Besuch
**Diese Geschichte
ist meinen ungeborenen Kindern gewidmet.
Sie ist zum Andenken an meinen früh verstorbenen Bruder Hartmut.**
Gabriele Busch
Als ES passierte, war Maria am Geschirr spülen.
Den Tag zuvor hatte sie keine Zeit gefunden, Ordnung in der Küche zu schaffen. Unterleibsschmerzen hatten sie geplagt und sie war direkt nach ihrer Arbeit im Altenpflegeheim Einkaufen gefahren und hatte dann ihren Sohn Matthias von der Ganztagsschule abgeholt. Als sie dann Zuhause angekommen waren, war es schon höchste Zeit gewesen, das Abendessen zu kochen, damit die Familie gemeinsam Essen konnte, sobald ihr Mann vom Büro kam. Stefan kam mit schönen Neuigkeiten von der Arbeit nach Hause, welche er dann freudestrahlend während des Abendessens
berichtete: Sein Kollege Hartmut würde mit Frau und Kind am ersten Weihnachtsfeiertag zu Besuch kommen. Über diese Nachricht freuten sich alle, ganz besonders Matthias; denn er spielte gerne mit Michael, dem Sohn von Hartmut und Brigitte. Überhaupt war die ganze Familie sehr liebenswürdig.
Während Marias Hände im Spülwasser sorgfältig mit dem Schwamm über das Besteck glitt, beobachtete sie durch das Küchenfenster die tanzenden kleinen Schneeflocken, welche vom stürmischen Wind durcheinander gewirbelt wurden. Der große Ahornbaum, der das Haus von der Straße abschirmte, stand nackt da und ragte mächtig in den dunkler werdenden Himmel.
Seine Äste beugten sich dem brausenden Sturm. Maria spürte wieder diesen ziehenden Schmerz im Unterbauch, wischte sich die Hände am Trockentuch ab, um sich die schmerzende Stelle zu reiben. „Eigenartig“, dachte Maria und widmete sich dann wieder dem Spülwasser. Der Ausblick aus dem Fenster präsentierte Maria, dass es nun von Minute zu Minute dunkler und stürmische wurde. Sie genoss ihn und freute sich, im gemütlichen, warmen Haus zu sein und auch ihren Mann und den Sohn sicher und beschützt zu wissen.
Maria sah dem angekündigten Besuch von Hartmut und seiner Familie mit Freude entgegen, denn ihre Anwesenheit würde ihr
Weihnachtsfest bereichern! Immer, wenn typische Familienfeste anstanden, bedauerte Maria es ganz besonders, dass ihre eigene Familie, die sie über alles liebte, nicht um einige Kinder reicher war. Sie selbst kam aus einer großen Familie, hatte ihre Großeltern als Kind erlebt und ihre Eltern sehr geliebt. Sie war das zweite Kind der Eltern und hatte noch vier Geschwister. Leider waren alle ihre Geschwister sehr weit weg gezogen, teilweise sogar ins Ausland, und so hatten sie sich seit dem Tod ihrer Eltern vor drei Jahren kaum noch gesehen. Wer wusste schon, wann die Entfernungen und die Verpflichtungen der Geschwister ein erneutes Familientreffen zulassen würden? Dies stimmte Maria traurig; machte es ihr bewusst, dass sie mindestens
für drei Kinder mütterliche Liebe in sich trug. So sehr gerne sie sich auch um ihren geliebten Mann und den Sohnemann und um die alten Menschen im Heim kümmerte, sie würde gerne noch mehr Liebe verteilen.
Nachdem Maria die letzten Teller gespült und zum Trocknen neben die Tassen und Gläser auf die Ablage gestapelt hatte, schweifte ihr Blick wieder hinaus auf den großen mächtigen Ahornbaum vor dem Haus. Inzwischen war es gänzlich dunkel geworden und man konnte die als Weihnachtsschmuck aufgehängten Lichterketten an den Häusern auf der gegenüber liegenden Straßenseite erkennen. Die hellen Lichterketten und leuchtenden Weihnachtsdekorationen in den
Fenstern, das waren Dinge, welche Maria an dieser Jahreszeit besonders mochte. Die kleinen Lämpchen strahlten wie kleine Sterne. Inzwischen war der Wind draußen so stürmisch, dass die Äste des Baumes auf und ab wippten. Das Strahlen der einzelnen Lichter von den Häusern der anderen Straßenseite schienen zu flackern. Maria war derart fasziniert von diesem Anblick, dass sie ihre Hände auf ihr Herz legte und mit großer Aufmerksamkeit zuschaute, wie der Wind sein Spiel mit den Ästen trieb. Die vielen kleinen Lichter tanzten; mal waren lange helle Strahlen zu sehen, und dann waren sie wie ausgelöscht.
