Der nächste Morgen gestaltete sich als recht harmonisch. Vincent Lankford schien sich beruhigt zu haben, denn seine Gesichtszüge besaßen nicht mehr diesen derben, grimmigen Ausdruck. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, ganz zur Freude seiner aufgedrehten Gattin. Zum Glück trat Isabell an diesem Vormittag ihren wöchentlichen Besuch zu Mrs Fielding an, sonst hätte ihre Mutter sie wohl um den Verstand gebracht. Die Freiheit zu genießen, war an diesem Morgen enorm und ihr noch nie so bewusst
gewesen. Mr Mulligan trat zur Tür seines Gasthofes heraus. Er kam nicht drumherum sich über die Dinge zu äußern: „Sehen sie sich die Leute an. Seitdem das Gerücht umgeht, dass im alten Gemeindesaal eine Tanzveranstaltung stattfinden soll, scheinen plötzlich alle verrückt zu spielen.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Sie wissen gar nicht, was bei uns zu Hause los ist. Die drei Mädchen schwirren im Haus herum, wie aufgescheuchte Hühner. Zu Eliza habe ich gesagt, du bist zu jung, um tanzen zu gehen. Was soll ich ihnen sagen, sie fing
bitterlich an zu weinen und alle redeten so auf mich ein, dass ich nicht anders konnte, als mein Einverständnis zu geben. Meine Frau meinte, besser die Jüngste an den Mann bringen, als gar keine. Ist das nicht verrückt?“ Tatsächlich herrschte in Roschfield ein gewisser Mangel an unverheirateten jungen Männern vor, welcher es erschwerte, eine Verbindung fürs Leben zu knüpfen. In der Ferne erblickte Isabell ein ihr wohlbekanntes Gesicht. Es handelte sich um Bridget Thompson, welche wild gestikulierend in Richtung des Gemeindesaals zeigte. Mr Mulligan, der nun ebenfalls in diese Richtung blickte,
murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und ging wieder ins Haus zurück. Als Isabell endlich Mrs Thompson erreicht hatte, wirkte diese völlig aufgelöst. „Kommen sie, meine Liebe, gehen wir hinein. Zu meiner Freude war ich sehr überrascht, dass der Saal im Laufe der Zeit nicht sonderlich an Eleganz eingebüßt hat. Es hätte durchaus schlimmer aussehen können.“ Einige handwerklich geschickte Männer waren gerade dabei, den Fußboden auszubessern. Mrs Thompson, so gewann Isabell den Eindruck, führte hier das Regiment. Sie gab stets und ständig Anweisungen.
„Sehen sie sich nur um!“, betonte Rose Fielding, welche sich zu den zwei Damen gesellte. Augenblicklich hielt sie sich ihr Taschentuch vor den Mund, denn ein Hustenanfall überkam sie. „Geht es dir gut, meine liebe Rose? Du musst unbedingt noch einmal mit dem Doktor reden. Er muss dir eine andere Medizin verschreiben“, sprach Mrs Thompson mit Nachdruck. „Ach was! Es ist nur der herumfliegende Staub, der meine Lungen zusammenschnürt“, wiegelte die Angesprochene ab. Anstatt auf sie zu achten, sollten sich ihre Begleiterinnen lieber den Fortschritten der
Renovierungsarbeiten widmen, meinte sie. Isabell Lankfords Augen wanderten entlang der hohen Decke, weiter zu den kunstvoll gefertigten Wandmalereien, bis hin zu dem glänzenden Fußboden. Dort blieb ihr Blick wie gebannt an einer gewissen Person hängen. Zum Glück hatte Bradley sie noch nicht entdeckt. Sofort versteckte sich Miss Lankford hinter Bridget Thompson, um ihn, aus sicherer Entfernung, besser beobachten zu können. Die Männer lachten, währenddessen sie damit beschäftigt waren, die Dielen des Bodens abzuschleifen. Isabell senkte für
einen Moment ihre Lider und sah in ihren Gedanken Bradley, wie er sich nach ihr umdrehte, um ihr sein schönstes Lächeln zu schenken. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Plötzlich knallte etwas neben ihr zu Boden. Sie erschrak dabei so heftig, dass sie ungewollt an Mrs Thompson eckte, die einen gewaltigen Satz nach vorne machte.
