Einzig und allein die wechselnden Jahreszeiten, welche einem deutlich machten, dass die Zeit schneller verging, als es manchem lieb war, gestalteten das Geschehen in Roschfield. Auch Isabell Lankfords Leben bildete da keine Ausnahme. Dennoch gab es diesen einen Tag der Woche, an dem sie jener gewissen Eintönigkeit, wenn auch nur für ein paar Stunden entfliehen konnte. Mrs Fielding, welche ein vornehmes Herrenhaus außerhalb von Roschfield bewohnte, war das Ziel eines viertelstündigen Fußmarsches, welchen sie jeden Donnerstag voller
Enthusiasmus zurücklegte. Entlang der Jeffersonstreet glaubte das Fräulein einen Duft von Frühling wahrzunehmen, den sie tief in sich hinein sog, so als wäre es ein liebliches Parfüm, das bereit war, die eiskalte Luft, die uneingeschränkt vorherrschte, endgültig zu vertreiben. Pünktlich, mit dem ersten Schlag der Kirchenglocke, öffnete Beth Morris ihren kleinen Laden mit allerlei Stoffen und Garnen. In den Zeiten, als Mr Morris noch lebte, florierte das Geschäft recht erträglich. Nach seinem Tode hinterließ er seiner Gattin ein ausreichendes Vermögen, welches es Mrs Morris ermöglichte, das Geschäft alleine
weiterzuführen. Letztendlich war es auch ihren geschickten Händen und ihrem vortrefflichen Geschmack für edle Stoffe zu verdanken, dass ihr die Kundschaft stets die Treue hielt. Vielleicht lag es auch daran, dass sie für alles und jeden stets ein offenes Ohr besaß. Wenn man eine Neuigkeit über wichtige oder unwichtige Dinge des Lebens in die Welt setzen wollte, so war man bei Mrs Morris immer an der richtigen Adresse. Die Damen gingen ein und aus, um irgendwelchen Nichtigkeiten nachzugehen, die in ihren Köpfen verwirrende Ausmaße entwickelten. Dabei ließ sich die eine oder andere des Öfteren dazu hinreißen, unnütze Dinge
zu kaufen, nur um auf dem neusten Stand des Geschehens zu sein.
„Guten Morgen, Miss Lankford!“, ertönte eine wohlbekannte Stimme. Sie kam von der anderen Straßenseite und gehörte Adam Jenkins, dem Besitzer des Gemischtwarenladens von Roschfield. Obwohl die Leute meinten, dass das zunehmende Alter ihn mürrisch werden ließ, mochte Isabell den alten Kauz. Es war seine Art die Mundwinkel nach unten ragen zu lassen, sodass man vielleicht der Meinung war, dass ihm die Freundlichkeit abhanden gekommen sein musste. Jedoch lag es nicht in Isabells Interesse, etwas Schlechtes über Mr
Jenkins zu äußern. Es gab auch keinen Grund für sie, sich über ihn zu beschweren. Zu ihr war er stets freundlich, auch wenn sein grimmig wirkendes Gesicht oft etwas anderes zuließ. Er war eben so, wie Gott ihn geschaffen hatte. Für einen kurzen Moment unaufmerksam, entging Isabell fast die vorbei eilende Kutsche, welche ihr den Zugang zu Adam Jenkins versperrte. Der Kutscher wetterte, was das Zeug hielt, um dem Fräulein seine Meinung kundzugeben. Dann war die Sache vergessen, seine Pferde bedurften unausweichlich seiner Führung. Die mit Dreck überzogenen Räder
hinterließen tiefe Spuren in dem aufgeweichten Boden, was dazu führte, dass die Straße beinahe unpassierbar erschien. „Passen sie auf, Miss!“, lauteten Mr Jenkins warnende Worte, welche Isabell jedoch nicht davon abhielten, die Straßenseite zu wechseln. „Diese elenden Winter kommen und gehen und hinterlassen jedes Mal nichts als Ärger“, schimpfte Adam Jenkins. Mit besorgter Miene begann er damit, den äußeren Zustand seines Gegenübers zu prüfen. Nun, wie eine feine Dame sah die Besagte heute wahrlich nicht aus. Sie ärgerte sich zutiefst, wusste sie doch,
