Während ich hier sitze und auf das Wasser starre, das über die Steine springt, höre ich es wieder in meinem Kopf. Das Klopfen. Ich beginne zu lächeln, denn seit es still geworden ist in dieser Welt, ist dieses Klopfen meine liebste Erinnerung. Eine Zeit lang habe ich die Tage gezählt. Noch immer kann man die Striche auf meinem Unterarm sehen, die ich für jeden verstrichenen Tag gezeichnet habe. Ich habe damit angefangen, als meine Uhr stehen geblieben ist und die Zeit gleich mit ihr. Noch immer weiß ich nicht genau, wie es passiert ist. Ich wurde wach und das Dach fehlte. Überhaupt fehlte so gut wie alles, unsere Möbel, die Bäume im
Garten, der Kies auf dem Gartenweg. Und die Menschen. In den ersten beiden Tagen habe ich unser Grundstück nicht verlassen. Ich habe gewartet, dass alles wieder so wird, wie ich es kannte, aber nichts geschah. Am dritten Tag verließ ich meine Heimat und schleppte mich durch unsere Nachbarschaft. Ich sah die Häuser, stumm und leer wie mein eigenes, und mein Hungergefühl mischte sich mit einem tiefen Unbehagen. Der Brunnen in der Dorfmitte sprudelte noch, als wäre nie etwas geschehen, und ich trank gierig von seinem Wasser. Es schmeckte seltsam, und am vierten Tag wurde ich krank. Ich fand nichts, was mich heilen konnte, und nachdem ich zu
schwach geworden war, um weiter in der Stadt umher zu irren, brach ich auf einer Rasenfläche am äußersten Rand des Ortes zusammen. Ich lag da und sah zum Himmel, der aussah wie immer, grau und wolkenverhangen. Und es gelang mir zu glauben, dass ich bis jetzt geträumt hatte, einen Fiebertraum vielleicht, und dass gleich ein Bewohner der wenigen Häuser, die es hier noch gab, zu mir kommen würde. Er würde mich fragen, wie ich hier her gekommen war, er würde einen Krankenwagen rufen und ich würde gesund werden und nach Hause kommen. Aber nichts geschah. Am Abend des fünften Tages schloss ich meine Augen, und dann konnte ich sie
hören. Die Stille. Der Wind rauschte noch und das Gras raschelte, wenn ich mich bewegte. Aber ich hörte kein Hupen, keine Autos, keine spielenden Kinder, kein Geschrei und kein Lachen. Ich weinte, weil die Stille mich aussaugte und als leere Hülle zurück ließ. Und ich weinte, weil mein Herz sicher wusste, dass ich allein war und alle anderen fort.
Am zehnten Tag fand ich das Haus am Fluss. Es musste einer reichen Familie gehört haben, ich sah noch, wo die meterhohe Mauer das Anwesen von der Außenwelt abgeschirmt hatte. Jetzt gab es keine Mauer mehr und kein Tor, nur
noch ein großes, leeres Haus. Ich ging nicht hinein, weil es groß war oder weil ich glaubte, noch irgendetwas Wertvolles darin zu finden. Ich ging hinein, weil es ein Dach hatte, und weil der Fluss, der durch den Garten floss, sauber war und das Wasser nicht krank machte. Das Innere des Gebäudes wirkte nicht als hätte hier je jemand gelebt, aber das machte keinen Unterschied. Ich fand noch essbare Dinge in den Schränken, gute Sachen, die ich immer hatte kaufen wollen, wenn ich einmal zu Geld gekommen wäre. Aber ich hatte Angst, von ihnen zu essen. Ich nahm die Konserven, schlug sie gegen die Kante des Schrankes, bis sie aufplatzten, und
aß die kalten Nudeln ohne auf den Ekel zu achten, der in mir hätte aufsteigen sollen. Ich lebte in diesem Haus für einundzwanzig Tage, ohne etwas anderes zu hören als mein eigenes Atmen. Ich begann zu summen und mit den Fingern zu schnippen, wo immer ich war, damit es nicht still wurde, und nachts schlief in der Bibliothek des Hauses, denn sie hatte eine Tür. Hier lag ich und trommelte mit den Fingern auf den Boden, als ich es hörte. Das Klopfen. Leise und zaghaft. Ich war sicher, dass es mein Kopf war, der mir Streiche spielte, und es eine ganze Weile wieder ruhig, bis es wieder klopfte. Lauter. Verzweifelter? Realer! Ich sprang auf
und stieß die Tür auf, aber dort war nichts.