„Ist ihnen vielleicht unwohl?“, fragte diese verwirrt. „Sicher liegt es an der schlechten Luft im Saal. Aber sie werden sehen, wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, dann kann man hier auch wieder atmen.“ Isabell nickte ohne Widerworte. Die weitere Begutachtung des Saals
führte unausweichlich auch an Bradley Winston vorbei. Im Augenwinkel bemerkte das Fräulein, dass sie von der Seite gemustert wurde. Sie traute sich nicht, seinen Blick zu erwidern und tat deshalb so, als hätte sie rein gar nichts bemerkt. Der aufmerksamen Mrs Thompson war dieser Zustand nicht entgangen. Sie kam nicht drumherum Isabell zur Seite zu nehmen, um ihre Feststellung kundzugeben: „Ich muss mir um ihr Glück keine Gedanken machen.“ „Wie meinen sie das?“, fragte Miss Lankford erstaunt. „Die verliebten Blicke, welche Mr. Winston ihnen zuwarf, waren doch
eindeutig genug.“ Isabells verblüfftes Gesicht verfehlte seine Wirkung nicht. „Hat er ihren Eltern vielleicht schon einen Besuch abgestattet, ohne sie selbst in Kenntnis gesetzt zu haben? Sie müssen wissen, dass es in meiner Jugendzeit kaum junge Damen gab, welche sich ihren Ehemann selbst aussuchen durften. Von mir kann ich allerdings behaupten, dass meine Ehe mit Mr Thompson nicht arrangiert wurde. Meine Eltern schätzen ihn sehr und so gaben sie ihr Einverständnis.“ Isabell stutzte. „Hat sich meine Mutter ihren Ehemann auch selbst ausgesucht?“, fragte sie etwas irritiert.
„Ihre Mutter, mein liebes Kind, war damals das schönste Mädchen in Roschfield. Jeden hätte sie haben können, wirklich jeden. Aber sie liebte nur einen, dessen Namen ich ihnen nicht nennen will. Sie müssen mich verstehen. Am Ende fiel die Wahl auf Vincent Lankford und ich wage zu behaupten, dass jene Entscheidung einen gewissen Vorteil beinhaltete. Immerhin genoss er in Roschfield ein hohes Ansehen und nannte ein kleines Vermögen sein Eigen, was wohl für sich sprach.“ Bridget Thompson hatte unwillkürlich Isabells Interesse geweckt. „Die Ehe wurde nicht aus Liebe
geschlossen?“, fragte sie noch einmal nach, um die ganze Angelegenheit zu verstehen. „Was sie, mit ihren jungen Jahren, unter Liebe verstehen, ist ein Trugbild, was uns mit seinem schönen Schein blendet. Es ist eher ein gegenseitiges geben und nehmen, mehr nicht.“ Miss Lankford schossen hunderte Gedanken durch den Kopf. Niemals würde sie einen Mann heiraten, den sie nicht liebte. Ihre ganze Hoffnung lag auf dem kommenden Samstag, dann würde Bradley ihr endlich einen Antrag machen, da war sie sich ziemlich sicher, denn immerhin gab es keine bessere Gelegenheit dazu.
Am Nachmittag machten Jane Lankford und ihre Tochter sich auf, Cousine Amy und deren Vater aufzusuchen. Richard Lankford zog stets ein griesgrämiges Gesicht. Er lebte, seit dem Tod seiner Gattin, welche an Tuberkulose verstarb, eher zurückgezogen. Amys Bruder Thomas arbeitete beim ansässigen Pfarrer Mr Sheffield. Die Predigten von Tugend und Enthaltsamkeit nahm er gern mit nach Hause. Oft vergeblich versuchte er diese seiner Schwester einzubläuen, welche aber nichts davon hören wollte. Amy litt sehr unter der Stränge ihres Elternhauses. So war es auch nicht verwunderlich, dass ihr Vater nicht
gewillt war, sein Einverständnis für den geplanten Tanzabend zu erteilen. Nicht einen einzigen Fuß sollte Amy in diesen sündigen Saal setzen. Es bedurfte großer Überzeugungskraft, seitens Jane Lankfords, nach einer Lösung zu suchen, die beiden Parteien gerecht wurde. „Er hat seine Einwilligung gegeben“, waren ihre Worte, als sie schließlich die Mädchen aufsuchte. „Aber nur unter einer Bedingung“, betonte sie äußerst ernst. „Ich soll ein Auge auf seine geliebte Tochter werfen, um sie vor allen heiratswütigen Männern zu beschützen.“ Nach dem Tee traten Isabell und ihre Mutter Jane gutgelaunt den Heimweg an. Plötzlich durchbohrten die Worte Mrs