dass Mrs Fielding besonders auf saubere Kleidung achtete. Der alten Dame war es bereits in die Wiege gelegt worden, dass man immer korrekt und anständig auszusehen hatte. Auch wenn Isabell stets darum bemüht war, ihr den Gefallen zu tun, wie ein junges, wohlerzogenes Fräulein in ihrem Hause zu erscheinen, so gab es doch ständig Dinge, welche Mrs Fielding an ihr zu bemängeln wusste. Wenn es nicht die Kleidung war, so war es eben ihre Verspätung, durch welche sie an den Donnerstagen glänzte. So wie dieses Mal. Hastig bog sie schließlich in die Highstreet ein. Ihre Augen richteten sich
unausweichlich auf ein große Schild, welches oberhalb der Tür, des örtlichen Schuhmachers angebracht war. -Winston und Sohn- stand mit großen Buchstaben darauf. Der Wind hielt es in seinem Bann gefangen und schaukelte es fröhlich hin und her. Seit Ewigkeiten verfolgte Isabell den Wunsch, dass Bradley endlich die Einsicht gewinnen möge, bei seinem Vater zu bleiben. Denn einst wollte er aus Roschfield weg. Sein Glück, so dachte er, läge in fernen Welten. Es war schwer sich einzugestehen, dass dem Besagten nicht nur ein Herz zu Füßen lag. Aber Isabells Hoffnungen waren groß. Ja, sie glaubte sogar, dass sie die
Einzige sei, welche einer Zukunft mit Bradley Winston entgegenblicke. Zumindest redete sie sich ein, dass keine Andere dafür in Frage käme. Sie kannten sich doch schon so lange. Ihre Kindheit hatte sie zusammengeschweißt. Ewige Verbundenheit, so lautete damals der Schwur. Die Zeit war allerdings nicht stehen geblieben. Die Unbeschwertheit aus Kindertagen entwich, als jeder sein eigenes Leben für sich entdeckte. Dennoch glaubte Isabell an das unsichtbare Band, was zwei Herzen für die Ewigkeit miteinander vereinigte. Jeden Donnerstag, wenn Miss Lankford an der Schuhmacherei vorbeikam, versuchte sie, von der
gegenüberliegenden Straßenseite aus, einen Blick durchs Schaufenster zu werfen. Hinübergehen? Nein, das traute sie sich nicht, denn das wäre ganz und gar nicht schicklich. Der Tag würde kommen, an dem Bradley sich seines Mutes bemächtigen würde, um ihr einen Antrag zu machen. Die Zeit war jedenfalls reif dafür. So sehr Isabell sich auch den Hals verrenkte, von ihrem jetzigen Standpunkt aus, konnte sie nicht das Geringste erkennen, was sich innerhalb das Ladens abspielte. Dieser Zustand war einfach nicht auszuhalten, deshalb entschloss sie sich dazu, auf die andere Seite
überzusetzen. Gerade, als sie für ihr Vorhaben den nötigen Mut aufgebracht hatte, vernahm sie unerwartet ein leichtes Räuspern, welches ihre Gestalt augenblicklich zu Stein erstarren ließ. Mr Mulligan, der Besitzer des örtlichen Gasthofes, welcher seinen Hut galant zum Gruße in die Höhe hob, schritt an ihr vorbei. Verunsicherung überkam das Innere Isabells. Es wäre wirklich äußerst töricht von ihr, jenen Fehler zu begehen, den Anschein zu erwecken, Bradley Winston nachstellen zu wollen. So entschloss sie sich dafür, auf der Stelle zu verschwinden. Ganz in der Nähe, gleich hinter dem
großen Hügel, erstreckte sich das Anwesen Rose Fieldings, welches das schönste und einflussreichste Herrenhaus der Gegend beherbergte. Schon dutzendmal war dieses Haus bereits Isabells Ziel gewesen, doch wenn sie es besuchte, so übte es auf sie eine Faszination aus, die unbeschreiblich war. Als das Fräulein gerade im Begriff war, ihren Rock zu raffen, welcher bereits erheblich in Mitleidenschaft gezogen war, hörte sie hinter sich, nicht weit entfernt, das Schlagen von Pferdehufen. Eine Kutsche rollte heran. Sie gehörte Bridget Thompson, welche sich ebenfalls auf dem Weg zu Mrs Fielding befand.
