Kapitel 2
„Du bist so ein guter Junge, Cero!“, bedankte sich die alte Dame bei dem hilfsbereiten jungen Mann.
Er machte nicht viel solcher guten Taten, doch die ältere Frau hatte es ihm irgendwie angetan. Sie erinnerte ihn an seine Mutter, die er seit seinem 7. Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte. Eines Nachts war sie einfach verschwunden und ab diesem Zeitpunkt waren er und seine Schwester auf sich alleine gestellt gewesen. Seinen Vater kannte er gar nicht. Es gab immer nur seine Mutter, Cara und ihn.
Tagelang dachte er über das plötzliche Wegbleiben der Frau, die ihn zur Welt
gebracht hatte, nach. War es wegen ihm gewesen? War sie in Gefahr? Warum ließ sie die beiden zurück? War sie vielleicht entführt worden? War sie noch am Leben oder bereits tot? Viele Fragen stellten sich ihm und auf jede einzelne hatte er keine Antwort. Nach ein paar Jahren hatte er aufgehört die Antworten wissen zu wollen und er hatte auch aufgeben, dass sie jemals zurück kommen würde.
Cero wusste, dass Cara es mehr getroffen hatte, wie ihn und dass sie als ältere Schwester jetzt glaubte, sie müsse auf ihn aufpassen. Das musste sie aber nicht. Er war stark genug. Allerdings wusste er auch, dass sie zusammenhalten mussten, vor allem in den ersten Jahren, bis sie alt genug waren, um sich eine Arbeit zu suchen und auf eigenen
Füßen zu stehen.
Was man mit 7 Jahren alleine machte? Auf der Straße leben, stehlen und sich jede Nacht ein neues warmes Plätzchen suchen, wo man übernachten konnte. Sie wurden von niemand aufgenommen, da ihre Familie nicht viele Freunde hatte. Die Stadt in der sie zu anfangs lebten, war riesen groß und so kannten die Geschwister viele dieser Menschen überhaupt nicht.
Die beiden entwickelten sich als echte Überlebenskünstler, liebten das Abenteuer und gingen auf Entdeckungsreisen. Hier und da blieben sie mal für längere Zeit an einem Ort, freundeten sich mit den Bewohnern an, wurden eingeladen bei ihnen zu übernachten und zu essen. Im Gegenzug erledigten sie arbeiten im
Haushalt oder auf dem Feld, um die Rechnung etwas zu begleichen.
Heute arbeitete Cero daran den Zaun der alten Dame, die für ihre Verpflegung zuständig war, herzurichten. Cara war auf dem Markt, um Gemüse und Obst zu kaufen.
„Wir müssen Ihnen danken, Frau Khastor, dass wir bei ihnen übernachten dürfen“, antwortete der Junge.
Den Satz konnte er schon in und auswendig, da er ihn bei jedem brachte, um seinen Dank auszudrücken. Nach einigen Malen wurde er schon Standard für Cero.
„Weißt du was Cero. Sag nicht Frau Khastor zu mir. Da komme ich mir so alt vor“, lachte die Dame, die bequem auf ihrer Gartenbank saß und etwas stickte, „Nenn mich
Saphira.“
Cero konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Saphira passte nun wirklich nicht zu der in die Jahre gekommenen Frau. Er war so frisch und lebendig. Die Dame jedoch kam ihm sehr langsam und alt vor.
„Ich kann dein Grinsen sehen mein Junge!“
Anscheinend waren ihre Augen noch topfit.
„Ich wundere mich nur über ihren Namen“, gab Cero offen zu.
„Mein Name?“, fragte Saphira etwas verwirrt und kniff die Augenbrauen zusammen.
Cero schlug den letzten Nagel in die Latte, vergewisserte sich, dass das Holzbrett hielt und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Es war ein heißer Tag und die Sonne brannte auf seine dunkelbraunen Haare, die wie immer
in allen Seiten wegstanden. Er machte sich nichts aus Schönheit und Pflege. Wahrscheinlich ein Teil, das er auf den Straßen nie gelernt hatte.
Er wollte nicht länger mit der alten Dame von einem Ort zum anderen Schreien, so ging er auf die Gartenbank zu und nahm neben Saphira Platz. Diese lächelte ihm zu, wie eine liebevolle Großmutter.
„Saphira“, meinte Cero dann lächelnd, „Einer alten Legende zufolge, gab es vor unzähligen Jahren einen Krieg zwischen Menschen und Personen, die Fähigkeiten besaßen. Saphira hieß eine Frau, die ihr Leben lassen musste, weil sie zwar keine Begabung hatte, jedoch trotzdem auf der Seite der magischen Individuen
stand.“
„Woher kennst du diese Geschichte?“, wollte die ältere Dame wissen und drehte sich irgendwie schockiert zu dem Jungen um.
Cero wurde nervös und unsicher. Etwas Röte durchfuhr sein Gesicht und er lächelte unschuldig.
