Die Geschichte spielt in Aventurien, der Welt des Rollenspiels "Das Schwarze Auge". Weder habe ich irgendwelche Rechte an dieser Welt, noch beanspruche ich sie. Dies ist nur die Vorgeschichte eines meiner Charaktere, bis zu dem Punkt, als er sich auf Wanderschaft begibt, um Abenteuer zu erleben.
Entsetzt fuhr die alte Amme zurück, als sie in die Wiege blickte. Eine Schlange hatte sich auf dem Säugling niedergelassen und ihren Schwanz um seinen Kopf geschlungen, während ihr Kopf über seinem Herzen ruhte. „Gnädige!“ rief sie in heller Verzweiflung. „Gnädige Frau!“ Eilig kam die Mutter angelaufen. Aywerna Goldbach war eine zierliche Frau, doch sie hatte die Geburt gut überstanden. Auch sie prallte zurück, als sie das grün und golden glänzende Tier in der Wiege sah. Nicht einmal eine Stunde war ihr Söhnchen alt, und nun so etwas! Sie hoffte, dass das Reptil nicht zugebissen hatte. Schaudernd sah sie zu, wie die Schlange den Kopf hob, um die beiden Menschenfrauen klug anzusehen. Dann glitt das Tier von dem Kind hinab in eine Falte. Wie der Blitz riss die frischgebackene Mutter ihr Kind an sich,
während die Amme mit einem Schürhaken auf die Wiege einschlug. Doch von der Schlange war nichts mehr zu sehen. „Grämt Euch nicht, Answyn“, Die Perainegeweihte schüttelte den Kopf. „Eurem Sohn ist nichts geschehen. Die Schlange hat ihn nicht gebissen“, Die undefinierbar alte Frau sah mit gütigen Augen auf den hektischen Händler, der keine Ruhe gegeben hatte, bis nicht eine Geweihte bestätigte, dass Aelswyn gesund war. „Vergesst nicht, dass diese Schlange auch ein Zeichen der Götter sein könnte. Vielleicht hat Hesinde Euren Sohn gesegnet. Macht Euch also keine Sorgen mehr“, Answyn Goldbach nickte schwach. Er war fürchterlich aufgeregt, denn Aelswyn war sein erstes Kind. Schon seit die Wehen eingesetzt hatten, war er unstet auf und ab gelaufen, hatte hier etwas gekramt und dort etwas geordnet und alles in allem der Hebamme so sehr im
Weg gestanden, dass diese ihn wütend aus dem Raum geworfen hatte. Nach der Geburt war er etwas ruhiger geworden, doch sobald die Schlange gesichtet worden war, kam wieder die Unruhe über ihn. Die Perainegeweihte untersuchte den Säugling nach einem kurzen Blick auf den nervösen Vater noch zu Ende, dann packte sie ihre Sachen.
„Gebt Acht auf den Jungen, Händler. Vielleicht ist er wirklich etwas ganz Besonderes“, mahnte sie ihn noch einmal, dann ging sie aus dem Haus.
Surrend blieb das Messer im Boden stecken. Der Große Junge blickte unsicher auf sein kleines Gegenüber, das wütend die Augenbrauen zusammengezogen hatte. „Verschwindet!“ brüllte der Kleine ihn und seine Kumpane an. Da der Große Junge sich nicht erklären konnte, wie das Messer auf einmal mit dreifachem Salto aus seiner Hand springen konnte, bekam er es mit der Angst zu tun. Schnell lief er fort, und seine zwei Freunde folgten ihm. Aelswyn drehte sich zu seiner kleinen Schwester um. „Schon gut, Aelborga, sie sind fort. Es
wird dich keiner mehr stoßen oder versuchen, deine Haare abzuschneiden“, versuchte er, sie zu beruhigen. Schluchzend presste sich die Kleine an ihn. Nur allmählich beruhigte sie sich, und Aelswyn war so sehr damit beschäftigt, sie zu trösten, dass er den Mann gar nicht bemerkte, der hinter ihm stand und ihn beobachtete. Als er ihn dann sah, zuckte er erschrocken zusammen. „Keine Sorge, mein Junge. Ich tue euch nichts“, meinte der Mann freundlich und kniete sich neben dem Geschwisterpaar nieder. Er sah aus wie viele von Vaters Kunden: das braune, wellige, schulterlange Haar war bereits
durchzogen von silbergrauen Streifen, die braunen Augen blickten freundlich auf die Kinder herab. Allerdings unterschied sich der Mann durch seine Kleidung von der normalen Bevölkerung, die beim Händler Goldbach einkaufen kam: er trug eine weite Robe aus dunkelblauem Samt, auf der viele Zeichen mit goldenen Fäden aufgestickt waren, und viele Ringe an den Fingern. Der Mann lächelte still, während er Aelswyn betrachtete. „Passiert dir das öfter?“ fragte er den Jungen nach einer Weile. Aelswyn sah nur verdutzt zurück. „Dass Dinge oder Menschen das tun, was du willst, meine ich“, präzisierte der Mann seine Frage
also. Aelswyn nickte stumm. Aelborga hatte sich inzwischen beruhigt und starrte den Fremden nur aus ihren großen, blauen, tränenfeuchten Augen an. Der Mann lächelte nun breiter. „Was wollten die Lausebengel eigentlich von euch?“ erkundigte er sich bei Aelswyn. Der schnaubte verächtlich. „Die haben Spaß dran, Kleinere zu drangsalieren“, gab er wütend zur Antwort. „Sie wollten Aelborga die Haare abschneiden“, „Onkel Ansgar meint, man wächst nicht mehr, wenn man die Haare abschneidet!“ mischte sich jene ein und gab damit den Grund ihrer Angst preis. Der Fremde
schmunzelte. „Keine Sorge, die versuchen das bestimmt nicht mehr!“ versuchte auch er, das kleine Mädchen zu trösten. Dann nahm er die beiden Kinder an die Hand und brachte sie nach Hause. In dieser Nacht schlief Aelswyn nicht sehr gut, denn er hatte heute etwas gehört. Normalerweise gehörte Lauschen nicht zu seinen bevorzugten Zeitvertreiben, doch in diesem Fall hatte er nicht weghören können – es war um ihn und seine Zukunft gegangen. Leider hatte er nur wenige Worte aufschnappen können. „...magisches Talent... ...Ausbildung...