Thompsons die Gedankengänge Isabells. Wieso besaß ihre Mutter so viel Einfluss auf den Onkel? War er etwa der mysteriöse Unbekannte aus ihrer Vergangenheit? Früher soll Richard ein rechter Taugenichts gewesen sein, so hatte es Mrs Thompson des öfteren betont. Musste ihre Mutter vielleicht deshalb mit dessen Bruder vorlieb nehmen? Selbst beim Abendessen war es nicht möglich sich irgendetwas anderes ins Gedächtnis zu rufen. Wie schwarzes Pech klebte diese Tatsache, dass ihre Eltern nicht aus Liebe geheiratet hatten, an ihrer Person. Misstrauisch beobachtete sie jede einzelne Geste ihrer
schweigsamen Eltern. Wahrscheinlich war es nur ihre eigene Phantasie, die wie sooft mit ihr durchging, um sie in den Glauben zu führen, dass Richard tatsächlich der Besagte sein könnte, der seinerzeit um ihre Mutter geworben hatte. Der Samstag kam schneller, als es so manchem lieb war. Nur schwerlich konnte Jane Lankford ihre Aufregung verbergen. Mit zwei Kleidern auf dem Arm suchte sie bei ihrer Tochter Rat. „Welches meinst du, soll ich heute Abend tragen? Das dunkelblaue vielleicht? Was ich aber zu gewagt finde oder das beige, was eher schlicht wirkt.“ Noch ehe Isabell irgendetwas sagen
konnte, verschwand ihre Mutter wieder aus dem Zimmer. „Da siehst du es, Alison, was so ein Fest auslösen kann. Für heute Abend befürchte ich das Schlimmste“, meinte sie und warf ihrer Stiefschwester einen ironischen Blick entgegen. Miss Stewart überkam die Versuchung selbst an dem bevorstehenden Ereignis teilzunehmen, jedoch nicht so wie sie war. Unsichtbar vielleicht oder im Körper einer anderen Person, wäre das sicherlich möglich gewesen. Aber da diese Wunschvorstellungen jenseits der Realität lagen, verwarf sie den Gedanken wieder. Am Mittag traf Amy in Begleitung ihres
Vaters ein. Ihr Bruder Thomas Lankford konnte das bevorstehende Spektakel, sowie er es nannte, nicht billigen. Er vertrat die Ansicht das Roschfield unweigerlich dem Verfall geweiht sei, sobald man nur einen Fuß in diesen Saal setze. Man kannte Thomas auch von einer ganz anderen Seite. Im Kindesalter neigte er stets zu allerlei Dummheiten. Wenn Isabell so darüber nachdachte, war Thomas wohl der größte Lausbub, den es je in Roschfield gab. Mit den Jahren hatte sich alles verändert. Aber nur die Menschen waren es, Roschfield blieb immer gleich. „Ich bin so aufgeregt“, meinte Amy
völlig aufgelöst. „Heute Abend möchte ich besonders hübsch aussehen, denn vielleicht finde ich ja einen geeigneten Ehemann für mich“, scherzte sie. Ihre Cousine verzog das Gesicht. „Vergiss nicht, dass meine Mutter auf dich aufpasst. So eine Gelegenheit wird sich dir wohl nicht bieten.“ „Was meinst du, ob Bradley Winston auch erscheinen wird?“ Wie kam Amy jetzt ausgerechnet auf Bradley, dachte Isabell. Hoffentlich hatte sie sich nicht ihn, als zukünftigen Ehemann auserkoren. Dieser Gedanke schien Miss Lankford absurd, schließlich verbrachte ihre Cousine fast den ganzen Tag zu Hause und dort konnte sie
Bradley wohl schlecht begegnet sein. Zugegeben, als Kinder spielten sie fast täglich zusammen, doch das gehörte der Vergangenheit an. Die Zukunft konnte nur Isabell selbst und Bradley gehören, da war sie sich ganz sicher. Am Abend war es dann soweit. Die beiden Mädchen gingen Arm in Arm die Treppe hinunter, wo sie schon sehnlichst erwartet wurden. Jane Lankford stockte der Atem, bei jenem Anblick. „Du kannst von Glück reden, Amy, dass dich dein Vater nicht so sieht, denn dann hätte er dich sicher gleich wieder mit nach Hause genommen“, kam es ihr über die Lippen. Draußen vor der Tür wartete bereits