Schon seit etlichen Jahren nahm die Besagte aus dem benachbartem Livingston mindestens zwei Mal die Woche den Weg nach Roschfield auf sich, um ihre engste Freundin Rose Fielding zu besuchen. Um wenigstens etwas von ihrer Kleidung vor dem umher spritzendem Schlamm, welchen die Kutsche aufwirbelte, zu schützen, sprang Isabell mit einem gewaltigen Satz zur Seite. Das Gefährt fuhr an ihr vorbei, bis es endlich, nur wenige Meter von ihr entfernt, zum Stillstand kam. Die Reisende steckte ihren Kopf zum Fenster heraus. Ihr großer Hut mit den stattlichen Federn dran, schien ihr dabei
im Wege zu sein. Die Trägerin war sichtlich bemüht, sich gegen jene Schwierigkeit zu behaupten. Sie tat es nicht gern, ihrer Kopfbedeckung etwas anzutun, doch da Isabell ihren Weg kreuzte, schien das vorerst zweitrangig zu sein. Miss Lankford hatte sich mittlerweile daran gewöhnt im Visier von Bridget Thompson zu stehen, sobald sie sich begegneten. Das Fräulein nahm es ihr nicht übel, dass jene stets und ständig irgendeine Sache zu bemängeln hatte. Was Isabell daraus machte, war schließlich ihre Angelegenheit. Sie räumte Mrs Thompson ein, dass sie mehr an Lebenserfahrung besaß und ihre Kritikpunkte einzig und allein ihrer
Jugend zuzuschreiben seien. Es lohnte nicht zu widersprechen, da sie schnell begriffen hatte, dass Widerstand zu nichts führte. Endlose Diskussionen waren oft das Resultat, welche sogar nach Tagen stets von neuem erwachten. „Isabell, was für eine Freude sie hier zu treffen. Möchten sie mich nicht ein Stück begleiten? Sie sind doch sicher auf dem Weg zu Mrs Fielding?“, lauteten prompt die einladenden Worte. Verzweiflung zeichnete sich auf Miss Lankfords Gesicht ab. Die breiige Masse, welche sich zu allem Unglück heimtückisch um ihre Schuhe wand, gab allen Grund zur Sorge. Mrs Thompson riss vor Entsetzen ihre
Augen auf. Sie kam nicht drumherum ihre Meinung kundzugeben: „Wie sie aussehen, mein Kind. Nicht mal die Farbe ihrer Schuhe kann man mehr erkennen. Bitte nehmen sie sich beim Einsteigen in acht!“, wurde sie ermahnt. Jener Anblick, welcher sich der Besitzerin des feinen Fortbewegungsmittels offenbarte, ließ in ihr erhebliche Zweifel aufkommen das Richtige, bezüglich des Zwischenstopps, unternommen zu haben. Auch Isabells gutgemeinte Bemühungen änderten nichts daran, dass Mrs Thompsons strenger Blick, von nun ab, auch weiterhin auf ihrer Gestalt ruhte. Mit einem heftigen Ruck ging die Fahrt
schließlich weiter.
