegte ich mich fort. Wenn hier tatsächlich jemand war, dann würde ich ihn in flagranti erwischen.
Mein Herz schlug mir bis zum Halse, als ich schließlich eintrat. Wusste ich es doch, kein Lebenszeichen. Doch halt, was war das! Meine Gesichtsmuskeln waren wie gelähmt. Was ich erblickte, war nicht etwa eine menschliche Gestalt, sondern ein in die Jahre gekommener Schaukelstuhl, welcher vor und zurück
wippte. Ein Schrei löste sich aus meinem Innersten. Die Kerze fiel zu Boden und erlosch. Jetzt gab es nur noch eins für mich, in meinem Bette wollte ich mich verkriechen und nie mehr hervorkommen.
Es war hell, als ich erwachte. Eine Gestalt stand an meinem Bett. Stefan war zurückgekehrt.
„Na, wie war deine Nacht?“, fragte er.
Gähnend erhob ich mich. „Ziemlich langweilig“, antwortete ich.