„Wir fanden einmal Zuflucht in einem Dorf nicht weit von dem Wald, der für alle als verboten galt. Die Menschen dort saßen abends immer zusammen und erzählten sich alte Geschichten und Legenden“, erzählte der Bub und rieb sich nervös die Hände, „Ich jedoch glaube nicht an diesen Humbug.“
Die Dame wand sich wieder dem Zaun zu und Cero spürte, dass sie über seine Aussage nachdachte. Hatte sie auch schon von dieser
Legende gehört? Kannte sie die Geschichte von den Hyánai? Den magischen Menschen?
Allerdings war sie doch nur eine Legende. Ein Mythos. Er glaubte nicht an Dinge, die er nicht selber gesehen hatte.
Er ließ den Blick von der ältere Frau ab und blickte nun auch zu dem, von ihm reparierten, Zaun. Es kam ihm wie endlose Minuten vor, bis Saphira etwas sagte. Cero kannte es Geduld zu haben und wusste, dass man manchmal Zeit brauchte um Vor- und Nachteile abzuwiegen. Anscheinend hatte das die ältere Frau auch gemacht.
Sie legte langsam ihre Stickerei neben sich suchte nach Ceros Händen, die sich noch immer wild überschlugen und griff um seine Handgelenke. Dabei hatte sie sich leicht zu
dem Jungen umgedreht. Cero wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der solch eine Geste machte. Ihm war etwas unheimlich zu Mute.
„Das ist ein Zeichen des Vertrauens“, löste sie endlich die Stille.
Der Junge wusste instinktiv, dass sie nicht von ihrer Welt sprach.
„Ich habe noch nie jemanden von uns gesehen, der diese Geste machte“, gab Cero unfreiwillig von sich.
Er wollte Saphira nicht beleidigen und ganz sicher nicht als verrückt darstellen. Die Frau ließ von ihm ab und grinste. Es sah komisch aus, auf dem Gesicht der älteren Dame das Lächeln wahrzunehmen. Es sah irgendwie bösartig und rechthabarisch
aus.
„Das kommt davon, dass es keine Geste der Menschen ist.“
„Von wem dann?“, wollte Cero neugierig wissen und drehte seine Handgelenke, da die Dame sie, doch ziemlich fest für ihr Alter, gehalten hatte.
„Du bist ein Abenteurer Cero und du warst schon nahe dran. Doch ich bin nicht die, die dir diese Fragen beantworten sollte“, redete Saphira, nahm ihre Stickerei wieder zur Hand und arbeitete weiter.
„Sondern wer?“, fragte der Junge jetzt doch ungeduldig nach und starrte die ältere Frau mit ihren wunderschönen weißen Haaren an.
Als er sie instinktiver betrachtete viel ihm auf, dass ihre Hände keinerlei Falten aufwiesen. Er
war sich aber sicher, dass Saphira schon über 80 Jahre alt sein musste. Wieder blickte er auf seine Handgelenke, die mehr zu schmerzen anfingen. Was hatte sie mit ihm gemacht? Wieso war sie auf einmal so anders? Und vor allem, wieso fing sie mit etwas an, um es dann wieder zu lassen?
„Ich will, dass du und deine Schwester heute Abend noch aus dem Haus seid“, sagte sie jetzt streng, stand auf und schritt zum Eingang ihres Anwesens zurück.
Cero konnte ihren Worten nicht glauben. Was war gerade passiert? Wieso schwank sie jetzt um und wollte sie weg haben? Zeigte sie nicht gerade vorher noch ein Zeichen des Vertrauens? Warum mussten sie dann fort?
Noch bevor Saphira in der Tür verschwand,
drehte sie sich noch einmal zu dem verwirrten Jungen um und gab ihm einen letzten Hinweis:
„Die Antwort findest du hinter der Mauer!“
Schweißgebadet wachte Cero auf. Auch wenn er wusste, dass es ein Traum gewesen war, kannte er die Szene in und auswendig. Er war 15 Jahre alt gewesen, als die beiden Zuflucht bei Saphira im Ort Jahulì fanden. Am selben Nachmittag waren sie noch Richtung Osten verschwunden. Cara hatte er eingeredet, dass er sich nicht länger bei der alten Frau wohl fühlte und dass er so schnell wie möglich verschwinden wollte. Sie hatte keine weiteren Fragen gestellt, da sie immer auf sein Wohlergehen geachtet hatte.
Das war jetzt 2 Jahre her und genau heute, nachdem er wahrscheinlich diese Mauer
gefunden hatte, hatte er diesen Traum. Mit 15 Jahren glaubte er, dass die ältere Dame einen Sprung in der Schüssel hatte, dass sie wahrscheinlich an einer Krankheit litt, dass sie sich Dinge einbildete. Doch ab heute, wusste er, dass Saphira mehr wusste, als ihm lieb war.
„Hast du schlecht geschlafen?“, fragte Cara, die auch aufgewacht war.
„Nein, nein, Schwester. Schlaf weiter!“, gab ihr Bruder von sich.