Vincent Lankford, der einen gewissen Stolz empfand, als er seine wunderschöne Tochter erblickte. Dieser Zustand wurde jedoch von einem schleichenden Gefühl der Angst überschattet, denn Isabell sah an diesem Abend so verdammt erwachsen aus und das behagte ihm überhaupt nicht. Gemeinsam brachen sie auf. Obwohl sich alle nicht sonderlich beeilten und einen gemütlichen Gang eingelegt hatten, konnte Jane Lankford mit ihren Begleitern kaum Schritt halten. Das dunkelblaue Kleid, was sie trug, besaß so seine Tücken. Es erschien ihr heute ungewöhnlich eng. Im Laufe der Zeit musste sie wohl ein wenig an Fülle
zugelegt haben. Viele Jahre hing das edle Stück, so gut wie ungenutzt im Schrank. Es wartete stets geduldig auf eine passende Gelegenheit, welche nun gekommen war. Emma musste ihr Mieder so straff ziehen, bis sie fast keine Luft mehr bekam und das machte sich nun bemerkbar. Vor dem Gemeindesaal hatten sich bereits die ersten Gäste versammelt. Diejenigen, welche die Neugier am größten plagte, hatten sich ganz vorn eingefunden, um als erste das Gebäude zu erobern. Natürlich äußerst diskret, versteht sich. Auch Mr und Mrs Lankford schritten nun erhobenen Hauptes in den Saal, dicht
gefolgt von Isabell und ihrer Cousine Amy. So gewaltig hatten sich die beiden Mädchen jenes Spektakel nicht vorgestellt. Es war beachtlich wie fein die Leute sich herausgeputzt hatten. „Das darf doch nicht war sein!“, rief Amy völlig aufgebracht. „Seht euch die Mulligantöchter an, was sie für edle Stoffe tragen. Die Kleider müssen ein Vermögen gekostet haben.“ „Aber Amy, du bist doch nicht etwa neidisch auf sie?“, fragte ihre Cousine erheitert. „Was heißt hier neidisch. Siehst du nicht, wie die Herren sie förmlich mit ihren Augen
verschlingen!“ „Nicht alle, meine liebe Amy, tun jenes. Hinter dir stehen zwei Gentleman, welche uns schon die ganze Zeit über beobachten.“ Jene Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen, da schnellte Amys Kopf herum. Tatsächlich befanden sich zwei Herren dicht hinter ihnen, aber ihre Aufmerksamkeit galt nicht etwa ihr oder ihrer Cousine. Wie befürchtet, hatten sie die Mulligantöchter bereits in ihren Bann gezogen. „Das kann nur euch passieren!“, echauffierte sich Jane Lankford. „Wenn ihr nicht aufpasst, werdet ihr heute Abend das Nachsehen
haben.“ Vincent Lankford, der sich mittlerweile etwas entfernt in einer Herrenrunde befand, versuchte vergebens seine Tochter in der Menschenmenge auszumachen. Seine Gattin hatte sich bereits geschickt aus seinem Sichtfeld entfernt. „Ich hoffe, es bietet sich noch eine Möglichkeit, dass ein Gentleman euch zum Tanz auffordert. Aber denkt daran, dass ich heute für euch die Verantwortung trage, also macht mir keine Schande“, appellierte Mrs Lankford an das Gewissen ihrer Schützlinge. Sogleich erhielt sie das Ehrenwort, denn
nichts lag Isabell und ihrer Cosine ferner, als den Abend damit zu verbringen, auf der Stelle zu versauern. „Seht hinüber, zum linken Fenster. Doch nicht so auffällig!“, mahnte Jane. Ihre Worte zeigten Wirkung. Die beiden Mädchen versuchten, möglichst unauffällig, auf die gegenüberliegende Seite zu blicken, wo sich einige gutgekleidete, junge Gentlemen befanden, welche sich angeregt unterhielten. „Was meinst du, wo sie her sind?“, fragte Amy neugierig. „Ich denke, sie kommen aus Livingston. Aus Roschfield sind sie jedenfalls nicht, soviel steht fest!“, entgegnete Isabell