„Zum Donnerwetter!“, schimpfte Bridget Thompson, welche unsanft zurück wippte und deren Hinterkopf ungewollt mit der Rückenlehne Bekanntschaft machte. „Unglaublich, was man als feine Frau der Gesellschaft ertragen muss“, wetterte sie. „Wenn wir nicht von dieser elenden Dienerschaft abhängig wären, so würde ich sie alle zum Teufel jagen.“ Solche derben Worte schickten sich wirklich nicht für eine Frau im besten Alter, dachte Isabell. Aber Mrs Thompson war wohl die einzige Dame weit und breit, der man dies nicht übel nahm, da man sie nicht anders kannte. Die weitere Fahrt entpuppte sich, durch
die miserablen, aufgeweichten Wege, als äußerst unkomfortabel. Mehrmals unternahm Bridget Thompson den Versuch eine vornehme Haltung einzunehmen, die ihr jedoch nur schwer gelang. Um von sich abzulenken, suchte sie nach einem geeigneten Gesprächsstoff, der sich alsbald einfand. „Wie geht es Alison? Ihr Schicksal ergreift mich immer wieder aufs Neue. Wenn ich nur daran denke, überkommt mich stets ein kalter Schauer“, meinte sie sichtlich betroffen. Isabell hielt für einen Moment inne. Ach Alison, dieses bemitleidenswerte Geschöpf. Sie hatte es besonders schwer getroffen. Beide Eltern waren bei einem
Brand ums Leben gekommen. Völlig allein und mittellos stand sie einst da. Zum Glück gab es das Haus der Lankfords, indem sie ein neues Leben beginnen konnte. Obwohl die Unterschiede zueinander erheblich waren, bauten Alison und Isabell eine schwesterliche Beziehung auf, welche sehr innig wurde. „Sie verbringt den ganzen Tag im Haus. Wenn sie einmal hinausgeht, dann verlässt sie niemals den Garten. Jeden Donnerstag bitte ich sie, mich zu Mrs Fielding zu begleiten. Aber ich sage ihnen, so sehr ich mich auch bemühe, jedes Mal weigert sie sich aufs
Heftigste.“ Bridget Thompson schüttelte verständnislos ihren Kopf. „Was soll nur aus dem armen Ding werden, frage ich mich. Sicherlich wird die Einsamkeit sie irgendwann dahinraffen.“
Isabell wusste genau, auf was ihre Begleiterin hinaus wollte. Sie kam nicht drumherum zu protestierten: „Jetzt übertreiben sie aber, Alison ist doch erst dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hat noch alle Zeit der Welt, sich nach einem geeigneten Ehemann umzusehen.“
Mrs Thompson lachte auf. Ihre Worte waren eindeutig: „Können sie mir bitte verraten, wie das zustande kommen
soll?“ Für den Augenblick gab sich Miss Lankford geschlagen, denn im Grunde genommen hatte ihr Gegenüber sogar recht, mit ihrer Befürchtung, denn Alison führte wahrlich ein abgeschiedenes Leben. Währenddessen Isabell plötzlich damit begann, über ihr eigenes Dasein nachzudenken, ließ es sich Bridget Thompson nicht nehmen jene Konversation weiterzuführen. Sie spitze ein wenig den Mund und meinte, nicht ohne Hintergedanken: „Wie steht es mit ihnen, Miss Lankford? Sicher liegen ihnen bereits alle Männerherzen Roschfields zu Füßen. Wann gedenken
sie in den Stand der Ehe zu treten?“ Ein Abwinken seitens Isabells hätte wohl genüge getragen, jedoch kam die Angesprochene nicht drumherum ihre eigene Meinung kundzugeben, die da lautete: „Oh, das wird sicher noch eine ganze Weile dauern, bis ich einen geeigneten Kandidaten gefunden habe, welcher es auf Dauer mit mir aushalten würde.“ Diese ironisch gemeinten Worte verfehlten ihren eigentlichen Sinn. Mrs Thompson wirkte plötzlich ziemlich abweisend. „Man sagt oft, Bescheidenheit sei der Dame Zier“, gab sie von sich. „Aber“, fuhr sie fort, „nicht immer kommt man
im Leben damit sehr weit. Natürlich müssen gewisse Regeln eingehalten werden, jedoch wage ich zu behaupten, wenn ich nicht manchmal, als junge Dame meinen Kopf durchgesetzt hätte, so säße ich heute nicht hier.“ In der besseren Gesellschaft von Livingston genossen Bridget Thompson und der ehrenwerte Mr William Thompson wahrhaftig ein überaus hohes Ansehen, was nicht selbstverständlich war, denn wie in den meisten Fällen spielten die finanziellen Verhältnisse bei der Eheschließung eine wichtige Rolle. Mr Thompson nannte immerhin schon zwei, der von der Familie erworbenen Baumwollfabriken, die außerhalb von
Livingston geradezu aus dem Boden schossen, sein Eigen. Bridget dagegen war in ihrer Jugend ein einfaches Mädchen, was in bescheidenen Verhältnissen lebte und immer vor dem einzigen Modegeschäft, was es in Roschfield gab, stehen blieb. Stundenlang starrte sie auf die Kleider der Auslage, bis sie sie, in Gedanken versunken, auf ihrem Leib spürte. Und jetzt, ja jetzt, war Bridget tatsächlich dort angekommen, wo sie immer hin wollte, in der Welt des Reichtums. Endlich neigte sich die kurze, aber anstrengende Fahrt ihrem Ende entgegen. Die Pferde stoppten.
