Der Mann am Kiosk
Es war nicht seine Art, mitten in der Woche nach dem quälenden Sport durch die leergefegte Markthalle zu ziehen und an einem der runtergekommenen Stände nach einem Bier zu fragen. Die meisten der kleinen schmuddeligen Stände waren schon lange geschlossen. Eine gemütliche, etwas dickere Frau, die so aussah, als wäre sie mit dem Haus auf wundersame Weise verbunden und hätte es seit Jahren nie verlassen, erbarmte sich seiner und schenkte ihm sogar eine kühle Büchse. Die Frau im mittleren Alter hoffte heimlich, hinter diesem grauen Gesicht mit tiefen Augenrändern müsste eine Geschichte zu finden sein. Diese könnte ihr den Abend versüßen, mehr als die immer wiederkehrenden gleichen Geschichten über die Heimat ihres vietnamesischen Nachbarn. Seine roten Haare mochten zu dem blassen Gesicht passen. Sie waren länger geworden in den letzten Wochen, aber nicht ungepflegt. Er achtete auf seine gute Figur und seine Kleider. Aber unbewusst wollte er etwas ändern an sich, als wäre ein heimlicher Rebell in ihm erwachsen. Natürlich wusste er von seinem sonst ruhigen, manchmal zu ruhigen oder sogar langweiligen Gemüt. Aber als wolle er plötzlich dagegen ankämpfen, einem Jungen gleich, der seine Eltern herauszufordern versucht. Es war ein stiller, beinahe heimlicher Kampf ohne bedrohende Waffen gegen seine eigenen Überzeugungen.
Morgens, wenn er täglich in sein Büro eilte, vorbei an dem regen Treiben in und vor diesem Gebäude, fand er nie Blicke für diese lebendige Geschäftigkeit eines hektischen und trügerisch ungeordneten Lebens. Nun war er das erste Mal, scheinbar wie seit Jahren gewohnt und schon zwangsläufig, hineingeraten. Ihm war es egal geworden, wo er die schlimmer und schlimmer gewordenen Abende verbrachte. Es war der Geruch, aus den offenen Toren strömend, der ihn heute anzog, in die Markthalle zu gehen.
Es war passiert und nun stand er vor der Luke dieses kleinen Kiosks, und trank das kalte Bier aus der Büchse, nicht ohne Genuss. „Was war nur passiert?“, wollte auch die wundersame Frau in dem Kiosk wissen, die sich langsam heraus wagte, an die Holzplanken ihres Lebenswerkes lehnte und auf die Geschichten dieses unbekannten, so gar nicht in die Halle passenden Mannes, wartete.
Plötzlich fielen ihm, der immer noch nicht die Frau und Umstände bewusst wahrnahm, die einfältigen Sprüche der Eltern ein, vor denen er sich seit Jahren erfolgreich verschloss: „Du sollst nicht lügen!“, war noch der beste von denen. Vom Töten allerdings war gar kein Raum mehr in der müden Gedankenwelt seiner Eltern und dem dazugehörigen Verbot erst recht nicht. Dabei war ihm, als könne er sich nur noch so befreien, als bräuchte er den Ausbruch, auch mit Gewalt.
Er hatte seine Eltern lange nicht besucht. Vielleicht könnten sie ihn bändigen in seiner Wut. Vielleicht waren sie es, die ihm wieder Halt und Geborgenheit schenkten. Trotzdem, er misstraute dem Vorhaben und verschloss den Gedanken schnell wieder in seiner dunklen Schatulle.
Er war nicht müde in dieser kühlen Halle. Die Frau, die noch immer an der Planke wartete und unendliche Zeit zu besitzen schien, war warm gekleidet. Ein brauner, nicht in das geschäftige Treiben passender Pullover, hüllte ihren Körper und versteckte die gemütlichen Rundungen in Gleichmaß. Ein Paar fingerlose Handschuhe, die er nur aus Filmen über Männer unter der Brücke kannte, schützten sie vor der schleichenden Kälte, die um diese Zeit langsam einzog. Er war darauf nicht vorbereitet und fröstelte ein wenig.