und stupste ihre Cousine von der Seite an, welche mittlerweile in ein gewisses Starren verfallen war. Amy lachte. „Ich könnte mir schon vorstellen, einen davon zu heiraten. Sieh nur, was sie für Kleidung tragen. Sicher besitzen diese Herren auch eine Menge Geld“, meinte sie kokett. Erschrocken über Amys Worte sah Isabell zu ihrer Mutter hinüber, die Gott sei Dank nichts von jenen ausgesprochenen Gedanken mitbekommen hatte. Ihr Augenmerk galt eher er Garderobe der anwesenden Gesellschaft. „Das kannst du nicht ernst meinen, du kennst doch diese Männer gar nicht. So
vornehm wie die aussehen, nehmen sie bestimmt keine aus Roschfield“, setzte Isabell die Konversation mit ihrer Cousine fort. „Das werden wir ja noch sehen“, gab Amy zur Antwort. Ganz in der Nähe entdeckte Isabell Bridget Thompson. Es war allerdings nicht leicht sich durch die Menschenmenge zu arbeiten. Aber die Mühe hatte sich gelohnt, denn das beschwingte Fest war ganz allein jener Dame zuzuschreiben, die sich nun vor Isabell befand. Mrs Thompson glänzte mit ihrer guten Laune, wie schon lange nicht mehr. Voll des Lobes, meistens über sich
selbst, ließ es sich Bridget nicht nehmen, dass Fest als äußerst gelungen zu bezeichnen, was auf eine Bestätigung jener Leute, die sich mittlerweile um sie versammelt hatten, hinauslief. Isabell Lankford gab ihren Platz neben Mrs Thompson auf, denn etwas anderes beflügelte ihre Sinne. Mit verstohlenem Blick suchte sie in der Menge nach Bradley. Einen Tanz, einen einzigen Tanz, wünschte sie sich. Wo steckte er nur? Und wo waren ihre Mutter und Amy abgeblieben? So sehr sie sich auch anstrengte, schienen sie doch wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Was blieb ihr weiter, als sich durch die Menschenmenge zu drängen, um sie
ausfindig zu machen. Als sie auf ihre Mutter traf, zeigte jene nur wenig Verständnis darüber, dass sich ihre Tochter so heimlich davongeschlichen hatte. „Da bist du ja endlich. Wo warst du bloß die ganze Zeit? An mir sind mindestens schon zehn junge Herren auf der Suche nach einer Tanzpartnerin vorbeigegangen. Ich kann dich einfach nicht verstehen. Sieh dir deine Cousine an!“ Isabell glaubte nicht, was sich da vor ihr abspielte. Amy tanzte, aber mit wem? Auf den ersten Blick konnte sie deren Partner in der Menge nicht ausmachen. Doch dann traf es sie wie ein Blitz. Es handelte sich um keinen Geringeren, als
Bradley. „Schau nur, was für ein schönes Paar“, rutschte es ungewollt über die Lippen Jane Lankfords. Erschrocken sah sie ihrer Tochter entgegen. Jene konterte sogleich: „Was sagst du da? Du glaubst doch nicht, dass jemals aus Amy und Bradley ein Paar werden könnte?“ Kein einziger Ton kam mehr über die Lippen ihrer Mutter. Ein mulmiges Gefühl verankerte sich in Isabells Innersten. War Amy wirklich im Stande, ihr in den Rücken zu fallen? Zwar hatte sie selbst nie irgendjemanden davon erzählt, dass sie mehr für Bradley empfand, als nur Freundschaft. Das zuzugeben würde sie sich niemals wagen.
Und nun schien es plötzlich so, als hätten sich die beiden Tanzenden fürs Leben gefunden. „Wenn du schlau bist“, unterbrach Jane die Gedanken ihrer Tochter, „dann wartest du hier, bis Bradley und Amy zurückkehren, dann ständen die Chancen gut für dich, seine nächste Tanzpartnerin zu werden.“ Es geschah tatsächlich so, wie ihre Mutter es vorausgesagt hatte, Bradley brachte Amy zurück. Beide wirkten heiter und scherzten miteinander, aber nur solange, bis sie vor Isabell standen, denn ihr grimmiger Blick verwandelte die gute Laune in eine gewisse Ernsthaftigkeit.