„Diese Reise wird von mal zu mal beschwerlicher für mich. Vielleicht liegt es ja auch an der Tatsache, dass ich nicht jünger werde“, versuchte Bridget Thompson mit ziemlich verzerrtem Gesicht zu scherzen. Charles, der Diener, öffnete die Tür. Sein Kopf reichte fast bis zum Boden, als er den Damen seine Ehrfurcht kundgab. „Wo steckt nur dieses flatterhafte Frauenzimmer von Dienstmädchen, wenn man es mal brauch?“, rief Bridget mit lauter Stimme, die die Eingangshalle einnahm und in sich vibrieren ließ. Kurze Zeit später, fand sich die gesuchte ein. Mit einer energischen Geste wies
Mrs Thompson auf Isabells Schuhwerk. „So können wir auf keinen Fall Mrs Fielding unter die Augen treten!“, betonte sie unmissverständlich. Fanny verstand sofort, was zu tun war. Sie lief, wie vom Blitz gejagt, mit den schmutzigen Schuhen davon. Einige lange Minuten des Wartens vergingen. Eine gewisse Unruhe breitete sich aus. Isabell schien ihrer Begleiterin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, denn diese, welche im Augenblick nichts anders zu tun hatte, als sie genauestens ins Visier zu nehmen, ließ nicht mehr von ihr ab. Irgendetwas schien ihr auf der Seele zu liegen. Natürlich brauchte es auch nicht lange,
um aus dem Munde jener Besitzerin hervorzukriechen: „Roschfield ist ja bei weitem nicht mit Livingston zu vergleichen, das liegt wohl auf der Hand. Das sie, meine liebe Isabell, mit den Männern kein Glück haben, sei ihnen nicht als Vorwurf anzulasten. Die Kultiviertheit der jungen Herren, die es wertzuschätzen eine anständige Frau ihr Eigen zu nennen, ist in Roschfield auf der Strecke geblieben. Würden sie in Livington wohnen, so hätte man sicher längst ein Eheversprechen arrangiert.“ Genau im richtigen Moment tauchte Fanny wieder auf. In ihren Händen hielt sie die blank geputzten Schuhe. Sogleich bemühte sie sich um deren Besitzerin, als
wäre jene ihre Herrin höchstpersönlich. Isabell gab ihr zu verstehen, dass so ein Aufwand um ihre Person nicht nötig sei. „Aber Isabell!“, tadelte Mrs Thompson. „Immerhin wird Fanny dafür bezahlt, dass sie uns zur Hand geht.“ Was blieb der Gescholtenen anderes übrig, als das Dienstmädchen gewähren zu lassen, ihr die sauberen Schuhe über die, mit getrocknetem Schlamm durchzogenen Strümpfe zu ziehen. Zuhause besaß Miss Lankford niemanden der diese, eher komisch wirkende Tätigkeit für sie erledigte, denn dort war es selbstverständlich sich selbst anzukleiden. Wenn auch ihre Füße jetzt äußerlich mit
Reinheit umgeben waren, täuschte dies nicht über die Tatsache hinweg, dass das verschmutzte Kleid immer noch das ausstrahlte, was Mrs Thompson glaubte mit ihrer fülligen Gestalt vertuschen zu müssen. Die beiden Damen nahmen die große, erhabene Treppe, die hinauf in das obere Stockwerk führte. Ihnen voran Charles, welcher im Eiltempo hinauf hüpfte. „Hopp, hopp, wir haben keine Zeit zu verschenken“, spöttelte Bridget. Etwas außer Atem kündigte Charles den eingetroffenen Besuch bei Mrs Fielding an, welche sich gerade in einem hohen Sessel vor dem Kamin befand. Interessiert betrachtete sie ein paar