...Gefahr für sich und andere... ...große Möglichkeiten... ...keine Last damit... ...aufnehmen... ...lehren..“, Als er am nächsten Tag herunter kam, bewahrheiteten sich seine Befürchtungen. „Aelswyn, Magister Trutzberger hat gestern Abend noch mit uns gesprochen“, begann sein Vater das Gespräch. Aelswyns Eltern sahen ernst aus, die Augen seiner Mutter waren ein wenig gerötet. Mit einem Seitenblick auf seine Frau sprach der Händler weiter. „Er meint, er hätte bei dir großes magisches Talent entdeckt, und hat versprochen, dich auszubilden“, Aelswyns Vater seufzte. „Das heißt
allerdings, dass du zu ihm wirst ziehen müssen. Er wohnt zwar nicht weit weg, sondern nur sechs Straßen weiter, doch es wird zwangsläufig eine Umstellung für uns alle werden“, Aelswyns junges Gesicht verzog sich. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, und seinen Eltern schien es ähnlich zu gehen. „Schau, mein Junge..“, Die Mutter ergriff das Wort. „Gewiss ist es nicht so, dass wir dich weggeben wollen. Im Gegenteil. Doch Magie ist eine seltene Gabe, und – einmal abgesehen davon, dass man zur Gefahr für sich und seine Umwelt werden kann -, ist sie auch eine große Möglichkeit“, Sie schluckte
schwer. „Magister Trutzbacher hat sich erboten, dich ohne Lehrgeld auszubilden; das ist selten. Dich eine Magierakademie besuchen zu lassen, dafür haben dein Vater und ich nicht genug Geld, und außerdem wärst du noch weiter von uns weg“, Aelswyn sagte nichts. Eine ganze Weile sagte er nichts, doch als das Gespräch vorbei war, ging er zu seinem Bett, packte seine Siebensachen, gab seinen Eltern einen Abschiedskuss und ging zum Haus von Magister Trutzbacher. Der Magier öffnete ihm selbst die Tür. „Aelswyn! Das ist aber schön! Komm herein“, Aelswyn betrat neugierig und
beklommen zugleich das große Stadthaus. Seine Eltern besaßen schon ein hübsches kleines Häuschen, in dem er und seine Geschwister auf zwei Räume verteilt wohnten und seine Eltern ein eigenes Schlafzimmer besaßen. Mit dem Luxus eines eigenen Zimmers hatte er nicht gerechnet. Doch tatsächlich führte Magister Trutzbacher ihn durch eine halbhoch holzvertäfelte Eingangshalle eine Treppe hinauf, einen kleinen Gang entlang und in ein hübsches Zimmer, das so groß war wie das, was sich Aelswyn bisher mit Aelborga geteilt hatte. Darin war in der Wand eingelassen ein Alkoven mit einem bequemen Bett, das sogar
Federkissen und –Decken besaß, und aus dem man durch ein kleines Fensterchen aus buntem Glas hinunter in einen kleinen Park blicken konnte; ansonsten stand eine Kommode da, die viel zu viel Platz bot für die wenigen Dinge, die Aelswyn sich mitgebracht hatte, ein schöner Schreibtisch, auf dem sogar Papier zurechtlag, dahinter ein gepolsterter und mit weinrotem Leder bezogener Stuhl, und in der Ecke, unter einer vor einem Messingspiegel montierten Öllampe, ein gemütlich aussehender Sessel in rotem Plüsch. Mit staunenden Augen wurde Aelswyn weiter durch das Haus geführt. Am Flur, gegenüber von seinem Zimmer, lag das
Zimmer seines neuen Meisters. Hier standen das große Himmelbett des Magiers, seine Kommode, einige Sessel und in der Wand zum Haus hin gab es sogar einen eigenen Kamin! Von diesem Zimmer aus führte noch eine Treppe nach oben, unter das Dach. Magister Trutzbacher zeigte Aelswyn, was dort lag: eine große Bibliothek erstreckte sich über den ganzen Dachboden, der geschmackvoll ausgebaut war und auch einen großen Schreibtisch sowie einige Lesesessel besaß. Bis zur Decke reichten die Regale mit Büchern, und da das Dach sehr hoch war, waren sie es auch. Noch nie in seinem Leben hatte Aelswyn so
viele Bücher gesehen! Nachdem sie wieder hinabgestiegen waren, zeigte Magister Trutzbacher seinem neuen Schützling noch das restliche Haus: der letzte Raum im Obergeschoss beherbergte eine raffinierte Einrichtung: Zwei Pumpen, die man aus einer großen Zinkwanne heraus bedienen konnte, und die – sofern auf dem Herde vorhanden – Heißwasser und Kaltwasser pumpen konnten! Dazu setzte man auf dem Herd einen großen Kessel mit heißem Wasser auf, in den man aus der Decke das Pumpenstück ziehen konnte. Dann wartete man, bis das Wasser siedete, und konnte oben gemütlich heiß baden. War
das kochende Wasser zu heiß, konnte man, direkt aus einem kleinen Brunnen unten im Keller, kaltes hinzupumpen. Unten, genau unter dem Bad, lag also die Küche, die ebenfalls über eine Kaltwasserpumpe verfügte. Sie war groß und gemütlich und diente auch als Esszimmer, wenn keine Gäste erwartet wurden. Von der Küche aus gelangte man in den Keller, in dem Vorräte gelagert wurden und in dem sich das Laboratorium des Magisters befand. Dies war auch der einzige Raum in dem Haus, den Aelswyn nicht ohne Erlaubnis betreten durfte. Erwartete man Gäste, aß man im Wohnzimmer, rechts von der
Eingangstür. Dort gab es einen polierter Ebenholz-Tisch samt Polsterstühlen, einige gemütliche Sessel, und – an der Wand zur Küche hin und damit fast immer heiß – einen großer Kachelofen, der bis zur Decke ging und so auch das Gästezimmer darüber direkt mitheizte. Alles in dem Haus zeugte von Geschmack und stilvollem Reichtum. Was aus Holz war, war in Ebenholz gehalten, die Wände – so nicht gerade holzvertäfelt oder mit Bücherregalen zugestellt – weiß gekalkt. Polster, Vorhänge und Teppiche waren in gedeckten Farben wie weinrot, nachtblau, tannengrün und je Zimmer aufeinander
abgestimmt. Nach dem Haus machte Magister Trutzberger Aelswyn erst einmal mit sich selbst und seinen Fähigkeiten bekannt. Sein voller Name war Cyrus Dankwart von Trutzberger, doch das "von" hatte er abgelegt, als er zu seinem Lehrmeister ging. Sein Vater hatte gewollt, dass er eine Magierakademie besuche, doch der noch sehr junge Cyrus fühlte sich deutlich mehr zu der Magierin hingezogen, die ihn entdeckt hatte, einer liebenswerten älteren Dame, die nach dem Fortgang ihrer Kinder sehr allein war und für die Bedürfnisse eines kleinen Jungen viel Verständnis hatte.
Sein Vater hatte nie wieder mit ihm gesprochen, doch seine Schwester, die nach ihm Erbin geworden war, hatte Cyrus' Isolation wieder aufgehoben. Doch das "von" war unwiederbringlich verloren, zumindest für den jungen Magier. In den letzten Jahren war Cyrus immer wieder herumgereist, um einen Schüler zu finden, denn seit der Rest seiner Familie auf die ehemalige Sommerresidenz umgezogen war, fühlte er sich ziemlich allein. „Ich habe keine Kinder, und hatte auch nie welche“, meinte er ernst zu Aelswyn. „Und ich weiß, dass es ein großer Unterschied ist, ob man ständig
zusammen wohnt, oder ob die Kinder am Ende des Tags wieder zu ihren Eltern zurückkehren. Von daher kann ich im Moment noch nicht absehen, was ich für ein Meister sein werde. Ich hoffe jedoch, dass wir uns auf gemeinsame Regeln verständigen können, und dann sollte das auch klappen.“
Sie hatten sich schnell auf die Regeln geeinigt. Jeder hatte die Privatsphäre des Anderen zu respektieren. Das hieß, dass Aelswyn nicht einfach in Cyrus' Zimmer hineinplatzte, auch nicht, um zur Bibliothek zu gehen, doch das galt auch umgekehrt. Der Unterricht würde normalerweise von zehn bis ein Uhr stattfinden (Cyrus war Langschläfer, weil er häufig bis tief in die Nacht las, und Aelswyn eignete sich das schon früh auch an), dann würde gegessen und danach ginge man nach Absprache vor. Manchmal ergaben sich
beim Unterricht am Vormittag so interessante Fragen, dass er am Nachmittag fortgesetzt wurde, manchmal zog sich Cyrus dann zu alchemistischen Experimenten zurück, manchmal ging man in die Stadt, und am häufigsten gingen beide in die Bibliothek und lasen. Zunächst jedoch wurden Aelswyn die ganzen Grundlagen beigebracht: bisher nur wenig in Lesen, Schreiben und Rechnen geschult, legte Cyrus ihm nahe, das so bald wie möglich nachzuholen, denn darauf basierten alle Wissenschaften. Hinzu kam die Ausbildung in mehreren Sprachen, vor allem Bosparano und Ur-Tulamidya, da diese Sprachen wohl für Wissenschaft
und Magie zu den wichtigsten gehörten. Auch in anderen, noch modernen Sprachen wurde Aelswyn unterwiesen: Tulamidisch, Zahayad und sogar ein paar Brocken der irgendwie immer nach Gesang klingenden Elfensprache brachte Cyrus ihm bei. Mit diesen Dingen gingen die ersten drei Jahre wie im Fluge um. Aelswyn sah seine Familie nur noch selten, denn er lernte das Lernen zu schätzen. Immer öfter vergrub er sich in den Büchern, um einer Frage bis zum Ende auf den Grund zu gehen. Als er die Grundlagen beherrschte, ging Cyrus zu den schwierigeren Dingen über.
