Kapitel 17 Diebstahl
Mia konnte von ihrer Position aus fast die gesamte Stadt überblicken. Im Norden wo die größten Industriebezirke lagen, stieg Dampf aus einer Reihe gewaltiger Schlote zum Himmel und vermischte sich mit den Wolken zu einem dunklen, an Asche erinnernden Farbton. Weiter im Stadtinneren wiederum überragten die Gebäude des Justizministeriums alles, und zeichneten sich als immer präsente Silhouette am Horizont ab. So nahe war sie dem Regierungsbezirk nicht mehr gekommen,
seit das alles begonnen hatte, überlegte die Kommissarin, während sie den Blick wieder auf das wesentliche richtete. Sie konnte die verspiegelte Fassade des Bürobaus sehen, in dem sich der Netzwerkknoten befinden musste. Von hier aus konnte sie fast das gesamte Gelände darum herum einsehen, zusammen mit den meisten Straßen. Perfekt.
Mia stand auf dem, von einer niedrigen Brüstung umlaufenden, Dach eines Wohnhauses, das sich fünfzehn Stockwerke weit in den Himmel über der Stadt erhob. Es war nicht der höchste Bau in der Umgebung, aber der einzige, der Öffentlich zugänglich und
gleichzeitig für ihre Zwecke geeignet war. In einemgrauen Koffer in ihrer Hand befand sich das auseinandergebaute Gaußgewehr. Die Waffe würde erst zum Einsatz kommen, wenn sie gebraucht wurde, war aber alles andere als unauffällig. Und wenn es erst einmal so weit war, würde sie kaum die Muse haben, die einzelnen Teile des Gewehrs wieder zusammenzubauen. Mia duckte sich hinter der schmalen Brüstung und klappte den Behälter auf. Rasch begann die Kommissarin damit, Laufstücke, magnetische Spulen und Kabel wieder an ihre Plätze zu bringen. Eine kleine Box, die etwa zwanzig der für das Gewehr erforderlichen Kugeln enthielt, verbarg
sich unter dem abmontierten Griffstück. Jedes einzelne der Projektile wog fast so viel, wie ein kleines Magazin vergleichbarer Munition. Die Wucht, die jedes davon beim Aufprall entwickelte… Mia wollte es sich nicht vorstellen müssen, auch wenn sie das ganze wohl früh genug noch in Aktion erleben würde. Während sie weiter die einzelnen Teile zusammenfügte, schaltete sie nebenbei das Funkgerät an, das sie verborgen im Aufschlag ihres Mantels trug. Die Geräte waren nicht sehr viel größer als ein Fingernagel und hatten sich ebenfalls unter den Vorräten gefunden, die Abundius offenbar nie gebraucht hatte. Der Mann hatte einen
anderen Weg eingeschlagen wie sie. Und vielleicht war er dabei ja auch auf seine Weise Erfolgreich wenn sie es nicht waren. Irgendwie war der Gedanke nicht wirklich tröstlich…
,, Sehen sie Aaren noch ?“ , fragte da Jacks Stimme, leicht verzerrt durch die Übertragung und die Verschlüsselung. Nach allem was Mia wusste, waren die Funkgeräte modernster Militärstandard. Es würde schon einiges erfordern, ihr Gespräch mitzuhören.
,, Nein. Er müsste mittlerweile auf Position sein, aber ich habe ihn aus den Augen verloren. Was vermutlich gut ist. Ich sehe den Knoten und das Gelände, aber die ganzen Seitenstraßen… keine
Chance. Er kann schon auf sich aufpassen. Und wie läuft es bei ihnen?“
,, Ich habe vielleicht einen fahrbaren Untersatz gefunden.“ , antwortete Jack.
,,Vielleicht ?“ Mia setzte das letzte fehlende Stück der Waffe zusammen, bevor sie Aufstand, um sich nach einem guten Versteck dafür umzusehen. Den Koffer hingegen ließ sie stehen wo er war. Sie würde ihn nicht mehr brauchen.
,, Nun mir stehen geschätzte zehn Ulanen im Weg.“
,, Machen sie bitte nichts dummes…“ Mia sah sich weiter auf dem Dach um. Nach hier oben verirrte sich wohl wirklich nur selten jemand, trotzdem wollte sie ganz sicher kein Risiko
eingehen. Entdeckte man die Waffe oder sie, war alles vorbei.
