Forumbattle 40
Vom Leben und vom Sterben
Eingangszitat
"J. fuhr nach Spanien, um zu sterben."
Vorgaben
Distel, flirrend, Perle, Vermächtnis, schwindelig, Sonnenuntergang, palavern, Wildbienen, Affenbrotbaum, beurlauben, Kaninchen, ungezähmt
Text und Cover
© Fliegengitter
"Judith fuhr nach Spanien, um zu sterben." Leise spricht Monika den Satz, so als ob sie hören möchte, wie er ausgesprochen klingt.
„Was sagst du dazu?“ Erwartend schaut sie auf, aber von ihrem Gegenüber kommt keine Reaktion.
Ralf, ihr Ehemann, der vertieft in ein Buch über Kaninchenzucht, die kleine Sitzecke in ihrem Wohnzimmer teilt, scheint sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
„Judith fuhr nach Spanien, um zu sterben… Was meinst du, ist das ein gutes Aufsatzthema für die 10. Klasse?“
„Mmmm“, grummelt er, was sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten kann.
„Ralf, ich rede mit dir!“, wird Monikas Stimme
nachdrücklicher. „Ich suche ein Aufsatzthema für meine 10. Klasse und habe an dieses Zitat gedacht.“
„Welches?“ Ralf legt etwas verdrießlich sein Buch auf den Tisch und hebt fragend die Augenbrauen.
Einen Augenblick lang schaut Monika ihren Mann, Geliebten und besten Freund versonnen an. Das Bild, welches sich ihr in diesem Moment bietet, würde sie gern fotografieren, lässt es jedoch, um die Situation nicht zu zerstören. Hinter Ralf ist ein wunderschöner Sonnenuntergang durch das Glas der Terrassentür zu sehen. In der flirrenden Abendhitze summen noch einige Wildbienen geschäftig durch die Blumenbeete und die letzten Sonnenstrahlen
versetzen alles in warmes, fast märchenhaftes Licht. Monika prägt sich jedes Detail genau ein, vielleicht wird sie später ein Bild davon malen.
„Noch einmal von vorn“, lächelt sie ihn an. „Ich suche ein Aufsatzthema für meine 10. Klasse und dachte an das Zitat - Judith fuhr nach Spanien, um zu sterben.“
Grübelnd schaut Ralf seiner Frau in die Augen. Offensichtlich sucht er nach Antworten auf Fragen, die nichts mit diesem Gespräch zu tun haben, konzentriert sich jedoch schnell wieder auf das angesprochene Thema.
„Ist das nicht ein Zitat aus dem Klassiker von … laß mich mal nachdenken …“
„Genau, ein Klassiker von Simone
Téry.“
„Stimmt! Tor zur Sonne.“ Ralf ist Sportlehrer am selben Gymnasium, in dem seine Frau Deutsch und Englisch unterrichtet. Die Leidenschaft für Bücher teilen sie, seit ihrem ersten gemeinsamen Tag.
„Warum müssen die Kids über das Sterben nachdenken?“, fährt er fort. „Lass sie doch über schöne Dinge palavern. Über Affenbrotbäume in Afrika, oder …“, suchend gleitet sein Blick durch das Zimmer. „Oder über die Schönheiten der Zimmerdistel. Egal worüber, aber doch nicht über den Tod?“
„Warum nicht? Neben dem Leben ist das Sterben das Thema, welches den Menschen am meisten bewegt und beschäftigt. Ich möchte gern erfahren, wie Sechzehnjährige
mit der Last umgehen, wenn sie wissen würden, dass sie nicht mehr lange leben dürfen. Zwei meiner Schüler haben das Buch gelesen und wir haben es besprochen. Sie sind ernsthaft interessiert an dem Thema.“
„Das glaube ich gern, aber in dem Buch geht es doch um so viel mehr. Warum lässt du sie nicht über die Liebe schreiben?“ Ralf lässt nicht locker. „Zum Beispiel - Das ungezähmte Vermächtnis der Liebe. Ein ergiebiges Thema für Jugendliche“, fügt er ernst hinzu.
Monika lacht laut auf. „Du hoffnungsloser Romantiker. Was meinst du, was die Kinder mir da auf das Papier bringen? Keinen einzigen vernünftigen Satz. Außerdem gehört die Liebe zum Leben und genauso zum
Sterben.“ Ihre Lachfältchen, die Ralf so liebt, sind ebenso schnell verschwunden, wie sie sich vorher in ihr Gesicht geschlichen haben. Viel zu selten sind sie zu sehen. Erinnerungen tauchen unerwartet auf. Vor zwanzig Jahren, als sie sich kennenlernten, war ihr Leben eine einzige humorvolle Achterbahn. Nichts und niemand konnten ihnen den Spaß nehmen und Ralf fragt sich, wann sich das zu ändern begann. Besonders in letzter Zeit lacht Monika überhaupt nicht mehr. Ihre natürliche Fröhlichkeit ist zwischen Büchern, Schule und Arbeit verlorengegangen. Spontan freut er sich auf die kommenden Ferien und die Idee einer Reise setzt sich in seinen Gedanken fest. Vielleicht nach Spanien, denkt er und muss
nun auch schmunzeln. Er wird sich im Sportverein beurlauben lassen, damit sie beide viel Zeit miteinander verbringen können.
Monika spielt währenddessen gedankenverloren an ihrer Halskette. Mit zwei Fingern dreht sie die kleine Perle, die in einem filigranen Drahtgeflecht eingebunden ist. Zu gern würde Ralf jetzt ihre Gedanken lesen, aber er weiß, dass seine Frau in solchen Momenten wie diesen, nicht über ihre Gefühle spricht.
„Ich werde das Thema so belassen. Schon jetzt bin ich gespannt, was ich zu Lesen bekomme“, beendet Monika die Diskussion.
Ralf steht auf, geht die wenigen Schritte auf sie zu und gibt ihr einen Kuss. „Du wusstest es doch vorher schon, warum fragst du mich
eigentlich jedes Mal wieder?“ Sanft streicht er über ihre Haare und wiederholt die Liebkosung.
„Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich dich liebe?“
Monika lässt sich von ihm aus dem Sessel ziehen und legt beide Arme um den Hals ihres Mannes. Sie erwidert den Kuss und flüstert: „Ja, hast du. Ich liebe dich auch.“
Es ist die Liebe und das Leben, welches das Paar für die nächste Zeit entführt. Wortlos geben sie sich einander hin, verstehen und genießen sich.
Erst Stunden später, als es längst Mitternacht ist, verlässt Monika noch einmal das Bett. Ralf greift brummend nach ihrer Hand, aber sie zieht sie vorsichtig unter seiner warmen
hervor. Leise schleicht sie in ihr kleines Büro am Ende des Flurs. Ihr ist etwas schwindelig und sie ist froh, als sie den Stuhl an ihrem Schreibtisch erreicht. Tief atmend lässt sich Monika nieder und schaltet die Tischlampe an, die einen hellen unwirklichen Lichtkegel in die Nacht wirft. Mit zitternden Fingern greift sie den Brief, den sie sorgsam vor Ralfs Augen versteckt hat und zieht die wenigen Blätter hervor. Einhundert mal hat sie die Worte bereits gelesen und doch hofft sie jedes Mal, es würde sich ändern, was dort steht. Heute Abend wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mit Ralf darüber zu sprechen. Ihr Blick verschwimmt von aufsteigenden Tränen, aber sie muss die Zeilen nicht mehr lesen. Der Doktor in der
Klinik hat ihr unmissverständlich erläutert, dass sie mit dieser Diagnose höchstens noch sechs Monate leben wird.