Nun erhielt Aelswyn seine ersten Lektionen in Magiekunde und Alchemie. Dies war auch das erste Mal, das Aelswyn auffiel, dass er noch keinen einzigen Zauber gelernt hatte. Eines Tages fragte er seinen Lehrmeister, warum. „Magister? Warum lerne ich bei Euch eigentlich nicht, wie man zaubert?“ In Aelswyns Stimme schwang ein gewisser Vorwurf mit. Cyrus sah aus dem Buch auf, das auf seinem Schreibtisch lag. Nachdenklich betrachtete er seinen Schüler so lange, bis dieser schon fast glaubte, seine Frage sei überhört worden. Dann jedoch, nach schier
unendlich langer Zeit, kam eine Antwort. „Weil du noch nicht bereit dafür warst“, Der alte Magier seufzte. „Schau, Aelswyn, bevor man läuft, muss man gehen lernen. Wie soll ich dich vor Bücher setzen, in denen Zaubertheorien stehen, wenn du sie nicht lesen kannst? Viele der Magiebücher sind in Bosparano und Tulamidya abgefasst. Und bevor man einen Zauber wirken kann, muss man seine Theorie verstanden haben. Leider tut das jeder Magier auf eine ihm eigene Weise. Zwar könnte ich dir versuchen, meine Weise näher zu bringen, doch das heißt leider nicht, dass du sie einsetzen kannst. Zauberei ist ein Studium, das sehr viel
mit Übung und noch mehr mit Lesen zu tun hat“, Kurz hielt Cyrus inne, um seine Worte zu ordnen. „Ich habe mir überlegt, deine Ausbildung in drei Phasen zu gliedern: zunächst die Grundlagen. Die hast du nun größtenteils hinter dir. Dann die Magietheorie. Du musst wissen, wie Magie funktioniert, sonst verstehst du die Zauberbücher nicht. Und zum Schluss, wenn du gelernt hast, verantwortungsvoll mit Wissen umzugehen, dann bringe ich dir Zauber bei“, Als der alte Magier die verzogene Miene seines Schülers sah, schmunzelte er. „Aber ich denke, ein oder zwei nützliche Zauber können auch jetzt schon
nicht schaden. Morgen werde ich dir einen der wichtigsten Zauber überhaupt beibringen – einen, mit dem du überprüfen kannst, ob irgendwo in der Umgebung Magie vorhanden ist. Dazu habe ich glücklicherweise eine recht einfache Thesis auf Bosparano da“, SO schwierig hatte Aelswyn sich zaubern aber nicht vorgestellt! Seit zwei Stunden saß er nun schon hier und versuchte, etwas zu erkennen. Vorgestern hatte sein Meister ihm ein Zauberbuch gegeben, in dem die Theorie zu dem Spruch "Odem Arcanum Senserei" aufgezeichnet war. Wissbegierig hatte Aelswyn die kurze
Textpassage verschlungen – und war gescheitert. Wiederholt las er die Stelle, doch er kam nicht recht weiter. Zu komplex war das, was dort stand. Er jedoch wollte seine Niederlage nicht wirklich eingestehen, und als sein Meister schmunzelnd fragte, ob er die Stelle verstanden habe, nickte Aelswyn zögernd mit dem Kopf. Danach hatte Cyrus ihm zwei Stunden lang einen Vortrag gehalten, wie man diese Thesis in die Praxis umsetzen könne, von Matrizen und Zaubergesten gesprochen und seinen Schüler damit gründlich verwirrt. Doch auch diesmal nickte Aelswyn trotzig auf die Frage hin, ob er alles verstanden
habe. Nun saß er hier, seit zwei Stunden auf das Tablett starrend, auf dem zehn Gegenstände lagen, von denen er jene benennen sollte, die magisch seien. Seine Gedanken liefen fieberhaft im Kreis. Gesten, Gesten... Ja. Sie fielen ihm ein. Aber wozu waren sie da? Und was bedeuteten die Worte noch? Matrix... „Hesinde, hilf mir!“ entfuhr es ihm schließlich verzweifelt. Cyrus zuckte nicht einmal mit der Wimper. Aelswyns Verzweiflung wuchs weiter. Matrix... die Matrix eines Spruches... Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Matrix eines Zaubers war die Art und Weise, wie man ihn weben musste, um
ihn mit der Welt agieren zu lassen. Die Gesten und Worte waren dabei nur Foki; sie besaßen zwar in jener Kombination die Macht, aber nur, wenn der Zaubernde daran glaubte und sie mit seiner Kraft füllen konnte! Aelborga konnte nun hier stehen und die Worte sagen und die Gesten machen, solange sie keine Kraft, keinen astralen Willen hineinlegen konnte, würde genau nichts geschehen. Nachdem er das verstanden hatte, ging es nur noch darum, herauszufinden, wie man seine astralen Kräfte mobilisierte. Auch das war nicht so einfach, wie es klang. Aelswyn probierte eine weitere Stunde lang herum. Dann geschah auf
einmal etwas. Er hatte sich gerade vorgestellt, auf seiner Stirn, genau zwischen seinen Augen, sei ein Prisma eingelassen, dass seine bunt im Kopf umhersurrenden Gedanken auffinge und bündele, und dann seine Stirn auf das Tablett gerichtet. Auf einmal bekamen die Dinge Farben! Naja, nicht alle. Zwei Stück, um genau zu sein. Eine Phiole mit einer Flüssigkeit darin und ein Ring glühten auf einmal in einem sanften Blau. Als Aelswyn seinen Geist darauf richtete, schien es ihm plötzlich so, als ob das diffuse Leuchten sich in ein immer klareres Bild verwandle, das beinahe aussah wie Kugeln, zwischen denen
Stäbe hingen. Dann jedoch war alles fort. „Meister? Ich bin fertig“, verkündete er stolz. Cyrus stand auf und trat neben das Tablett. „Gut, mein Junge. Und welches dieser Dinge ist magisch?“ fragte er seinen Schüler. Wieder etwas unsicher geworden, wies Aelswyn zaghaft auf den Ring und die Phiole. Ein Lächeln tauchte auf dem hageren Gesicht des alten Magiers auf. „Sehr schön! Du hast es tatsächlich schon gemeistert!“ lobte er Aelswyn und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Das ist der Zauber, mit dem man erkennt, ob überhaupt irgendwo Magie vorhanden ist. Es gibt einen
weiteren, der gerade für die Analyse und eventuelle Umgestaltung von Zaubern wichtig ist: den "Analys Arcanstructur". Doch der ist für dich wirklich noch zu schwer, mein Junge – er hat eine unglaublich komplexe Matrix“, fuhr er fort. „Doch nun lass uns deinen Erfolg feiern gehen“, Sie waren in eine Taverne gegangen! Tatsächlich in eine richtige Taverne! Dort hatte es Kapaun zum Essen gegeben, und Aelswyn hatte das erste Mal Wein getrunken – nur mit Wasser gemischten Gewürzwein, doch es hatte ihm geschmeckt. Hinterher hatten sie bei einem Zuckerbäcker angehalten und
jeder eine Zimtschnecke bestellt. Cyrus war nämlich ebenso ein Schleckermaul wie Aelswyn selbst, auch wenn man das dem hageren Körper des Magiers nicht ansah. Die Mengen, die er vertilgen konnte, hätten jeden Anderen zu einer perfekten Kugel geformt, doch Cyrus' Figur blieb immer gleich. Manche hatten ihn schon spöttisch mit seinem Magierstab verglichen – und diesen dann zu spüren bekommen. Cyrus trug einen Stab aus einem ungewöhnlichen Material für einen Magier: es waren Weidenruten, zusammengedreht zu einem dichten Geflecht, biegsam und trotzdem unheimlich stabil! Aelswyn wusste, dass Cyrus bei seiner Zauberprobe genau
zwölf Wochen gebraucht hatte, diesen Stab zu machen, denn er hatte jede der zwölf Ruten mit arkanen Symbolen und den Runen der Götter versehen – alle winzigklein eingeschnitzt. Am oberen Ende drehten sich die Ruten auf und bildeten einen kleinen Käfig, in dem ein einzelner Kristall mit zwölf Flächen saß. Aelswyn hatte schon gesehen, dass dieser Kristall anfange konnte zu leuchten. Und er hatte schon gesehen, was Cyrus alles mit dem Stab anstellen konnte, selbst wenn er nicht zauberte. Sein Mentor war ein Meister des Stabkampfes – zumindest in Aelswyns Augen. Einmal hatte er beobachten können, wie sein Meister damit drei
Schurken in die Flucht geschlagen hatte! Der Stab war zweimal durch die Luft gewirbelt, und danach hatten alle drei auf ihrem Hosenboden gesessen. Sie hatten übrigens auch über Cyrus' schmale Statur gelästert. Als der Magier dann noch angefangen hatte, Worte zu rezitieren und mit seinem Stab Zeichen in die Luft zu schreiben, waren sie davongerannt.