,, Keine Sorge.“ , meldete sich da wieder Jacks Stimme. ,,Ich hole sie gleich ab. Aber sie stehen besser bereit. Das wird etwas holprig…“ Damit brach die Verbindung ab. Offenbar hatte er das Funkgerät abgeschaltet, um zu verhindern, dass ihn ein unbeabsichtigt übertragenes Geräusch verriet. Aber was bitte meinte dieser Irre damit, dass es holprig werden könnte? Mia entschied, dass sie es nicht herausfinden wollte… und sich deshalb besser beeilte. Mittlerweile hatte die Kommissarin gefunden, was sie gesucht hatte. Zwischen einem Lüftungsschacht und der
umlaufenden Schutzmauer gab es einen schmalen Spalt, in dem sie das Gewehr verschwinden ließ. Solange niemand danach suchte, würde man es auch nicht finden…
Einen Moment zögerte sie noch, dann jedoch hallten plötzlich Schüsse aus den Straßen zu ihr herauf. Sie waren noch entfernt, näherten sich aber ganz ohne Zweifel… Jack. Nun zumindest wusste sie jetzt, was der Mann gemeint hatte, dachte Mia, unsicher ob sie darüber lachen oder wütend werden sollte. So schnell sie konnte hastete sie zurück über das Dach zum Aufgang, der ins Treppenhaus des Gebäudes führte. Die Stufen zogen sich in einer beinahe
endlos erscheinenden, rechteckigen Spirale abwärts. Sie hatte für den Weg hinauf fast eine halbe Stunde gebraucht und wagte es schlicht nicht, den Aufzug zu verwenden. Hier war die Chance jemanden zu begegnen um einiges geringer.
Dafür büßt er mir, dachte sie bei sich, bevor sie sich, zwei Stufen auf einmal nehmend an den Abstieg machte.
Jack beobachtete das Schauspiel jetzt schon gute zehn Minuten lang und so wie es aussah, würde sich daran auch in den nächsten zehn Minuten wenig ändern. Es hatte beinahe etwas lächerliches, das sich in diesen Zeiten noch jemand um einen
Falschparker kümmerte, aber das Auge des Gesetzes, oder zumindest von dem, was Vorgab, das Gesetz zu sein, schlief nicht. Anfangs waren es nur zwei Beamte gewesen, die jedoch mittlerweile durch mindestens zehn Ulanen verstärkt worden waren. Ihre Patrouillen waren nach wie vor überall und der Lärm des Streits hatte sie angezogen. Wie Fliegen… Schwer bewaffnete Fliegen in Kugelsicherer Ausrüstung.
Die zwölf Männer hatten sich etwas Abseits an einer Hauswand um einen Mann in grauer Kunststoffkluft versammelt, der wütend auf die Bewaffneten einredete. Nach dem Ton zu urteilen, dachte Jack, brachte er sich
damit wohl bald um Kopf und Kragen, den zumindest die anwesenden Ulanen wirkten nicht so, als würden sie sich die Beschwerden lange anhören. Die beiden normalen Polizisten hingegen hielten, zunehmend nervöser werdend, dagegen und versuchten, den Mann dazu zu bringen, sich ruhig zu verhalten. Zu seinem eigenen besten, wie Jack wusste. Über die Ulanen geboten sie nicht, das tat nur der Ministerrat. Und sie würden bald genug tun, was man ihnen einprogrammiert hatte… Diese Männer konnten nur auf eine Art mit Problemen umgehen und die kannte Jack nur zu gut. Allerdings würden sie sich bald um etwas ganz anderes kümmern müssen,
wenn alles nach Plan lief.
Der Ursprung des ganzen Streits, ein Motorrad, stand am Bordstein geparkt. Offenbar war es ein älteres Modell, wie Jack feststellte, denn statt einem der modernen Kartenschlösser, die man nur über einen Ausweis oder einer anderen Identifikationsmethode, manche der teureren besaßen gleich Retina und Fingerabdrucks-scanner, aktivieren konnte, steckte hier ein einfacher Zündschlüssel. Das hatte ihn ja überhaupt erst auf die Idee gebracht, sich die Maschine als Ziel auszusuchen. Ein Fahrzeug zu stehlen war auch ohne, das die Sicherheitskräfte des Elektorats ein Auge auf alles hatten, schwierig
genug. Doch hier schien sich jetzt die Gelegenheit zu bieten. Und nicht nur, das er den Ulanen eines auswischen konnte, er würde sie wohl auch davon abhalten, den Besitzer einfach zu töten, sobald sie die Geduld verloren. Auch wenn dieser das wohl kaum zu schätzen wissen würde, dachte Jack bei sich.
Offenbar hatten die Beamten diesen angehalten, als er grade wieder fahren wollte und ihm damit nicht einmal Zeit gelassen, die Schlüssel wieder an sich zu nehmen. Er war vielleicht wütend, aber sicher nicht dumm genug, seinen Hals zu riskieren, indem er die Männer warten ließ.