„Hallo?“ fragte ich leise, und die Stimme die ich hörte war nicht meine eigene. Sie klang eingerostet, nachdem ich sie einen Monat lang nicht benutzt hatte, dünn und selbst für mich kaum zu hören. Ich lauschte in die Dunkelheit des Hauses. Und dann hörte ich es. Ein Räuspern, ein Rascheln, und hinter der Tür tauchte er auf. Ein Mann, genauso dürr und bleich wie ich, eine Taschenlampe in der Hand, die er nun eingeschaltet hatte. „Hallo“, sagte er leise, und wir fielen uns um den Hals, obwohl wir uns nie zuvor getroffen
hatten.
Er und ich redeten die ganze Nacht, und in mir war es warm, denn die Stille war fort, wenn er sprach. Er fragte viel und ich wollte ebenso viel wissen, aber Antworten hatten wir nicht. Er kam aus einer völlig anderen Stadt und hatte vieles gesehen, aber wenig verstanden. „Ich habe gelebt wie immer, und dann war alles ganz anders“, erklärte er mir. „Ich fand niemanden, obwohl ich suchte, von Haus zu Haus ging und auch dorthin, wo nie Häuser waren, aber es war alles leer und tot. Ich verließ meine Stadt mit allem, was ich finden konnte, und lief so weit ich konnte, aber ich sah
überall das Gleiche.“ Er hielt inne, und ich wusste, dass er mit ähnlichen Gefühlen kämpfte wie ich. „Dann sah ich dieses Haus“, fuhr er fort. „So standfest und gut erhalten wie kein anderes, das ich auf meinem Weg gesehen habe. Und in der Küche war alles durchstöbert. Also hatte ich wieder Hoffnung und lief durch alle Räume, bis ich dich fand.“ Ich nickte. Als es hell wurde, waren wir beide wieder voller Tatendrang. Wir hatten Hoffnung geschöpft und liefen die Straßen und Wege auf und ab, durchstreiften die Wälder und suchten an allen Orten, die wir in diesen Tagen erreichen konnten, ohne uns zu weit von unserem Haus zu
entfernen. Aber die Suche war vergebens. Keine Menschenseele war zu finden. Als wir wieder zusammen trafen, schwiegen wir wieder. Ich biss mir auf die Lippe und sah hinüber zu den Überresten der Stadt, die einst meine Heimat gewesen war. Ich begann zu schluchzen, und er setze sich neben mich. „Ich hasse es, wie es jetzt ist“, wimmerte ich. „Und ich hasse, wie ich bin, und wie du bist!“ Er seufzte und nahm meine Hand, weil ihm nichts Besseres einfiel. „Immerhin sind wir noch hier“, entgegnete er leise.
„Aber wir sind nicht mehr wir.“
In den folgenden Tagen wurde es besser.
