Romane & Erzählungen
Aus einem prekärem Tagebuch (3) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008

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"Aus einem prekärem Tagebuch (3) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008"
Veröffentlicht am 18. November 2008, 8 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Ich hasse diese Selbstdarstellungsdinger. Ich weiß immer nie, was ich in Blöcke wie diesen hier eintragen soll.
Aus einem prekärem Tagebuch (3) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008

Aus einem prekärem Tagebuch (3) - Erlebnisse in Deutschland im November 2008

Beschreibung

Alltäglicher Wahnsinn zwischen Hartz4, Selbstständigkeit und Callcenter - Deutschland im Zeichen der nachindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Die Handlung spielt im November des Jahres 2008 in einer kleineren Stadt im Ruhrgebiet. Alle Ereignisse und Personen sind natürlich rein fiktiv, wenn auch von eigenen Erlebnissen geprägt.

Die Frist

Zu Hause angekommen, öffne ich als erstes den verbeulten Briefkasten. Irgendein Idiot scheint regelmäßig meinen Briefkasten aufzubiegen, um hineinzuspähen und vielleicht etwas rauszufischen. Seltsam, ich bekomme nie Geld per Post. Außer Behördenpost und Rechnungen gibt es da nichts zu holen.

 

Das kann nicht wahr sein. Schon wieder ein schmutziggrauer Fensterbriefumschlag. Ein neues Schreiben der ARGE. Von einer Frau Klöppel. Ich soll meine Gewinn- und Verlustrechnung für die Monate September bis Oktober einreichen. Na toll. Die schaffen es, Arbeitslosigkeit zur Vollzeitbeschäftigung zu machen, dabei bin ich nicht mal richtig arbeitslos.

 

Vielleicht sollte ich den Laden einfach dicht machen und den kompletten Hartz4-Satz beanspruchen und meiner Tätigkeit als Webdesigner lieber als Schwarzarbeiter gegen Barzahlung nachgehen.

Oder gar nichts machen, wie mein Bruder, und Gerichtssendungen auf Sat1 gucken. Unterm Strich käme mehr dabei raus, ich bräuchte weniger dämlichen Papierkram zu erledigen und wäre auch das Finanzamt los. Ein verlockender Gedanke. Leider bin ich dafür einfach nicht abgebrüht genug.

Wann will Frau Klöppel die Abrechnungen? In gut 14 Tagen. Blick auf den Kalender: Typisch, die Frist für den Abgabetermin endet auf einem Sonntag. Das ist die Wochenendfalle. Alle Fristen der Arbeitsagentur und der ARGE enden grundsätzlich an einem Sonntag. Immer. Egal worum es geht.

Die Absicht dahinter ist ebenso bösartig wie durchsichtig: Diese Schlaumeier gehen davon aus, daß man den lästigen Papierkrieg bis zuletzt aufschiebt. Man denkt „Ach, sind ja noch ein paar Tage Zeit“ und schwupps ist das Wochende da und am Montag ist die Frist verstrichen und Sie haben wieder einen Grund, um irgendwelche Leistungen zu kürzen. Egal, mich kriegen sie mit diesem billigen Trick nicht mehr.

 

Die Vermittlungsversuche von Stößchen muß ich ja offenbar so oder so über mich ergehen lassen. Ich habe ein mulmiges Gefühl. Es wimmelt im Ruhrgebiet von Callcentern, die meisten sind übelste Lotto- und Gewinnspielklitschen, hinzu kommen etliche richtig große, die nach außen hin respektabel wirken, in Wirklichkeit aber auch nichts anderes als Sklavengaleeren der Dienstleistungsgesellchaft sind.

 

Eins weiß ich sicher: Nochmal 4 Jahre im Callcenter mache ich nicht, kann ich nicht, will ich nicht und werde ich nicht. Das halte ich weder psychisch noch körperlich nochmal so lange aus. Wer es nicht selbst gemacht hat, kann sich nicht vorstellen, wie destruktiv dieser Job auf Dauer auf Körper und Geist wirkt. Nur extrem abgebrühte oder abgestumpfte Menschen ertragen das längere Zeit, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen.

 

Ich muß mir was einfallen lassen. Die Bewerbungsschreiberei kann sich nicht ewig hinziehen bei Stößchen. Wie entkomme ich der Callcentergaleere ohne der ARGE einen Grund zu geben, mir eine Sanktion zu verpassen?

 

Ich verschließe den Briefkasten wieder und gehe in dem schmutziggelb gestrichenen Treppenhaus nach oben. Ich achte darauf, keinen unnötigen Lärm zu machen, ich möchte es vermeiden, Frau König zu begegnen, meiner Vermieterin. Die letzte Nebenkostenabrechnung ist immer noch nicht bezahlt und schon seit einigen Monaten überfällig, und davon abgesehen ist mir jetzt nicht nach einer Plauderei mit ihr. Die alte Frau bewohnt direkt unter mir eine große Wohnung.

Ihr Mann ist schon lange verstorben, die Kinder lange aus dem Haus und so hat sie jetzt die ganze Etage alleine. Sie hat sicherlich seit der Willy-Brandt-Ära keine nennenswerten Summen in das Haus investiert, darum macht alles, besonders das Treppenhaus einen stark abgenutzten, abgewetzten Eindruck.

 

Ich wohne in einer ehemals gutbürgerlichen Gegend, eigentlich mitten in der Innenstadt in der Rathausstraße, nur wenige hundert Meter von der Fußgängerzone um das Rathaus entfernt. Trotzdem strahlt das Viertel eine Aura von Verfall aus. Die meisten alteingesessenen Einzelhändler haben in den letzten paar Jahren einer nach dem anderen dicht gemacht.

 

Ihre Stelle nehmen Second-Hand-Läden, Döner-Imbisse, türkische Internetcafes, Handyläden und Spielhallen ein. Mir soll es recht sein, solange der Discounter um die Ecke nicht seine Pforten schließt. Sehr unwahrscheinlich, denn dort ist es immer ziemlich voll. Die Überalterung wird durch den Neubau eines mächtigen Altersheimkomplexes auch nicht gerade kleiner. Direkt gegenüber des Altersheimes haben sich die meisten der örtlichen Bestattungsunternehmen angesiedelt. Kaum vorstellbar, daß es hier nach dem Krieg noch eine Straßenbahn gegeben hat.

 

Oben in meiner Wohnung im 2. Obergeschoß angekommen, öffne ich erstmal die Fenster um den Mief der Nacht rauszulassen, setze Kaffeewasser auf und werfe den Rechner an, Zeit meine Emails zu abzuarbeiten.

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gaethke
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