Das einzige, was damit zwischen Jack
und der Möglichkeit stand, das Motorrad zu stehlen, war die Kette mit der einer der Polizisten es bereits gesichert hatte. Allerdings, dachte er, würde das kaum etwas gegen ein Energieschwert ausrichten. Er trug die kurze Klinge gut Versteckt unter seiner Kleidung und nun tastete seine Hand nach dem griff, während der Streit erneut lauter wurde. Ein letztes Mal atmete Jack tief durch und überzeugte sich davon, dass die gesamte Aufmerksamkeit im Augenblick tatsächlich bei dem unglücklichen Fahrer lag, dann trat er aus seinem Versteck hinter einer Mauerecke hervor. Ihm würden nur Sekunden bleiben, bevor jemand merken würde, was vor sich
ging. Den Blick gesenkt, so als wollte er lediglich so schnell wie möglich an den in dunkle Kinetikpanzerungen gehüllten Ulanen vorbei, lief er, bis er auf Höhe der Kette war… und schlug dann zu. Die Energieklinge durchtrennte das Hindernis ohne auf den geringsten Wiederstand zu stoßen. Im gleichen Moment, wo der nun von nichts mehr gehaltene Stahl zu Boden fiel, war Jack auch schon auf dem Sitz der Maschine , drehte den Zündschlüssel… und betete, das sie auch anspringen würde. Spätestens, als der Motor stotternd zum Leben erwachte, wurden die ersten Ulanen aufmerksam und auch die beiden Beamten drehten sich stirnrunzelnd nach
dem Geräusch um. Jack wartete erst gar nicht, was passieren würde, sondern gab Vollgas. Ohne auf den Verkehr auf der Straße zu achten, schlug er einen Bogen, um zurück auf den Weg zu gelangen, der ihn auf dem schnellsten Weg zu Mia und den anderen bringen würde.
Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass die Ulanen bereits die Gewehre im Anschlag hatten und auf ihn anlegten. Innerlich stellte er sich bereits darauf ein, gleich von einer Kugelsalve durchsiebt zu werden, während er grade noch rechtzeitig einem Fahrzeug auswich, das wegen des plötzlichen Tumults stehen geblieben war. Dann übertönte auch schon
Maschinengewehrfeuer alles andere.
Jack spürte den Luftzug eines Projektils, das ihn knapp verfehlte. Andere prallten gegen die umstehenden Fahrzeuge oder zerschmetterten einige Schaufenster auf der anderen Straßenseite…
Diesen Bastarden war offenbar völlig egal, wie viele Zivilisten ihnen grade im Weg waren. Jack sah mehrere Fußgänger zu Boden stürzen, ob getroffen oder nur um sich in Deckung zu bringen, wusste er jedoch nicht. Dann schnitt plötzlich etwas, wie ein heißes Messer durch seinen Arm. Er musste sich zusammennehmen, damit er nicht die Kontrolle über das Motorrad verlor, während er auf das Münzgroße Loch
starrte, das in seinem Oberarm klaffte. Endlich jedoch, verlor sich das Kugelgewitter etwas und nur noch vereinzelte Geschosse fanden ihren Weg bis zu ihm. Funkensprühend durchschlug eine davon die Karosserie, beschädigte aber ansonsten nichts weiter. Zumindest hoffte Jack das. Solange das Motorrad noch fuhr, war alles in Ordnung. Er warf einen weiteren Blick zurück.
Er war so gut wie außer Reichweite… Jetzt müsste er es nur noch auch bis zu Mia zurück schaffen. Die Gebäude der Stadt jagten in einem ständigen Schleier aus Glas und Beton an ihm vorbei, bis er schließlich den Bürobau sehen konnte, in dem der Netzwerkknoten lag. So schnell
er es mit dem verletzten Arm wagte, fuhr er weiter, bis er auch das Gebäude sehen konnte, an dem er Mia, Aaren und Sonea zuvor zurück gelassen hatte. Mit der gesunden Hand schaltete er das Funkgerät an seinem Kragen wieder ein
,, Mi ? Sie beeilen sich besser. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis das Elektorat weiß, wo ich bin.“
Seine Antwort erhielt er in Form einer auffliegenden Tür, durch die eine sichtlich abgehetzte Kommissarin stürzte, die Waffe im Anschlag. Als sie ihn erkannte atmete sie einen Moment erleichtert auf, bis ihr die Wunde an seinem Arm auffiel.
,, Gott, Jack, was haben sie gemacht ?“
Er grinste unwillkürlich, während er abstieg und das Motorrad abstellte. Noch konnte er keine Sirenen oder ähnliches hören. Sie hatten also noch einen Moment Zeit. Und das Elektorat würde nach einem flüchtigen Fahrer suchen, der wie der Teufel unterwegs sein würde, keinen, der am Straßenrand plauderte.
,, Ehrlich gesagt, ich dachte erst gar nicht, dass das überhaupt klappt.“ , antwortete er schließlich. ,, Und desto schneller wir das hier…“ Er klopfte gegen das Lenkrad der Maschine. ,, Von der Straße schaffen, desto besser.“
Mia nickte, bedachte ihn dann aber mit einem skeptischen Blick, wie er
versuchte, das Motorrad mit einer Hand zu balancieren und gleichzeitig wieder zu starten. Die Kommissarin sah ihm eine Weile dabei zu, wie er den Motor dreimal abwürgte, dann gab sie ihm lediglich ein Zeichen bei Seite zu treten. ,, Ich fahre.“ , erklärte sie.
Jack gab sich nur allzu bereitwillig geschlagen. Die Wunde würde noch ein Problem werden, dachte er bei sich. Eine Pistole konnte er benutzen, aber er würde weder fahren, noch ein Gewehr bedienen können.