Zeichnungen, welche allesamt Alison Stewart zuzuschreiben waren. Isabell hatte sie bei ihrem letzten Besuch mitgebracht. „Sie kommen reichlich spät, meine Liebe. Hatten sie mir nicht beim letzten Mal Besserung gelobt?“, bekam das Fräulein prompt zu hören. Noch ehe sich Miss Lankford in der Lage sah, eine von den passenden Ausreden, welche sie immer für solche Fälle parat hielt, auszusprechen, ergriff ihre Begleiterin das Wort: „Es ist verblüffend, was dieses bemitleidenswerte Mädchen zustande bringt. Vielleicht sollte ich sie bitten, gegen Bezahlung versteht sich, ein
Gemälde von unserm Haus in Livingston anzufertigen. Aber die Gute zieht es ja vor, der Öffentlichkeit den Rücken zu kehren.“ Jene Worte brachten Rose Fielding auf eine absonderliche Idee. „Liebe Isabell, vielleicht wären sie sogar im Stande ein solches Kunstwerk selbst anzufertigen, wenn sie den nötigen Unterricht bekämen? Ich könnte einen Maler aus London kommen lassen.“ „Aber meine Beste!“, protestierte Mrs Thompson sogleich. „Du willst doch nicht allen ernstes einen fremden Gentleman in dein Haus einladen, den du noch nie zuvor gesehen hast? In London gibt es genug Schurken, welche sich des
öfteren als feine Gesellschaft ausgeben, aber nur eines im Sinn haben, alleinstehende ältere Damen um ihr Geld zu bringen. Du musst deinen Stand bedenken, welchen du in Roschfield ausübst“, fügte sie empört hinzu. „So ein Unsinn. Auf das Gerede der Leute habe ich noch nie gehört. Niemand kann und wird mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Sollen die sich doch ihre Mäuler zerreißen.“ Mit diesem Satz war das Thema für Rose Fielding abgeschlossen. Sie wollte nichts mehr davon hören. Isabell hatte sich unterdessen jener kleinen Auseinandersetzung, die die Damen doch lieber unter sich ausmachen
sollten, entzogen. Sie liebte den Ausblick aus den überaus mächtig wirkenden Fenstern, die immer etwas anderes für sie bereithielten, was es in der Ferne zu entdecken gab. Isabells Augen folgten dem schmalen Weg entlang, bis hin zu dem kleinen Wäldchen. Ein sanfter Hauch durchfuhr zärtlich dessen Wipfel und wiegte sie, wie von leiser Musik getragen, hin und her. Die Sonne lugte ein wenig hindurch. Und plötzlich stieg in ihr ein Gedanke auf, den sie sogleich in Worte fasste: „Vielleicht sollten wir einen Spaziergang machen. Sicher blühen hinten am Wäldchen schon die ersten
Schneeglöckchen.“ „Das ist eine hervorragende Idee“, platzte es sogleich aus Mrs Thompson heraus. „Es ist sicher von Vorteil gleich aufzubrechen“, riet Rose Fielding, um die herrlichen Sonnenstrahlen des Tages auszukosten, welche, wie es sich herausstellte, recht trügerisch waren. Ein kalter Wind suchte seinen Weg über Roschfields Wiesen. Am Wäldchen angekommen, erblickte Miss Lankford, nicht weit entfernt, tatsächlich die ersten Schneeglöckchen. Ihr Triumph war außerordentlich.