Vier Jahre später wusste Aelswyn, dass die Worte und Zeichen purer Humbug gewesen waren. Inzwischen hatte er einiges über Zauberei erfahren und war ein geschickter Alchemist geworden, und so wusste er, dass Schein auch schon einmal mehr sein konnte als Sein. „Warum soll ich meine Energie an die Dummen verschwenden?“ hatte Cyrus ihn einmal gefragt. „Die Dummen glauben, Magie sei groß und prächtig und prahlerisch. Sollen sie doch, es macht es uns nur leichter“, Dabei hatte er verschmitzt gezwinkert. „Die meisten Zaubersprüche jedoch sind still und
klein. Sie bewirken mehr in der Welt als beim Zuschauer (mal abgesehen von Illusionssprüchen, selbstverständlich)“, Cyrus war schon ein Schlitzohr. Doch Aelswyn hatte es noch nie erlebt, dass der Magier seine Fähigkeiten zum Bösen eingesetzt hatte. Und er war ein verdammt guter Lehrer. Heute jedoch konnte Aelswyn den Ausführungen seines Meisters nicht so recht folgen. Immer wieder glitt sein Geist ab in tiefere Gefilde seines Gehirns – die meistens mit schlafen zu tun hatten. Die Augen fielen ihm zu, dabei hatte er diese Nacht fast zwölf Stunden geschlafen. Und ihm war heiß,
obwohl es draußen Winter war. „Aelswyn! Du passt ja schon wieder nicht auf!“ Kein Zweifel, langsam wurde Cyrus ärgerlich. „Was ist denn heute mit dir los?!“ Mit in die Seiten gestemmten Fäusten baute sich der Magister vor seinem Eleven auf. Der sah zu ihm hoch und klapperte buchstäblich mit den Zähnen. „W-weiß nicht... Mir ist kalt. Und heiß. Und ich habe Kopfweh“, klagte Aelswyn. Nun wandelten sich die zornig zusammengezogenen Augenbrauen seines Meisters in Boten der Besorgnis. „Wirst du krank? Ich hoffe doch nicht! Die Winterkrankheit hat dieses Jahr schon mehr als genug Leid gebracht“,
Fürsorglich legte der Magier seinem Schüler die Hand auf die Stirn. Tatsächlich war dieser Winter besonders schlimm; es hieß, die Winterkrankheit habe schon dreißig Opfer gefordert, meist Alte und Kinder. Aus trüben Augen sah Aelswyn seinen Mentor an, dann krachte sein Kopf auf die Tischplatte. Er schlief. Wirre Träume durchzuckten seinen Geist. Manchmal waren es nur Farben, manchmal nur Töne, doch alles war unklar und verschwommen. Aelswyn erwachte ruckartig. Neben sich auf einem Stuhl saß die hagere Gestalt von Cyrus, in sich zusammengesunken wie
eine Stoffpuppe. Erschrocken wollte Aelswyn aufstehen, doch er sackte nur wieder in die Kissen zurück. „Meister? Meister!“ Er bemerkte selbst, dass seine Stimme panisch klang. Erschrocken zuckte Cyrus zusammen. Als er den Kopf hoch, erschrak hingegen Aelswyn: Das Gesicht seines Meisters, sonst schon schmal, war nun völlig abgezehrt und eingefallen. Dunkle Ringe lagen unter den Augen des Magiers, und seine Adlernase sah in ihrer Schärfe mehr denn je aus wie ein Schnabel. „Aelswyn! Du bist wach! Götter, habt Dank!“ So übersprudelnd kannte Aelswyn Cyrus gar nicht. Erstaunt sah er ihn an, als der Magier mit zwei langen
Schritten den Raum durchquerte und seinen Schüler erleichtert in die Arme schloss. „M-meister?“ fragte er irritiert. „Wie lange war ich denn bewusstlos?“ Cyrus schob ihn auf diese Frage hin etwas von sich und forschte in den Augen seines Schülers, ob jener wohl auch schon stark genug für die Wahrheit war. „Fast eine Woche“, sagte er dann. Aelswyn wurde blass. „Und – du bist einer der Wenigen, die wieder erwacht sind. Die Krankheit greift dieses Jahr epidemieartig um sich. Sie hat weite Teile der Bevölkerung bereits erfasst, und nur vier von zehn überleben sie“, Der Ernst der Lage ließ Aelswyn
erschauern. „Gnädige Peraine! Das ist schrecklich.“ Forschend sah Aelswyn in das Gesicht seines Meisters. „Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“ fragte er dann eindringlich. Cyrus sah fort, in eine Ecke des Raumes. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er sich überwinden konnte, zu sprechen. „Deine Mutter und deine Schwestern sind auch krank.“ Wieder wollte Aelswyn auffahren, und wieder konnte sein geschwächter Körper ihn nicht halten. „Aerina ist tot. Deiner Mutter geht es sehr schlecht, und für Aelgande gibt es kaum noch Hoffnung“, sagte der Magier mit brüchiger Stimme. „Selbst
Aelborga zeigt schon erste Anzeichen. Dein Vater ist außer sich vor Kummer.“ Aelswyn konnte es kaum fassen. Seine Familie! Sie stand kurz davor, ausgelöscht zu werden. „Meister, wir müssen doch was tun!“ Seine Stimme brach, und er wehrte sich nicht, als Cyrus ihn in den Arm nahm. Als Aelswyn keine Tränen mehr hatte, setzte er sich auf. Cyrus half ihm, und stopfte ihm genügend Kissen in den Rücken. Nun bemerkte er ein dickes Notizbuch, das vollgeschrieben neben seinem Bett lag. Cyrus' Blick war dem seinen gefolgt. „Meine Aufzeichnungen über deine Krankheit“, erklärte er. „Ich hatte
gehofft, über den Krankheitsverlauf genügend zu erfahren, um etwas dagegen tun zu können.“ Aelswyn bat, das Buch sehen zu dürfen. Nachdem er es durchgelesen hatte, war ihm kalt – weniger, weil es im Bett kühl gewesen wäre, sondern weil ihm klar geworden war, wie knapp er dem Tod entronnen war. Nachdenklich sank er in die Kissen zurück. Etwas war ihm aufgefallen. Schnell vertiefte er sich wieder in die Notizen. „'Da es Aelswyn besser zu gehen scheint, wenn er kühl liegt, werde ich den Rat der Hausmütterchen, einen Kranken das
Fieber ausschwitzen zu lassen, nicht befolgen.'...'Seit ich Eis auf seinen Rücken gelegt habe, sinkt das Fieber.'...'Die Atmung geht schleppend; der obere Rachen und die Nase scheinen geschwollen, aber ohne Schleim zu sein. Ich versuche, ihn halb sitzend zu lagern, vielleicht hilft das.'...'Der Arnika-Tee scheint ihm gutzutun, er bekommt nun besser Luft.'...'Seit ich selbst an eiskalten Tagen regelmäßig lüfte, bessert sich die Atmung.'...'Aerina, Aelswyns Schwester, ist gestorben. Bei ihr war die Krankheit in ein Hirnfieber übergegangen.'...'Ich war auf Aerinas Begräbnis. Leider hatte ich zwischendurch vergessen, die Fenster bei
Aelswyn zu schließen, und jetzt geht es ihm wieder schlechter. Das Fieber ist wieder gestiegen.'„ In diesem Ton, bald mehr wie ein Tagebuch, waren alle Notizen gehalten. Aelswyn schrak auf, als Cyrus mit einem Tablett das Zimmer betrat. „Du musst etwas trinken, Aelswyn. Und etwas essen“, meinte der alte Mann sanft. Aelswyn brauchte eine Weile, um die Worte zu verstehen; dann nickte er geistesabwesend. Gerade, als Cyrus den Raum wieder verlassen wollte, hielt Aelswyn ihn zurück. „Meister? Könntet Ihr mir kurz helfen?“ fragte er. Nachdem der Magier an sein Bett getreten war, deutete der Junge auf