Maria drehte sich ein wenig, neigte den Kopf
leicht zur Seite und legte ihre Hände intuitiv auf ihren schmerzenden Unterleib. Sie beobachtete gespannt das Naturschauspiel von Licht und Dunkel, als zwei Lichtpunkte, kleinen Sternen gleich, ihre Aufmerksamkeit erregte. Es schien ihr, als wenn diese zwei Lichtpunkte gar nicht zur Lichterkette gehörten, denn sie flackerten nicht im Schatten der im Wind wogenden Äste. Sondern sie strahlten beständig helles Licht ab und schienen näher zu kommen. Maria betrachtete gebannt die zwei leuchtenden Lichtpunkte, welche immer deutlicher und größer wurden. Von ihnen ging ein seltsames intensives Strahlen aus. Maria konnte ihre Augen nicht abwenden und fragte sich, was diese besonderen Lichter für eine Bedeutung
haben könnten. Da waren die leuchtenden Sternchen auch schon durch das Küchenfenster herein geflogen und bewegten sich langsam vor Marias Augen. Sie vernahm zierliche leise Stimmchen, welche ihr „Hallo“ sagten. Es waren friedliche Stimmen, in der Tonlage wie die eines müden, aber zufriedenen Kindes, wenn es glücklich mit dem Lieblingsteddy ins Bett fällt. Nochmal hörte sie diese Stimmchen: „Hallo Mama.“ Maria riss ihre Augen auf, starrte die zwei wie Sterne funkelnden Lichtpunkte an und fragte sich, ob sie wirklich richtig hörte? Woher kamen diese Stimmchen? Hörte sie mit den Ohren? Oder hörte sie in ihrem
Inneren?
Während Maria verwundert und erschrocken so vor der Spüle unterhalb des Fensters stand, beobachtete sie, wie die hellen Sternchen sachte ganz nah an ihren Wangen entlang schwebten. Sie spürte rechts und links jeweils einen zärtlichen Hauch, wie Küsschen. „Liebe Mama, wir sind gekommen, um dir danke zu sagen. Danke, dass du uns in Liebe empfangen hast und bereit warst, uns menschliches Leben zu schenken!“ Wieder ging ein zärtlicher Hauch über Marias Gesicht. Trotz der Unglaublichkeit dessen, was ihr gerade geschah, fühlte Maria eine unumstößliche Sicherheit, dass alles vollkommen gut und richtig war, was ihr hier
passierte. Sie hatte keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte, sie konnte nur geschehen lassen. Maria fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Es schien ihre Kehle zuzuschnüren und Tränen rollten über ihre Wangen, tropften ihr von der Nase. Die zwei glitzernden Sternchen legten sich ganz behutsam übereinander auf ihren Brustkorb und ließen Marias Herz höher schlagen. Unbeschreiblicher Frieden und ausstrahlende Wärme erfüllten Marias gesamten Körper.
„Mama, liebste Mama, wir möchten so gerne, dass du glücklich bist. Du sollst wissen, dass es uns gut geht!“ Maria empfand unendlich tiefe Liebe. Ein wohltuender Schauer
durchflutete ihren ganzen Körper und sie bekam Gänsehaut. Sie schaute auf ihre Brust herunter und sah, wie die beiden Sternchen an Leuchtkraft zugenommen hatten und nun, sich achtsam drehend, auf ihren Bauch fallen ließen. Während die leuchtenden Sternchen noch ein wenig tiefer rutschten, öffnete Maria ihre Hände in Höhe der Hüften und empfing die Sternchen mit ihren Händen. Da lagen sie nun, weich und warm und strahlend, jedes in einer geöffneten Hand. Wie wunderhübsch sie aussahen. Maria empfand eine hohe Woge mütterlicher Liebe für diese Seelchen.