„Sehen sie nur!“, rief sie voller Tatendrang und begann damit ihren zu
Rock raffen. „Ich werde hinübergehen, um jeder von ihnen ein Sträußchen zu pflücken.“ Mrs Fieldings Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie traute dem Frieden nicht. Ihre mahnenden Worte: „Passen sie auf, meine Liebe, die Wiesen sind um diese Jahreszeit sehr heimtückisch!“, hielten die Davoneilende in keinster Weise von der Idee ab, sich der Herausforderung zu stellen. „Besonders für junge Damen in langen Röcken“, fügte Bridget Thompson hinzu. Alle guten Ratschläge halfen nichts, denn Isabell befand sich bereits mitten im Schlamassel. Ziemlich unbeholfen stampfte sie über die feuchte Wiese, bis
sie endlich das Ziel ihrer Begierde erreicht hatte. Die beiden zurückgebliebenen Damen beobachteten das Drama lieber aus sicherer Entfernung. Ihre Mienen wirkten angespannt und etwas verbissen. Wohlbehalten fand Miss Lankford endlich wieder auf den Weg zurück und überreichte voller Stolz, je ein kleines Bündel mit den herrlichsten Schneeglöckchen. Der Wind frischte auf, sodass die kleine Gruppe beschloss den Rückweg anzutreten. Schöner hätte der Tag nicht sein können, so glaubte Isabell, bis zu jenem Zeitpunkt, als Bridget Thompsons
wiedergefundene Neugier ins Spiel kam. „Ich habe gehört, dass George Winston sein Geschäft nicht mehr allein weiterführt. Sein Sohn soll ihm jetzt helfen. Wie war doch gleich sein Name?“ „Bradley!“, schoss es ungewollt über Miss Lankfords Lippen. Ein leuchtendes rot übernahm heimtückisch die Farbe ihres Gesichtes. „Wie interessant. Sind sie mit dem jungen Mann in irgendeiner Weise verbunden?“, entgegnete Bridget Thompson hellhörig. Mit kritischem Blick beäugte sie ihre Begleitung von der Seite. Jene aufgekommene Situation machte Isabell zutiefst nervös, dass sie
heftig nach Luft zu schnappen begann. „Wie kannst du nur!“, empörte sich Mrs Fielding. „Du weißt doch, dass sich Isabell und Bradley schon von Kindheitstagen her kennen und früher viel Zeit miteinander verbracht haben. Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn sie sich für ihn freut, dass er hier in der Stadt bleibt.“ Bridget Thompson zog ihre Stirn in Falten. „Du hast natürlich recht, liebe Freundin, aber bedenke, dass Miss Lankford immerhin schon ein Alter von achtzehn Jahren erreicht hat. Da liegt der Gedanke nahe, sich in nächster Zukunft nach einem geeignetem Ehegatten
umzusehen.“ „Da muss ich dir leider widersprechen. Ich finde nicht, dass sie schon bereit ist für die Ehe. Dieser Schritt will wohl überlegt sein.“ Da sich Isabell nicht mehr im Auge des Geschehens befand, sondern die Damen die Sache lieber unter sich ausmachten, begann sich ihre Unsicherheit langsam zu legen. Natürlich empfand sie etwas für Bradley Winston. Ob es nun Liebe war, das wusste sie selbst nicht. Dieses Gefühl, welches jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie ihm begegnete, ließ ihr das Herz stets bis zum Halse schlagen. War das vielleicht Liebe oder doch nur Schwärmerei? All das waren
Dinge, die sie verwirrten, mit denen sie noch nicht umgehen konnte. „Miss Lankford!“, holte sie die Stimme Bridget Thompsons in die Normalität des Lebens zurück. „Sehen sie nur, wie trostlos und traurig uns dieses große Haus entgegen starrt“, merkte sie an. Isabells Augen glitten entlang der Fassade, die an Glanz sicher eingebüßt hatte, jedoch immer noch eine gewisse Erhabenheit ausstrahlte. Damals, als Mr Fielding noch lebte, war das imposante Gebäude an Beliebtheit kaum zu übertreffen. Nach seinem Tode blieben die Empfänge aus. Nur noch wenige, aus der feinen Gesellschaft, zog es noch in jenes Haus, das mit der Zeit immer mehr