die Notizen. „Hierin zeigt sich, dass die größte Gefahr der Krankheit im Fieber und den verstopften Atemwegen liegt“, erklärte er, und Cyrus nickte. „Was, wenn man den Kranken einen Sud aus Donf – fiebersenkend -, Methumian – gegen Husten und Verengung er Atemwege –, Ölen der Aloe-Pflanze und etwas Honig – für den Geschmack und zur Beruhigung des Rachens – einen Sud machen, den man mit Eis kühlt? Dann könnte man vielleicht den Leuten helfen.“ Man sah Cyrus an, dass er fieberhaft nachdachte. „Das könnte funktionieren“, meinte er dann und sprang auf. „Ich werde gleich versuchen, es herzustellen.“ Wenige
Augenblicke später war Aelswyn wieder allein. Es dauerte eine Woche, bis Aelswyn wieder gehen konnte, so sehr war sein Körper von der Krankheit geschwächt worden. In dieser Zeit erreichten ihn die Nachrichten vom Tod seiner Mutter und seiner jüngsten Schwester, die beide trotz des Suds nicht mehr gerettet werden konnten. Aelborga war noch immer krank; Cyrus fürchtete auch um ihr Leben. So führte der erste längere Gang Aelswyn bis in sein Vaterhaus, wo er Cyrus und seinen Vater bangend an Aelborgas Bett antraf. Sein Vater schloss Aelswyn erleichtert in die Arme
– er hatte aus Sorge um seine Tochter nicht gewagt, Aelswyn besuchen zu kommen. Besorgt blickte Aelswyn in das bleiche Gesicht seiner Schwester. „Wenn sie heute nicht mehr aufwacht…“ Cyrus ließ die schreckliche Schlussfolgerung im Raum stehen. Stundenlang wachten sie zu dritt an Aelborgas Bett. Dann, als gerade die erste Abenddämmerung hereinbrach, flatterten Aelborgas Lider. Aelswyn taten die Arme weh. Nun, da sie wussten, dass der Sud half, arbeiteten Cyrus, Aelswyn und Answyn wie die Besessenen, um genügend für die ganze Stadt herzustellen, und da
Aelswyn noch nicht wirklich weit laufen konnte, war ihm die Aufgabe zugefallen, die Kessel zu rühren. Unermüdlich brachten sein Meister und sein Vater die Zutaten, und hatten auch schon dem Perainetempel Bescheid gegeben, wie die Rezeptur war. Jetzt stand Aelswyn einmal mehr seit Stunden schon allein in Cyrus' Küche und rührte. Plötzlich pochte es laut an der Haustür. Schnell kletterte Aelswyn von der kleinen Trittleiter, die er als Sitzplatz benutzt hatte, und eilte zur Haustür. Doch statt der erwarteten Rohstofflieferanten stand draußen eine ganze Rotte an Männern, die eine Trage zwischen sich hatten. Ganz vorne stand
ein stattlicher Mann in einem roten Samtwams, der seine stechenden grauen Augen nun auf Aelswyn richtete. „Ist dies das Haus des Magiers Cyrus von Trutzbacher?“ fragte er knapp. Aelswyn nickte nur, mehr gab es dazu nicht zu sagen. „Gut. Ich bin -“ Aelswyn vernahm mit Staunen, dass es den Baron zu ihnen verschlagen hatte! Es ging um seine Tochter – seine einzige Tochter; seine beiden Söhne waren nicht hier und konnten die Krankheit daher nicht bekommen, doch seine Tochter, sein Augapfel, war krank geworden und stand kurz vor dem Übergang in Borons Reich – wenigstens befürchtete der Baron das. Aelswyn ließ sie eintreten und schickte
die Männer mit der Trage hinauf in sein eigenes Zimmer. Dort betteten sie das Mädchen auf sein Bett, und er lief wie ein Hase wieder hinab, den Kessel rühren und etwas von dem Sud heraufbringen. „Ich brauche einen von Euren Leuten, der unten weiter im Kessel rührt, damit der Sud fertig wird!“ verlangte er vom Baron, der einem seiner Männer darauf zunickte. „Einfach immer im Uhrzeigersinn rühren“, wies er den großen Mann an, dann kümmerte er sich um die Jungfrau. Ihr ging es tatsächlich schlecht. Auch sie hatte die Krankheit bekommen, und dazu noch eine Lungenentzündung.
Eigentlich bestand für sie kaum noch Hoffnung. Doch Aelswyn dauerte das arme Mädchen; ihr blasses, hübsches Gesicht und ihre nun noch zerbrechlichere schlanke Gestalt brachen beinahe sein Herz. Also begann er, alles in seiner Macht stehende für sie zu tun. Es hatte funktioniert! Aelswyn war todmüde, wie auch Cyrus und sein Vater, doch sie hatten es geschafft! Beinahe alle, die noch nach der Erfindung des Suds krank geworden waren, hatten sie retten können, und auch die Tochter des Barons war – dank Aelswyns aufopfernder Pflege – wieder gesund
geworden. Nun standen die drei Sudbrauer in der Residenz des Barons und fanden sich ein wenig deplatziert. Doch der Herrscher hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, die Retter seiner Tochter persönlich zu empfangen und ihnen wertvolle Geschenke zu machen. „Answyn Goldbach, tretet vor!“ schallte die Stimme des Majordomus durch den Rittersaal. Mit leicht zitternden Knien ging Answyns Vater nach vorne. „Kniet nieder!“ Gehorsam kniete der Händler sich hin und neigte den Kopf vor seinem Herrn. Der zog ein großes Schwert aus einer prachtvollen Scheide. Im ersten Moment war Aelswyn
erschrocken, doch als sich das Schwert zuerst auf die linke, dann auf die rechte Schulter seines Vaters senkte, erfüllte ihn ein großer, unbändiger Stolz. „Erhebt Euch, Answyn VON Goldbach!“ sprach der Baron zu dem frischgebackenen Ritter. Leicht taumelnd erhob sich der Angesprochene. „Ihr habt in schwersten Zeiten dem Volk und auch mir und meiner Familie einen nicht auszugleichenden Dienst erwiesen. Ich hoffe jedoch, dass Euch dies ein wenig Belohnung sein kann“, sagte der Baron und nahm eine Schriftrolle von seinem Majordomus entgegen. „Ich verleihe Euch, Answyn von Goldbach, die Burg 'Rondrasang' samt dem
dazugehörigen Weiler Niederfurten. Fortan sollt Ihr dort in allen nicht ein Kapitalverbrechen betreffenden Fällen Recht sprechen. Die Abgaben aus jenem Weiler sollen Euch als Eigentum gehören und Euch nähren“, Noch während Aelswyns Vater seinen Dank stammelte, wurde er fortgewunken. „Aelswyn von Goldbach, Cyrus Trutzbacher – tretet vor!“ Aelswyn war überrascht – er hatte nicht damit gerechnet, selbst noch aufgerufen zu werden. Zögerlich trat er, immer einen Schritt hinter seinem Meister bleibend, vor den Baron. „Die Dienste, die uns Ritter von Goldbach erwiesen hat, wären nicht
gewesen ohne die Idee und die Gelehrsamkeit dahinter“, begann der Baron seine Rede. „Diese Idee, stammte von Euch, Aelswyn, und die Gelehrsamkeit, sie auch nutzbringend umzusetzen, von Euch, Magister. Nun ist es nicht erlaubt, dass Magier ein eigenes Lehen erhalten, von daher will ich Euch etwas anderes geben“, Wieder nahm der Baron zwei Pergamentrollen von seinem Majordomus entgegen. „Um Euer Wissen zu vertiefen, bedarf es normalerweise vieler Genehmigungen und einigen Goldes. Dies hier sollte Euch Eure Suche nach Wissen erleichtern.“ Feierlich las der Baron eines der Pergamente
vor. „Mögen die Zwölfe über uns wachen! Um seines Verdienstes an der Bevölkerung und der Baronie willen, gestatten Wir dem nachgenannten Aelswyn von Goldbach, Unser Wohlwollen an jeder Academia Magica vorzulegen, damit ihm sämtliches Wissen außer solches dem Menschen schädliches zugänglich gemacht werden könne.“ An der Art, wie Cyrus taumelte, wurde Aelswyn klar, dass dies ein ungeheures Privileg war. Vom Rest des Abends war ihm nicht mehr viel im Kopf, außer, dass das Essen gut war und er sogar einen Tanz mit der Jungfrau hatte ergattern können.