„Mama, bitte sei nicht mehr traurig! Bitte sei nicht mehr enttäuscht, dass ich nicht am
Leben geblieben bin! Ich wollte als dein ältester Sohn Jonathan deine Mutterliebe im Bauch erleben. Jedoch hatte ich versprochen, danach wieder zurück in den Himmel zu gehen. Aber meine Liebe ist bei dir, liebste Mama!“ Maria vernahm diese liebliche Kinderstimme ganz genau, Wort für Wort. Sie war sich nur nicht sicher, ob von außen oder von innen. Aber ganz eindeutig spürte sie das leichte Kribbeln in der rechten Hand, es fühlte sich schon fast wie ein Kitzeln an. Dieses Kribbeln schien auch ihren Körper zu umgeben. Während Maria so auf die leuchtenden Sternchen in ihren Händen schaute, spürte sie, dass ihr Unterleib nicht mehr schmerzte, sondern nur noch ganz leicht und sachte kribbelte. So, als seien
kleine Glitzerfunken hinein gesprungen und tanzten dort in der Gebärmutter einen Reigen. „Mama, bitte sei nicht mehr traurig! Bitte sei glücklich über das Band der Liebe, welche uns verbindet! Als jüngste Tochter Julia wollte ich durch deinen Schoss zu dir kommen, um dir zu helfen. Jedoch hatte ich versprochen, danach wieder zurück in den Himmel zu gehen.“ Maria fühlte tiefe Liebe und Zufriedenheit in diesem dünnen, zärtlichen Kinderstimmchen schwingen. Tränen der Rührung tropften vom Gesicht und fielen auf ihre Brust, ein paar Tropfen landeten auf ihren Händen. Das sachte Kribbeln in ihrem Unterleib verwandelte sich in ein sanftes
Schnurren.
Maria fühlte sich so ganz anders, als sie zusehen konnte, wie die leuchtenden Sternchen sich aus ihren Händen erhoben und nach oben schwebten. Wieder ein zärtlicher Hauch an ihren Wangen. Dann tänzelten die Sternchen mit ihrem stetigen Strahlen vor ihren Augen hin und her. Sie sah staunend zu, wie die sternenförmigen Lichtpunkte kleiner zu werden schienen, als sie durch das Glas des Küchenfensters schwebten und ihren Rückweg anzutreten schienen. Maria schaute fasziniert zu, wie diese außergewöhnlichen Sternchenlichter in Richtung Ahornbaum schwebten und dort an einem großen dunklen Ast verweilten. „Mama,
Mama, du brauchst nicht mehr traurig sein! Die Liebe verbindet uns, wir sind immer bei dir! Hänge hier eine Laterne an den Ast des Baumes. Und wenn du dann eine brennende Kerze hinein stellst, kannst du uns immer wieder sehen!“ Maria konnte die zarten Kinderstimmchen immer noch vernehmen, trotz der Entfernung. Sie zwinkerte mit ihren Augen und rieb sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht. Maria holte tief Luft und konnte in Gedanken bereits die Laterne im Baum hängen sehen, direkt neben den leuchtenden Lichtpunkten, welche mit ihren Strahlen zu winken schienen. „Mama, Mama, du brauchst keine Schmerzen mehr haben! Alles ist gut, so wie es ist. Wir helfen dir. Nimm zwei Steine und vergrabe sie unter dem
Baum, damit die schmerzende Last deiner Traurigkeit in den Boden verschwindet und du wieder frei und glücklich bist. Wir haben dich so unendlich lieb!“ Maria sah, wie die Strahlen flackerten. Leuchtende Lichtpunkte winkten ihr aus dem kahlen dunklen Ahornbaum zu.
„Mama, wann bist du endlich fertig mit dem Spülen??“ Matthias stürmte in die Küche und warf sich, die Arme um Marias Hüften werfend, vor den Bauch seiner Mutter. „Wir wollen doch noch den Weihnachtsbaum schmücken! Ich habe schon mit Papa den Karton vom Speicher geholt, und du hast mir versprochen, dass wir ihn heute noch schmücken!!“ rief der Junge entrüstet aus.
Maria legte ihre Arme behutsam um ihren Sohn und dann drückte sie ihn so derart fest an ihre Brust, dass ihm fast die Luft wegblieb. „Matthias, mein Schatz, ich bin jetzt fertig mit dem Spülen. Mein Süßer, wir können sofort loslegen und den Tannenbaum mit all unseren schönen Sachen schmücken. Komm mein Großer, wir gehen jetzt zusammen den Baum fein machen!“ Während Maria ihm einen fetten dicken lieben Kuss auf die Stirn drückte, löste sie sich aus der Umarmung und warf dem Ahornbaum vor dem Küchenfenster im Hinausgehen einen Gruß zu…