„Ich fragte mich schon die ganze Zeit, wo du steckst“, versuchte Amy die entstandene Spannung abzuwiegeln. So, als seien beide Cousinen unzertrennlich, stellte sie sich neben die Angesprochene und umschlang ihren Arm. Jetzt stand plötzlich Bradley im Mittelpunkt des Geschehens. Dieser versuchte sich augenblicklich, aus seiner misslichen Lage zu befreien und reichte Isabell, wie selbstverständlich seinen Arm, als Aufforderung zum Tanz versteht sich. Was blieb ihm auch anderes übrig, denn eins stand fest, wenn er mit Amy getanzt hatte, so musste er auch mit ihrer Cousine tanzen. Isabell
fühlte sich so unsagbar glücklich und nahm natürlich dankend an. Was sie allerdings stutzig machte, war die Tatsache, dass Bradley sie mit einer gewissen Reserviertheit aufs Parkett führte, fand sie doch, dass er vorher mit Amy vertrauter umgegangen war. Aber die trüben Gedanken verloren sich schnell, denn Bradleys Gestalt ließ sie alles vergessen. Wie gut er doch heute Abend aussah. Leichtfüßig schwebte er mit seiner Tanzpartnerin über das Parkett. Am Liebsten hätte Isabell stundenlang so weiter machen können, so sehr war sie mit der momentanen Situation verschmolzen. Irgendwann hörte die Musik auf zu
spielen. Nur langsam drangen die Worte Bradleys an ihr Ohr: „Die Leute starren uns bereits an, wir sollten uns von der Tanzfläche entfernen.“ Enttäuscht erwachte Isabell aus ihrem süßen Traum und nahm widerstandslos Bradleys schützenden Arm entgegen. Beide gingen sie schließlich zu den Wartenden zurück. Natürlich erhoffte sich Miss Lankford einen weiteren Tanz. Jedoch machte ihr Amy einen Strich durch die Rechnung. Sie hatte sich bereits in den Vordergrund gedrängt. Eilig klammerte sie sich an Bradley fest. So blieb diesem nichts anderes übrig, als mit ihr den nächsten Tanz zu bestreiten. Isabell hingegen,
hatte das Nachsehen. Eine gewisse Wut stieg in ihr auf. Beleidigt lief sie hinaus. Die kühle Luft ließ ihren Leib erschaudern. Dieser gottverdammten fröhlichen Musik, welche an ihr Ohr drang, musste sie unbedingt entfliehen, deshalb entfernte sie sich ein Stück vom Gemeindesaal. Ihr Blick wanderte hinauf in den nächtlichen Himmel, von wo ab ihr die kleinen, funkelnden Beobachter entgegen strahlten. Plötzlich vernahm sie Schritte hinter sich, die sich ihr eher zögerlich näherten. Zum Weglaufen war es zu spät, denn sicher hatte der Herannahende sie schon längst entdeckt. Isabell Lankford rührte sich nicht von
der Stelle. Wenige Augenblicke später befand sich die Person dicht hinter ihr. Sie spürte sogar deren Atem. Jemand legte ihr behutsam ihre Stola über die Schultern. Sie fühlte ganz deutlich, dass es sich um die Hände eines Mannes handeln musste. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Oh Gott, flehte sie innerlich, lass es nicht Bradley sein. „Du wirst dich hier draußen noch erkälten“, hauchte ihr eine Stimme ins Ohr. Zu allem Übel bestätigte sich Isabells Vermutung. Es handelte sich wirklich um den Besagten. Wieso musste er ihr folgen? Wieso nur? Gerade ihn wollte sie jetzt am wenigsten sehen. Nun kam es
darauf an ihre wahren Gefühle vor ihm zu verbergen. Blitzschnell drehte sie sich um und tat überrascht: „Bradley, du bist es. Ich brauche nur für einen Moment etwas frische Luft“, versuchte Isabell so überzeugend wie möglich rüber zu kommen. Eilig wendete sie sich von ihm ab. Ihre Worte überschlugen sich: „Aber jetzt können wir ja wieder hineingehen.“ Bradley fing an zu lachen. War sie wirklich so schlecht in ihrer Schauspielkunst, dass er sie durchschaute? Sie schämte sich für ihre miserable Vorstellung und blickte resigniert auf den Boden.