Zu gewaltig waren die Möglichkeiten, die sich nun offenbarten.
Aelswyns Vater war schon bald darauf nach Rondrasang gezogen. „Nichts kann mich noch in dem Haus halten, in dem ich beinahe alle, die ich liebte, verloren habe“, erklärte er seinem Sohn. Aelswyn verstand es, und so zog sein Vater um. Aelborga jedoch blieb nur kurzzeitig bei ihm. „An Eurer Stelle gäbe ich Eure Tochter in Pflege“, hatte ihm sein Majordomus geraten – Seine Wohlgeboren hatten für einen guten Beraterstab gesorgt und die Bediensteten selbst ausgewählt. „Ihr werdet sehen, dass es nicht so einfach ist, ein Rittergut zu verwalten. Wenn
Aelborga später einmal Eure Nachfolge antritt, sollte sie eine fundierte Ausbildung erhalten haben.“ Die Argumente leuchteten Vater und Tochter gleichermaßen ein, auch wenn es Answyn das Herz brach, sein letztes Kind auch noch fortgeben zu müssen. Der Majordomus hatte eine junge Ritterin herausgesucht, die einen guten Ruf genoss und gleichzeitig nicht allzu weit weg wohnte. Sie hatte die junge Aelborga zu sich genommen. Aelswyn hingegen führte von dem Augenblick der Privilegierung an ein unstetes Leben. Cyrus wollte das Privi- leg auskosten, wie es nur ginge, und so
reisten sie häufig. Zwar kehrten sie immer wieder in das kleine Häuschen zurück, doch oft waren sie den größeren Teil des Jahres unterwegs. In vielen Magierakademien und Hesindetempeln kehrten sie in den folgenden Jahren ein. Schließlich – merkwürdigerweise nicht als erstes – kamen sie zur Akademie in Punin. Die Academia Arcomagica Scholaque Arcania Puniniensis rühmte sich nicht zu Unrecht einer der größten und umfassendsten magischen Bibliotheken, und so wunderte sich Aelswyn, warum sie erst nun hierher kamen. Als der Mann in dem kleinen Büro, in dem sie sich anmeldeten, Cyrus begrüßte, wurde alles sehr viel klarer.
„Magister Trutzbacher! Wie schön, Euch wieder einmal hier begrüßen zu dürfen.“ Die Stimme des Mannes klang katzenfreundlich. „Braucht Ihr erneut ein Opfer?“ Aelswyn sah, wie die Kiefer seines Meisters auf diese Anschuldigung hin mahlten, doch er verhielt sich still. „Ihr habt Euch Euren Ausschluss selbst zuzuschreiben, Kranten. Wer beinahe eine Katastrophe herbeiführt und dann noch versucht, das auf andere abzuschieben, ist selbst schuld“, versetzte Cyrus kalt und knallte die zehn Dukaten für Logis auf den Tisch. Dann drehte er sich um und Aelswyn hatte alle Mühe, ihm zu folgen.
Als sie in ihren Zimmern angekommen waren, traute er sich dann doch, nachzufragen. „Meister? Was ist denn damals passiert?“ Er zuckte ein wenig zusammen, als er sah, wie vehement Cyrus sein Gepäck auf dem Bett ablud. Doch dann beruhigte sich sein Meister wieder. „Ich… ach, es ist schon ewig her.“ Fahrig strich sich der Magier durchs Haar. „Ich war hier für meine Abschlussprüfung, weißt du. Gleichzeitig mit ihm. Er ist ein Eleve dieses Hauses, ich war nur ein Zögling irgendeiner Lehrmeisterin. Wir saßen beide in der gleichen Prüfung; wir waren
Zauberpartner. Er war mit einem mittelmäßig schwierigen Ignifaxius bereits beinahe überfordert, wie ich aus den Übungen wusste. Allerdings wollte ich nicht in seinen Zauber eingreifen, denn das hätte zur Katastrophe führen können. Also hielt ich mich im Hintergrund und überwachte ihn lediglich mit einem Analys. Als ich jedoch sah, wie er die Matrix wob und dass er gerade dabei war, den kleinen Kampfzauber in einen riesigen Feuerball mutieren zu lassen, schrie ich ihn an, dass er aufpassen solle. Als er mir überlegen grinsend zu verstehen gab, dass er alles unter Kontrolle habe, habe ich einen Kampfzauber stören auf ihn
geworfen, um den Zauber zu unterbrechen. Es hat noch einen gehörigen Knall gegeben, und wir sind beide umgefallen, aber es war wenigstens niemand verletzt worden. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass die Lehrer auch alle schon ihre Hände zu den entsprechenden Gesten erhoben hatten, und wusste, dass ich richtig gehandelt habe. Doch er hat mir nie verziehen, dass er daraufhin durch die Prüfung gefallen ist. Er meint bis heute, ich hätte ihn mit Absicht durchrasseln lassen“, Cyrus zuckte mit den Schultern. „Ich wusste, dass er hier als eine Art Pförtner oder Portier geblieben war, und… nun ja, ich suche den Konflikt
nicht, weißt du.“ Aelswyn nickte verständnisvoll. „Aber Meister – warum sind wir dann überhaupt hergekommen?“ fragte er dann neugierig. Cyrus lächelte ein wenig schmerzlich. „Nun, mein junger Schüler, weil die Akademie zu Punin nun einmal die größte und bestsortierteste magische Bibliothek ganz Aventuriens bietet. Hier finden wir selbst seltene Zauber, und mit dem Privileg des Barons sollten wir sie auch einsehen dürfen.“ Sie verbrachten beinahe ein Jahr an der Akademie. Aelswyn und Cyrus vergruben sich in der Bibliothek,
teilweise bekamen sie sich tagelang nicht zu sehen. Aelswyn hatte von Cyrus die Erlaubnis erhalten, sich einen Zauber selbst erarbeiten zu dürfen, egal welchen. Tatsächlich hatte sich sein Mentor nicht eingemischt, doch Aelswyn hatte größere Schwierigkeiten damit, als er sich eigentlich eingestehen wollte. Er hatte den Xenographus Clarvoyant gewählt, weil dieser ihm die größte Hilfe für spätere Forschungen versprach. Danach hatte er ein halbes Jahr über den verflixten Büchern gesessen. Sprechen konnte er den verdammten Spruch danach zwar noch immer nicht, doch er hatte inzwischen wenigstens verstanden, wie er funktionierte.