Als seine Frau den Hörer in die Hand nahm und die gemeinsame Freundin aus früheren Zeiten das so von ihr mühselig gestaltete Hochzeitsalbum nun endlich dem unlängst schmucken Brautpaar ankündigte und zuschicken wollte, antwortete sie: „Das musst Du nicht mehr.“ Der Hörer war aufgelegt, bevor sie nachfragen konnte. Ihm glitt die Zeitung aus den Händen. Er liebte es, abends am Küchentisch allein die Lokalseite zu studieren und Hinweise auf alte Bekannte zu finden. Er liebte es auch, diese Zeitung nicht abonniert zu haben, sondern sie täglich nach der Arbeit selbst zu kaufen. Vielleicht doch diese heimliche Vorliebe für diese kleinen Kioske? Er hörte, wie sie den Schlüssel vom Holzbrett wie gewohnt zupfte und die Tür hinter sich beinahe alltäglich schloss.
Nun brach das Eis zwischen ihm und der Verkäuferin. Sie hatte gewonnen. Ihre Geduld und ihr stiller Respekt vor seinem Leben hatten gewonnen in dem kleinen stillen Kampf um Offenheit. Er begann zu reden.
Ja, sie hatte ihn verlassen, drei Monate schon nach der prunkvollen Hochzeit mit Eltern und Großeltern, mit Tanten und Onkeln, mit den Freunden vom Ruderverein und mit dieser anderen Studentin und ihrem Mann. Erfahren habe er es eben so vom Telefon, nicht direkt im Gespräch, vielleicht Streit oder gar heimlich. Nein, so dazwischen irgendwie. Nicht direkt von dir zu mir oder umgekehrt und auch nicht verklärt. So, als wäre er schon lange weg gewesen aus der gemeinsamen Wohnung und sie hätte nur das für die Freundin wiederholt, was schon lange Tatsache geworden war.
Ob sie denn wirklich gar nicht miteinander darüber geredet hätten, vorher oder später, fragte die Frau. „Nein, nie mehr allein.“ Mit den Anwälten redeten sie und von Freunden erfuhr er mehr. Sie waren wohl plötzlich verstummt, als die Hochzeit nach den vielen gemeinsamen und glücklichen Jahren, die keinen Beginn mehr setzte, sondern das Ende einer Beziehung, sich selbst krönen und beenden wollte.
Wie denn so was passieren kann, wollte die Frau wissen, die mittlerweile zwei klappbare Aluminiumhocker aus ihrer Bude holte und auf die sich beide setzten. Zuvor hatte sie eine Tasse Tee vom Elektrokocher genommen. Er wisse es bis heute nicht. „An dem Abend war es ein Schock.“, sagte er, der ihn auf seine Zeitung treten ließ, als würde er alles zerstören wollen, was in ihr stand. Er konnte sich ja nicht ein mal wehren. Sie war verschwunden. Wie im Ausnahmezustand mit heißem Kopf hätte er seine braune Jacke genommen und die Wohnung verlassen. „Keine Chance zum Reden oder Erklären habe er gehabt.“, so schlagartig überfiel ihn der Satz am Telefon.
Den nächsten Tag habe er sich krank gemeldet und wisse nur noch wenig davon. Ihm schien, er würde das Bewusstsein verlieren. Das kenne sie, sagte schnell die Frau. „Ein Blackout!“, sage man wohl heute dazu und der Mann wunderte sich über den Satz und darüber, dass er hier saß und mit dieser Frau redete. Seine Frau hatte ihn verlassen und er wusste es nicht. Kompromisslos, wie Frauen sein können. Eine Gabe, die ihm nie zufiel. Er bestand regelrecht aus Kompromissen. Jede Entscheidung in seinem Leben, die vielen kleinen des Alltages und auch die großen, waren nie ausschließlich, waren nie nur das eine. „Und so“, ergänzte die Frau, „waren es auch nie wirklich die großen Entscheidungen“.
Er war gar nicht mehr allein mit sich, wie all die Tage zuvor. Ihm schien plötzlich, er habe einen Freund gefunden, den er zuvor nie wirklich besaß. Die Verkäuferin quälte ihn auch nicht mit Fragen. Er konnte es das erste Mal über seine Lippen bringen, dass sie einen anderen habe und dass es sogar der einstige Brautzeuge sei, weshalb auch keiner das wirklich schöne Fotoalbum haben wollte von der Hochzeit im herbstlichen Sonnenschein, denn dieser Dritte muss ja auch zu sehen sein und das war dem einen peinlich und dem andern ein Greul. Ihre beiden Eltern wollten es auch nicht. Die Verkäuferin hätte es gern sehen wollen, sagte sie betroffen. Komisch, was habe sie für Interesse daran, fragte er sich und sie schien es zu hören. Glückliche Menschen wolle sie sehen, war ihre leise Antwort.