in Vergessenheit geriet. Bilder der Vergangenheit suchten Miss Lankford heim. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, dass sich ihre Eltern mit ihr, als sie noch klein war, an den Samstagen hinauf über den großen Hügel aufmachten, um Rose Fielding ein Stück von ihrer Trauer zu nehmen. Während sie auf dem Fußboden mit spielen beschäftigt war, ließ der Rest der Anwesenden sich von der Vergangenheit tragen. Diese gelegentlichen Treffen waren es letztendlich, welche Isabell dazu verhalfen das Pianoforte kennenzulernen, um sich dann jeden Donnerstag darauf zu probieren, was ihr eher schlecht als recht gelang.Wenn die
Verbindung zu Rose Fielding nicht so eng gewesen wäre, hätte es Vincent Lankford niemals geduldet, dass seine Tochter ganz allein, sprich ohne jegliche Begleitung, den wöchentlichen Fußmarsch auf sich nahm. Die Lankfords lebten, wie die meisten Einwohner Roschfields, in ausreichend finanziellen Verhältnissen. Niemand Geringerem hatten sie dies zu verdanken, als Mr Fielding, der seinerzeit Isabells Vater dazu riet, Anteile an einer Miene zu erwerben. Dieser glückliche Umstand veränderte so einiges. Leider verstarb der Gute dann vor reichlich zehn Jahren. Eines Morgens fand man den leblosen Körper in seinem Lieblingssessel vor
dem Kamin. Auf seinen Knien befand sich noch immer das Tagesblatt. Im ersten Moment lag die Vermutung nahe, dass ihn die vorherrschende Ruhe überwältigt haben musste. Allerdings wachte er aus diesem ewigen Schlaf nicht mehr auf. Doch ihres Ehemannes Ableben war nicht das Einzige, was Rose Fieldings Herz gebrochen hatte. Schon viele Jahre vor dem Tod ihres Gatten, verwies der Besagte seinen einzigen Sohn Aiden nach einer heftigen Auseinandersetzung des Hauses. Seit diesem Zeitpunkt hörte man nie wieder etwas über dessen Verbleib. Er galt als verschollen. In Roschfield ging das Gerücht um, er sei nach Übersee
ausgewandert. Aber das war noch nicht alles. Hinter vorgehaltener Hand zog mancher sogar seinen Tod in Betracht. Vielleicht war er mit einem Schiff untergegangen oder gar an einer ansteckenden Krankheit gestorben. Jedoch verloren sich die Gedanken im Laufe der Zeit und kaum einer in Roschfield sprach noch ein einziges Wort darüber. Rose Fielding dagegen, verblieb immer in der Hoffnung auf eine Rückkehr ihres geliebten Sohnes. Die Tage vergingen. Das Wetter wurde schlechter. Die Wolken brachten kräftige Stürme mit sich. Dann folgte ewiger Regen, der kein Ende nehmen wollte. Die
Wege, welche nun unpassierbar waren, engten Roschfield ein. Dieses triste grau ließ Isabell in einen gewisse Trübsinn verfallen. Denn im Gegensatz zu Alison, welche sowieso das Haus bevorzugte, drängte es sie hinaus in die Natur. Das Gemälde, was Miss Lankford versuchte anzufertigen, glich ihrer Stimmung. In ihrer Verzweiflung legte sie den Pinsel beiseite. Ihr Blick fiel auf Alison. „Diese Malerei scheint mir einfach nicht zu liegen. Du dagegen bist eine wahre Künstlerin. Mein Talent liegt wohl eher im Verborgenem. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich kann von allem etwas, aber nie genug.“
Auch wenn Alison Stewart ein Lächeln
auf ihre Lippen zauberte, so blieben ihre Augen dennoch voller Traurigkeit. Die Narben, welche sie für immer daran erinnerten, anders zu sein, waren selbst in ihrer Seele eingebrannt. Sie trug ihre Kleider stets hochgeschlossen. Ihre Angst, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, überschattete ihr Dasein wie ein grauer Schleier, welcher sich unbarmherzig über sie gelegt hatte und den sie einfach nicht abschütteln konnte. Ein einziges Mal nur hatte Isabell jene in sich verzogene Haut wahrgenommen. Alison, welche sich in dem Glauben befand, unbeobachtet zu sein, bemerkte nicht, dass ihre Stiefschwester drauf und
dran war, in diesem bestimmten Moment, das Zimmer zu betreten. Erschrocken über den unerwarteten Anblick verkroch sich Miss Lankford in ihrem Zimmer und weinte bittere Tränen.