Nachdem sie Punin hinter sich gelassen hatten, wandten sich Aelswyn und Cyrus nördlicheren Gefilden zu. Sie hätten zwar aus Almada direkt mit dem Schiff fahren können, doch sie entschieden sich für eine Wanderschaft – die Sitzerei hatte bei Cyrus schon zu einem kleinen Polster am Bauch geführt, und auch Aelswyn hatte feststellen müssen, dass er körperlich nicht mehr so leistungsfähig war wie zuvor. Seit mehreren Tagen wanderten sie nun schon durch einen lichten Wald. Abends rasteten sie meist auf einer Lichtung, und Cyrus bestimmte anhand der Sterne
ihren weiteren Weg. Des Morgens wurde früh aufgestanden (zumindest für die Verhältnisse der Magier; jeder normale Arbeiter wäre vermutlich schon längst aus dem Bett gekrochen), dann wanderten sie etwa bis zum höchsten Stand der Sonne, um eine kurze Mittagsrast einzulegen und etwas zu essen, bevor sie bis zur Dämmerung weitergingen. Diesen Mittag jedoch schien zuerst alles schiefzugehen. Das Feuer kam nicht richtig in Gang, sondern qualmte und rauchte wie eine Zwergenschmiede, und sie mussten feststellen, dass in die angeblich wasserdichte Zunderdose wohl doch bei der letzten Furtdurchquerung
Wasser gelangt war. Dementsprechend schmeckte das Rührei eher wie Rußei, jeder Bissen quietschte und knirschte zwischen den Zähnen. Gerade jedoch, als sie dabei waren, ihre Gerätschaften wieder zusammen zu sammeln, vernahmen sie eine überirdisch schön klingende Melodie. Erstaunt sahen Meister und Schüler sich an, doch schon bald wurden ihre Blicke von einem wunderschönen Bild gefangen: Eine Frau tanzte über die Wiese. Kurzzeitig erschien sie beinahe durchsichtig, doch dann sahen Aelswyn und Cyrus, dass sie nur in viele durchscheinende Schleier gehüllt war. Ihre Bewegungen waren so fließend, so
anmutig und natürlich, dass die Magier beinahe das Wunder übersehen hätten, das ihr folgte: ein kleines Einhorn sprang zu dem Gesang und Tanz der Frau hinterdrein und schien beinahe mitzutanzen. Ganz still blieben Aelswyn und sein Meister stehen; keiner von ihnen wollte die wundervolle Szene stören. Doch unvermeidlich wurden sie von den Beiden entdeckt. Anstatt jedoch Frau und Einhorn zu verscheuchen, kamen sie näher. Nun konnte man sehen, dass die Frau eine Elfe war – ihre langen, silberweißen Haare und die großen, ausdrucksstarken Saphiraugen richteten sich wie von selbst auf Aelswyn, während das Einhorn
zielstrebig auf Cyrus zu lief und an ihm schnupperte. Beklommen musste Aelswyn allerdings auch feststellen, dass die Elfe wirklich ausschließlich in die durchscheinenden Schleier gehüllt war. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Noch nie war ihm eine Frau so unbefangen begegnet! Erschrocken sah er plötzlich das Gesicht der Elfe ganz nah vor dem seinen, und die Saphiraugen zogen die seinen in den Bann. Hitze durchflutete seinen Körper und schien sich in seinen Lenden zusammenzuballen. So wunderschön! Scheu nahm er eine Strähne des seidenweichen Haars und schob es mit einer sanften Bewegung hinter das spitze
Ohr der Elfe. Ein belustigtes Lächeln und ein unverständliches Wort waren die Folge. Überrascht riss er die Augen auf, als die Elfe sich vorbeugte, um ihm einen Kuss auf den Mund zu geben, doch er brauchte nicht lange, um sich dem wundervollen Gefühl von warmer Seide auf seiner Haut hinzugeben. Selig schloss er die Augen, als die Elfe an seinem Ohr knabberte, und wie von selbst gingen seine Hände auf Wanderschaft und zogen sie an sich. Als er erwachte, war sie fort, und mit ihr das Einhorn. Aelswyn sah, dass auch Cyrus schlief. Leise zog er seine verrutschte Robe wieder gerade und
räumte schon einmal ein paar Sachen zusammen. Er war sich nicht sicher, was nun Traum und was Wirklichkeit gewesen war. Es war so… so real gewesen, dass er hätte schwören mögen, die Elfe habe wirklich bei ihm gelegen, doch das Einhorn erschien ihm eher als Ding eines Traums. Erleichtert hörte er, wie auch Cyrus sich regte. „Meister? Habt Ihr gut geschlafen?“ fragte er vorsichtig. Wenn Cyrus kurz vor dem Schlafen gegessen hatte, neigte er zu Alpträumen, und danach war er meistens selbst einer. Sich versonnen räkelnd nickte Cyrus. „Ich habe von einem Einhorn geträumt…“, antwortete er nach einer
Weile verschlafen. Aelswyn durchfuhr ein Schauer, und so drehte er sich langsam zu seinem Meister um. Der saß entspannt gegen einen Baum gelehnt und strich sich über den Bart. „Und eine Elfe war dabei. Allerdings hat die sich mehr mit dir… äh… beschäftigt“, Cyrus sah nachdenklich zu Aelswyn herüber, der inzwischen leicht bedrückt Platz genommen hatte. „Dann war es wohl doch kein Traum…“, murmelte Aelswyn vor sich hin. Cyrus sah ihn erstaunt an. „Was meinst du? Hast du – das Gleiche geträumt?“ fragte er vorsichtig. Aelswyn nickte nur. Auf einmal fing der Magier an, hektisch in seiner Reagenzientasche
zu kramen. Einen Moment lang erstarrte er, dann jedoch zog er sacht ein Bündel silberner Haare heraus. „Es hat mir Schweifhaare gelassen…“, erklärte er auf Aelswyns fragenden Blick. Schnell zählte Cyrus die Haare. „Zwölf Stück. Es war kein Traum!“ Begeistert räumte der Magier die Haare vorsichtig wieder in die Tasche. Aelswyn jedoch war knallrot angelaufen. Wenn es kein Traum gewesen war, dann war sein Abenteuer mit der Elfe ja auch real gewesen! Cyrus schmunzelte; er hatte die Gedanken seines Schülers schnell erraten. „Es ist vielleicht gar nicht so schlecht, was heute passiert ist, für uns beide
nicht“, meinte er zu seinem Schüler, der daraufhin ein noch satteres Rot annahm. „Denn ein reiner Bücherwurm wie ich, der nicht weiß, was er verpasst hat… Nun, sehr erstrebenswert ist das nicht.“ Erstaunt sah Aelswyn seinen Meister an.
„Heißt das – meint Ihr – äh…“ Langsam fragte Aelswyn sich, warum die meisten Menschen anfingen zu stammeln, wenn es um die Geschenke Rahjas ging. Cyrus jedoch nickte nur, halb amüsiert, halb traurig.
„Nun ja, für mich ist es wohl zu spät für so etwas“, sagte er ein wenig resigniert und packte seine Tasche. „Sollen wir weiter?“
Die Jahre vergingen wie im Fluge. Bald schon hatten sie beinahe jede größere Magierakademie im westlichen Mittelreich, Almada, Nostria und Andergast und dem nördlichen Horasreich besucht, und jedes Mal hatte Cyrus einiges an Geld dort gelassen. Nun wollten sie, von Havena ausgehend, Richtung Thorwal reisen. Ihr Schiff – diesmal hatten sie sich für die bequeme Reisemöglichkeit entschieden – sollte in Nostria zwischenankern und dann in die Hauptstadt des wilden Volkes weiterse- geln. Frohgemut betraten sie die "Ifirns Gnade" und machten sich auf den Weg.
Am zweiten Tag begann Aelswyn, sich um Cyrus Sorgen zu machen. Der alte Magier hatte schon die letzten paar Tage ein wenig öfter geniest als sonst und war alles in allem ziemlich verschnupft gewesen – auch vom Gemüt her –, doch nun zeigten sich auch hektische rote Flecken auf seinen sonst eher blassen Wangen. Die kalte Seeluft trug noch ihr Quäntchen dazu bei, und so hatte Aelswyn Angst, dass sein Mentor ernstlich erkranken könnte. Am zweiten Abend verordnete er seinem Meister energisch frühe Bettruhe, und dass Cyrus sich nicht allzu vehement dagegen wehrte, steigerte seine Sorgen noch. Den dritten Tag verbrachte Aelswyn fast
ausschließlich am Bett des Magiers. Zu dem Schnupfen hatten sich hohes Fieber und ein bösartig klingender Husten gesellt, und Cyrus war schon alt. Immer wieder wechselte Aelswyn fürsorglich die kalten Tücher auf der heißen Stirn seines Mentors, doch das Fieber wollte und wollte nicht sinken. Die Nacht wurde lang. Irgendwann am frühen Abend hatte Cyrus im Fieberdelirium versucht, aus der Kabine hinaus und über Bord zu kommen, und seitdem hatte Aelswyn alle Hände voll zu tun, ihn im Bett zu halten. Am nächsten Tag legten sie glücklicherweise in Nostria an. Schnell versuchte Aelswyn, Cyrus zum Medicus
oder Perainetempel zu bringen. Peraine sei Dank war das Delirium geschwunden; nun lag der Magier apathisch auf einer Trage und sagte kein Wort. Seine Wangen waren eingefallen bis auf die Knochen, er sah aus wie ein Geist. Von dem ehemals so wissbegierigen, wachen und lebensfrohen Mann war nur noch ein Schatten da. Im Laufschritt bahnte Aelswyn sich einen Weg durch die Menge. Erleichtert erreichte er den Perainetempel und alarmierte sofort einen der Geweihten. Als die Trage mit dem Magier eintraf, war bereits alles für ihn vorbereitet.