Wir wurden erfinderisch und richteten uns ein einfacheres Leben ein, mit dem, was wir in den Überresten unserer Welt finden konnten. Dabei erfuhren wir, dass wir einander nicht unähnlich waren. Wir hatten beide Bücher und Musik geliebt, wir hatten beide einen Hund gehabt und wir hatten beide eine sorglose Kindheit verlebt. Als es passiert war hatte ich geschlafen und er hatte gearbeitet, und wir hatten beide nichts bemerkt, bis wir vor die Tür getreten waren. Wir waren überzeugt, dass wir eine Ausnahme waren, aber wir wussten nicht, warum ausgerechnet wir noch lebten und was es war, dass uns gerettet hatte. Nur eins bemerkte ich. Je mehr Zeit ich mit ihm
verbrachte, desto dankbarer war ich für mein Leben, dass ich noch hatte, und nach jedem langen Gespräch an den Abenden war ich mir sicherer, das es ihm genau so ging. Er begann nach einigen Wochen, mir zu meinen Ausflügen in die Waldgebiete zu folgen, hob mich über Wurzeln und Steine und versuchte mich zu beschützen. Wenn ich einmal länger ausblieb, kam er mir entgegen und suchte mich. Das war meine Rettung, denn als ich einmal an einem regnerischen Tag unter den tropfenden Ästen der starken Bäume entlang lief, rutschte ich auf einem nassen Stein aus und schlug mit dem Kopf auf eine Wurzel. Ich weiß nicht,
wie lange ich ohnmächtig war, aber als ich erwachte, trug er mich durch den Regen zu unserem Haus hinab. Es war schon dunkel. Mein Kopf tat weh und mein Rücken ebenfalls. Ich versuchte mich dafür zu entschuldigen, dass ich so unvorsichtig gewesen war, aber er sprach auf dem ganzen Weg kein einziges Wort mit mir. Er setzte mich in der Bibliothek ab und hüllte mich in die Vorhänge, die wir sonst als Decken benutzten. Dann saß er schweigend neben mir, während draußen ein Gewitter herauf zog. Als ein Blitz den Raum erhellte, sah ich, dass er seinen Kopf in seinen Händen vergraben hatte und vor Kälte zitterte. Ich wickelte mich
vorsichtig aus dem Vorhang und legte ihn um seine Schultern. „Es tut mir leid, dass du nass geworden bist“, murmelte ich leise.
„Als ob es darum ginge“, krächzte er und legte seinen Arm um meine Schultern. Und dann küsste ich ihn.
„Woran denkst du?“ fragt er und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe die Neugier in seinen Augen. Wir leben jetzt schon sehr lange hier. Wie lange weiß ich nicht genau, denn seit ich bei ihm bin habe ich aufgehört, die Tage zu zählen. Die Striche verblassen auf meinem Unterarm. Sie haben keine Bedeutung mehr. Jetzt liegen unsere
wenigen Besitztümer neben uns im Gras, denn wir wollen reisen. Wir wollen dieses Land verlassen, obwohl wir wissen, das anderswo vielleicht die gleiche Leere auf uns wartet. Doch wir können nicht die Einzigen sein auf dieser ganzen Welt. Wir glauben, dass Andere vielleicht unser Wunder erlebt haben, vielleicht nicht hier oder in der Nähe, aber vielleicht an einem weit entfernten Ort. Wer will es uns zum Vorwurf machen, dass wir noch darauf hoffen? Vielleicht gelingt es uns, eine neue Welt zu schaffen, irgendwo, irgendwann, wenn wir wissen, was unser altes Leben in den Untergang getrieben hat. Ich sehe zurück zu dem Haus, das
mir fast ein bisschen ans Herz gewachsen ist, obwohl es den Tod in seinen Mauern trägt.
„Es wird mir fehlen“, sage ich zu ihm, und er nickt verständnisvoll. Wir sitzen am Fluss, der durch den Garten fließt. Er ist wie wir, auf unerklärliche Weise unberührt von Vernichtung und Untergang. Es wird Zeit. Wir stehen auf und gehen los, durch das Tor, das es nicht mehr gibt, und durch die Stadt, die keine mehr ist. Wir stehen Arm in Arm auf einer Anhöhe und blicken zurück. Die Stille in mir habe ich besiegt. Und doch plagen mich noch immer Zweifel.
„Glaubst du, wir wären uns je begegnet, wenn es anders gekommen wäre?“ frage
ich ihn unsicher. „Glaubst du nicht, dass wir uns gar nicht lieben würden, wenn wir nicht allein wären?“
Er sieht mich verwundert an und blickt dann in die Ferne. Schließlich antwortet er.
„Nenn es Zufall, dass wir uns getroffen haben, denn das ist es. Es mag sein, dass wir begriffen haben, dass wir allein sind und nur miteinander gehen, weil es nur uns gibt. Weil wir keine Wahl haben.“ Ich seufze und wende mich zum Gehen, aber er hält mich fest, schließt mich in seine Arme und gibt mir einen langen Kuss. Dann lächelt er mich an, und als gäbe es nicht den geringsten Zweifel, nimmt er meine Hand. „Vielleicht gehen
wir zusammen, weil es nun mal ist, wie es jetzt ist. Aber vielleicht liebe ich dich auch, weil du du bist. Und weil ich ich bin.“