„Ach Isabell, da musst du aber noch üben, um überzeugter zu wirken“, scherzte Bradley. Seine Worte verletzten Miss Lankford. Sie fühlte sich so unsagbar elend. „Lass uns ein Stück gehen“, schlug ihr Begleiter vor und wenig später liefen die Beiden in die Dunkelheit hinein, welche sich vor ihrem Angesicht, wie ein schwarzes Loch ergoss. Eine unerträgliche Stille umhüllte das vermeintliche Pärchen. Isabell hielt diesen Zustand nicht länger aus und flehte: „Bitte, lass uns umkehren!“ Doch Bradley stellte sich ihr entgegen. „Kann es sein, dass du mehr für mich
empfindest, als du preisgibst?“ Isabells Blick schweifte ins Leere. Sie wollte ihm nicht antworten, denn sie befürchtete das Schlimmste. „Sag es mir, jetzt sofort!“, rief Bradley so energisch, wie noch nie. Sie wusste, dass er sie nicht eher gehen lassen würde, bis er seine Antwort hatte. Nur ein einziges Wort kam über die Lippen Isabells und das war ein unsicheres: „Ja!“ Wahrscheinlich hatte Bradley sogar mit dieser Antwort gerechnet. Doch jetzt, wo sie es ausgesprochen hatte, musste er tief durchatmen. Verzweifelt lief er vor ihr auf und ab. Seine Stirn war schweißgebadet.
„Isabell, hör mir zu!“, sprach Bradley mit ernster Stimme. „Natürlich empfinde ich auch etwas für dich.“ Sein Gesichtsausdruck verkrampfte sich. Isabell wusste, dass er noch nicht alles gesagt hatte. „Wir kennen uns schon so lange und wie soll ich es dir erklären. Wir waren doch immer wie Geschwister. Wieso hast du diese Gefühle zugelassen?“ Schmerzverzerrt schloss Bradley seine Augen. Fast schon taten seine Worte ihm leid, denn er wusste, wie traurig sie darüber sein musste. Er wendete sich von seiner Begleiterin ab, denn es fiel ihm schwer, ihr ins Gesicht zu sehen.
Nichts hielt Isabell Lankford mehr an diesem Ort. Sie rannte, so schnell sie konnte, in Richtung des Gemeindesaals. Bradley blickte ihr nach. Er traute sich nicht, ihr zu folgen. Tränen traten wie Sturzbäche aus Isabells Augen hervor. Sie wollte Bradley niemals wiedersehen. Eine gewisse Unruhe beherrschte das Geschehen im Gemeindesaal, als die Verschollene endlich eintraf. Isabell konnte ja nicht ahnen, was sich während ihrer Abwesenheit dort zugetragen hatte. Ihre Mutter Jane befand sich in heller Aufregung. Als sie ihre Tochter wahrnahm, schmetterte sie ihr unschöne
Worte entgegen, die nicht sehr damenhaft waren. Vincent Lankford ordnete an, sofort den Heimweg anzutreten. Amys Gesicht verzog sich bitterlich. Den ganzen Weg über vergoss sie unzählige Tränen der Enttäuschung. Isabell fühlte sich schuldig, bei dem Gedanken daran, ihr den Abend verdorben zu haben und sie wagte es nicht, nur ein einziges Wort von sich zu geben. Ihr Vater dagegen, schimpfte ununterbrochen vor sich hin. Zu Hause angekommen, gab es nichts wichtigeres zu tun, als sich auf die jeweiligen Zimmer zurückzuziehen. Amy, welche die Nacht im Hause der Lankfords verbrachte, setzte sich
wutentbrannt aufs Bett. „Es tut mir leid“, versuchte Isabell ihre Cousine gnädig zu stimmen, doch die stand kurz vor einer inneren Explosion, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Immer noch mit den Tränen kämpfend, platzte es aus ihr heraus: „Wieso hast du mir das angetan, wieso nur?“ Die Verurteilte versuchte vergebens die passenden Worte zu finden, aber egal was sie auch von sich gab, Amy wehrte jegliche Entschuldigung ab. Der nächste Morgen begann, wie sooft, schweigsam. Amys Vater holte seine Tochter gleich nach dem Frühstück ab. Niemand der Anwesenden ließ über den
Verlauf des gestrigen Festes nur ein einziges Wort verlauten, denn von Isabells Schande würde er sowieso bald erfahren. Amy trat den Heimweg mit völlig verquollenen Augen an. Sie wagte nicht ihren Vater ins Gesicht zu blicken. Aber dieser schien es sowieso nicht zu bemerken, da er im Grunde genommen nur froh war, seine Tochter wieder mit nach Hause nehmen zu können. Endlich besaß er wieder die Kontrolle über sie und das war ihm das Wichtigste.