Nervös ging Aelswyn auf und ab. Die Geweihten hatten sich seines Mentors direkt angenommen, doch für Aelswyn war in dem Zimmer nicht mehr viel Platz gewesen, und deshalb hatten sie ihn hinausgeschickt. Nun wartete er hier schon seit Stunden. Immer wieder forderten die letzten Tage und die durchwachte Nacht beinahe ihren Tribut, doch Aelswyn harrte stur weiter aus. Schließlich trat einer der Perainegeweihten aus dem Raum. Er sah abgekämpft aus. „Ihr könnt nun hinein“, sagte er leise. Aelswyns Herz krampfte sich zusammen. Der Geweihte sah ihn mitfühlend an. „Es tut mir sehr leid, aber wir können
nichts mehr für ihn tun.“ Er legte dem jungen Magier die Hand auf die Schulter. „Er ist klar und will Euch sprechen. Doch Ihr solltet Euch nicht mehr allzu viele Hoffnungen machen. Er ist alt, und die Krankheit hat zu sehr an seinen Kräften gezehrt.“ Aelswyn schwankte leicht, als er diese Nachrichten hörte. Dann stürmte er in das Zimmer. Um das Bett seines Mentors standen noch vier weitere Geweihte. Sie hoben den Kopf, als Aelswyn so vehement in den Raum gestürzt kam, und machten leise Platz. Zitternd setzte sich der Schüler auf die Bettkante und nahm die Hand seines Meisters. Cyrus schlug die
Augen auf. „Aelswyn…“ Er hustete trocken. Tränen stiegen Aelswyn in die Augen; es war klar, dass Cyrus alle noch verbliebenen Kräfte zusammennehmen musste, um noch zu sprechen. Doch er kannte seinen Mentor zu gut, um ihm jetzt noch den Mund zu verbieten. „Ich habe nicht mehr sehr viel. Von meinem Vermögen ist durch unsere Forschungen und die Reisen nicht mehr viel übrig. Was ich noch habe, vor allem meine Bibliothek, meine Zauberbücher und persönlichen Sachen will ich dir überlassen; von meiner Familie kann damit niemand etwas anfangen und du kannst es sicher brauchen. Mein Haus und mein Geld
möchte ich dir auch geben; dies ist leider das Einzige, was meine Familie gegebenenfalls auch beanspruchen könnte. Vielleicht kannst du dich ja mit ihnen einigen.“ Wieder schüttelte ein Hustenkrampf den alten Magier, und es zerriss Aelswyn beinahe das Herz. Als Cyrus wieder genug Kraft gesammelt hatte, sprach er weiter. „Ich möchte dich bitten, dass du nach Punin gehst, um deine Prüfung abzulegen; als wir dort waren, habe ich die nötigen Vorbereitungen getroffen, du wirst also erwartet. Zwar wollte ich erst im nächsten Frühjahr zurück, doch wenn ich dir nichts mehr beibringen kann, kannst du auch direkt gehen. Das
Akademiesiegel wird dir einiges an Anerkennung bringen, denn die Akademie ist streng.“ Immer öfter kamen nun Hustenattacken, schließlich kam sogar ein dünner Blutfaden aus dem Mund des Magiers. Erschöpft lehnte Cyrus sich in die Kissen zurück. Er lächelte leicht, als eine von Aelswyns Tränen auf seine Hand tropfte. „Mach dir keine Sorgen um mich, mein Junge. Bleib nur immer aufrecht“, sagte er noch schwach, dann schloss er die Augen. Als die faltige Hand erschlaffte, konnte Aelswyn nichts mehr halten. Die folgende Zeit blieb Aelswyn größtenteils als schnell wechselnde Folge
verschiedenster Bilder im Gedächtnis. Er bat die Perainegeweihten um ein Protokoll der letzten Stunden, dann machte er sich wieder auf den Weg nach Honingen. Schweren Herzens überbrachte er Cyrus' Schwester die traurigen Nachrichten. Wider Erwarten war die Familie damit einverstanden, dass Aelswyn das Haus weiter bwohnte; sie lebten inzwischen nur noch auf dem Landsitz und hatten für ein Stadthaus weder das Interesse noch die Mittel, es zu unterhalten. Dann machte Aelswyn sich auf nach Punin. Tatsächlich war die Prüfung nicht einfach, doch Aelswyn meisterte sie ohne größere Schwierigkeiten. An dem
Tag, als er seinen Stab und sein Gildensiegel erhielt, schrieb er Cyrus einen Brief und verbrannte ihn.
„Vielleicht erreicht er dich, mein Freund“, murmelte er, während er die Asche über einem kleinen Bach in der Nähe verstreute. Nach seiner Prüfung wollte Aelswyn seinen Vater und seine Schwester wiedersehen. Er sammelte seine Habseligkeiten, die er von Cyrus bekommen hatte, und ging los.
Langsam glaubte er, verrückt zu werden! Seit mehreren Tagen zog Aelswyn durch einen lichten Laubwald, weil er Kräuter für Tränke sammeln wollte – seine Vorräte gingen bald zur Neige. Seit dem zweiten Abend jedoch verfolgte ihn immer wieder ein Kichern, das aus den unterschiedlichsten Büschen und Bäu- men zu ihm drang. Zunächst hatte er an einen Vogel gedacht, doch ihm war kei- ner bekannt der lachte statt zwitscherte. Die einzigen Tiere, von denen er wusste, dass sie lachten, waren Hyänen, und die lebten nicht einmal in der Nähe, geschweige denn auf Bäumen!
Danach hatte er einen Verfolger erdacht, doch so schnell, wie sich das Lachen von einem Baum zum anderen bewegte, hätte derjenige schon fliegen müssen. Die nächsten Überlegungen, die er anstellte, hatten etwas mit Essen und Rauschkräutern zu tun, doch er war sehr sicher, nichts derartiges zu sich genommen zu haben. Schlussendlich, nun, am sechsten Tag, war Aelswyn so weit, an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln. Resigniert wachte er von dem Kichern auf und begann dann, es zu ignorieren und sich Rührei mit Speck zu machen. Am Tag vorher hatte er einige Eier von wilden Hühnern gefunden, die noch neben einer
verlassenen Hütte herumstolziert waren, und so konnte er wenigstens wieder einmal etwas anderes essen als Trockenrationen. Schon stieg der Duft von gebratenem Speck durch die Luft, als es plötzlich im Gebüsch hinter Aelswyn knackte und er dann eine Stimme vernahm. “Hmmm! Was machst du da?“ Erschrocken fuhr Aelswyn herum und sah sich Auge in Auge mit einem winzigen Drachen, der neugierig auf und nieder flatterte und einen Blick auf die Pfanne zu erhaschen versuchte. „Rührei mit Speck“, antwortete Aelswyn mechanisch und blickte den Miniaturdrachen mit großen Augen an.
„Möchtest du auch etwas?“ Begeistert nickte der kleine Drache. Das Leckermaul war bei ihm geblieben. Der kleine Drache gehörte zur Art der Taschendrachen und machte dem Spitznamen "Meckerdrachen" alle Ehre, denn er konnte stundenlang nörgeln und meckern, ohne Luft zu holen – wenigstens schien es so. Er nannte sich Shavan und war eins der neugierigsten Wesen – abgesehen von anderen Magiern – die Aelswyn je begegnet waren. Tatsächlich war er intelligent (wenn auch ungebildet), wissbegierig, Gesprächen zugeneigt und lernwillig. Aelswyn brachte ihm bei, was er selbst
wusste; selbst Lesen konnte der Drache lernen, auch wenn das mit dem Schreiben ein wenig haperte – die Klauen der Drachen waren nicht unbedingt dazu geeignet, eine Feder zu halten, auch wenn sie einen gegenüberliegenden Daumen hatten. Auf den Wanderungen, die Aelswyn noch immer unternahm, sowie er konnte, waren sie wunderbare Weggefährten.