Kapitel 1
„Cero, warte auf mich!“, schrie ihm das blondhaarige Mädchen nach, das sichtlich Mühe hatte dem Jungen zu folgen.
Sie hatten vor zehn Minuten den sicheren Bereich ihres Dorfer verlassen und irrten nun durch die dicht stehenden Bäume des angrenzenden Waldes umher. Ihr war nicht wohl bei der Sache, denn auch wenn sie schon des Öfteren die Grenzen überschritten hatten, waren sie nicht weiter als ein paar Meter gelaufen. Dieser Wald war geheimnisvoll und gefährlich. Die Menschen mieden es ihn zu betreten. Man hatte das Gefühl, dass die Bäume Augen hatten und sie einen ständig beobachteten. Wahrscheinlich
gerade deshalb war diese Umgebung so ein Magnet für Cero und er wurde von irgendetwas getrieben immer weiter hineinzugehen.
„Du musst mir nicht immer folgen Cara“, war die Antwort ihres Bruders, der gerade einen Weg über einen immens großen umgefallenen Baumstamm suchte.
„Wer soll denn sonst Hilfe holen, wenn dir irgendetwas passiert?“
„Es ist nur ein Wald!“
Er hüpfte auf die andere Seite des querstehenden Baumes und war jetzt aus Caras Sichtfeld verschwunden. Schnell machte sie sich auch an dem riesigen Stamm zu schaffen, um ihren Bruder nicht zu verlieren. Sie wusste, dass er das Risiko liebte und dass
er ein Abenteurer war. Nicht das erste Mal stürzte er sich in gefährliche Situationen oder erkundete aus freier Hand die Gegend. Seine Schwester hatte es sich irgendwie als Aufgabe gemacht ihn vor Fehlern zu beschützen und ihm aber trotzdem genügend Freiraum für seine Entdeckungen zu geben. Vielleicht auch deshalb weil sie selbst immer gern nach Abenteuern suchte.
Mühevoll kletterte sie am Baum hoch. Sie war nicht so geschickt wie ihr Bruder, auch wenn sie älter war als er. Rücklings versuchte sie auf der anderen Seite wieder hinunter zukommen und setzte den Fuß auf einen angebrochenen Ast. Anscheinend hatte auch Cero diesen benutzt. Entschlossen trat sie kräftig darauf, wenn er ihren Bruder gehalten
hatte, dann würde er auch sie halten. Falsch gedacht.
Unvermutet war ein Knacksen zu hören, der Zweig brach und sie fiel im hohen Bogen Richtung Erde. Cara machte sich schon auf einen schmerzhaften Fall auf ihrem Hintern gefasst, doch bevor sie am Boden aufkam, fingen sie zwei Arme auf.
„Wenn -ich- Hilfe brauchen sollte?“, fragte Cero belustigend nach, als er seine Schwester wieder auf ihre Füße stellte.
Cara lachte: „Du hättest auch auf mich warten können.“
„Ich werde dich sowieso nicht los oder?“, wollte Cero genervt wissen und bahnte sich den Weg weiter.
„Niemals im Leben. Was soll ich sonst alleine
daheim machen?“
Die Blondine schloss sich ihrem Bruder sofort an. Nicht noch einmal würde sie sich so weit zurück fallen lassen. Eine Antwort blieb ihr verwehrt. Zusammen streunten sie weiter durch die immer dichter werdenden Bäume. Mehr und mehr verschlossen sich die Zweige zu kräftigen Wänden, die kein durchdringen zu ließen und so mussten die beiden Geschwister immer größere Umwege einschlagen, um weiter in das Herz des Waldes zu kommen. Cara kam es vor als ob sie schon Stunden unterwegs sein mussten und langsam machte sich auch ihr Magen bemerkbar. Angst hatte sie keine, denn das Leben war nicht immer gut zu ihnen gewesen und sie mussten schon durch schlimmere Zeiten gehen, als sie im
Moment hatten.
„Hast du eigentlich ein Ziel?“, erkundigte sie sich, als sie wieder einmal über riesige Wurzeln steigen mussten.
„Nein“, sagte Cero nur knapp.
„Na toll, also machen wir das alles nur umsonst.“
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, dennoch drehte sich ihr Bruder abrupt zu ihr um und sah sie stichgerade an. Sie wusste, dass er nörgeln kein bisschen aushielt und anscheinend war ihm ihre Aussage zuwider gewesen. Manchmal bekam sie ein ungutes Gefühl, wenn er sie so ansah.
„Du wolltest unbedingt mit!“, fauchte er sie direkt an.
„Ich dachte, wenn du schon in diesen Wald
verschwindest, dann hast du wenigstens einen Plan!“, schnaubte Cara zurück.
Sie merkte, dass er schon zu reden anfangen wollte, doch im selben Moment überlegte er es sich noch einmal anders und bahnte sich den Weg durch ein Gestrüpp weiter. Sie folgte ihm, ohne ihn noch einmal anzureden. Er sagte nie viel und irgendwie machte es Cara auch Sorgen. Er teilte keine Gefühle mit ihr. Er sagte nie wo er hinging und irgendwie wurde er immer mehr geheimnisvoller. Manchmal glaubte sie ihren Bruder gar nicht mehr zu kennen. Gedankenversunken merkte das Mädchen gar nicht, dass Cero plötzlich stehen geblieben war.
„Pass auf!“
„Was?“, fragte sie und stieß im gleichen
Moment mit einer Mauer zusammen, „Aua!“
Unbeholfen stolperte sie ein paar Schritte zurück, um das ins Auge zu fassen, was ihr gerade den Schmerz verursacht hatte. Es war eine riesige Wand, die aus Steinen erbaut wurde. Teils war sie mit Efeu überwuchert und sah fast unüberwindbar aus.
„Komm machen wir eine Räuberleiter und schauen was dahinter ist“, sprudelte es voller Tatendrang aus Cara heraus, doch ihr Bruder stoppte ihre Euphorie.
„Nein, Schwester, wir gehen zurück“, befahl er.
„Wieso? Wir haben endlich einmal etwas gefunden.“
Cero nickte mit einem Lächeln: „Da hast du Recht, aber wir sind schon so lange aus und es muss bald dunkel werden. Ich kenne jetzt
den Weg hierher, also wird es morgen schneller gehen hierher zu kommen.“
„Übernachten wir einfach hier?“, war Caras Idee und bettelte ihren Bruder regelrecht an.
Auch wenn sie wusste, dass ihr Bauch etwas Nahrhaftes brauchte, wollte sie die Gelegenheit nicht auf den nächsten Tag verschieben. Voller Freude starrte sie wieder auf die Mauer. Cero nahm sie jedoch bei der Hand und drehte sie zum gehen um. Krampfhaft wehrte sie sich gegen seinen Griff.
„Was ist los mit dir? Wir haben schon öfters in einem Wald übernachtet?“, fragte sie aufgebracht.
„Aber nicht in diesem! Irgendetwas sagt mir, dass wir die Nacht hier nicht überleben werden“, antwortete er nun endlich auf ihre
Frage.
Cara zog die Augenbrauen zusammen. So kannte sie ihren Bruder nur selten, aber wenn er diesen Blick auf dem Gesicht hatte, dann war da etwas Wahres dran. Während er noch immer an ihr zerrte und sie wieder durch das Gebüsch schickte, blickte sie noch ein letztes Mal auf die pompöse Mauer, die wie das Portal in eine andere Welt wirkte.