Titel
Beitrag zum FORUMBATTLE 39
Thema: BEGEGNUNGEN DER BESONDEREN AR
Vorgegebene Wörter (alle verwendet):
Bilderrahmen
umgekehrt
Luftballon
flatterhaft
klebrig
Netz
Rand
Bucht
Wucherung
zurücklassen
Härchen
Schimmer
Hinter dem Horizont
Die letzten Strahlen des Tages spendend, tauchte die Sonne hinter die vollkommen ebene Linie des Horizonts. Das Wasser färbte sich rot und immer röter, als ob die riesige Sonnenkugel sich darin auflösen und langsam zergehen würde. In diesen Stunden glich das Meer einer Wüste aus Sandwellen und fließenden Dünen. Eine schwache Brise blies Salzkörner zur Küste. Die Luft roch nach Leben und endlosem Sommer.
Die Bucht lag still.
Er saß auf dem Steg und ließ seine Beine baumeln. Irgendwie schien dieser Abend magisch. Ob der Ouzo den Zauber des Vergessens in ihm auslöste? Er war ein
geübter Trinker und kannte sein Maß, aber heute überließ er sich dem Rausch. Wolken verhießen ein aufkommendes Gewitter, das niemand mehr aufhalten konnte und doch schien es ihm, als hätte er die Macht dazu, Zeus gleich, den Lauf der Blitzes zu bestimmen.
Das Volk hatte ihn gewählt. Er sollte es im Rat der Götter vertreten. Zwischen all den verhassten, machtgierigen Halbgöttern, in Anzug, mit Krawatten um ihre Hälse, Strick und Überlegenheit zugleich. Er passte nicht in den Bilderrahmen dieser Politiker, war kein Paragraphenreiter und Exekutive-Fetischist, wie sie zu Hunderten ihre Triebe in den obersten Riegen der Macht auslebten, sich in Debatten um endlose Nichtigkeiten
aufrieben und bis zur Ekstase mit heißer Luft benetzen. Klebrig waren ihre Lügen, leer ihre Augen. Sie spulten Reden ab, die man für sie schrieb. Parteitreu, eigensinnig im Subtext und immer echauffiert. Wenn sie regierten, lobten sie ihre Taten, waren sie hingegen in der Opposition, missbilligten sie die Missetaten der Regierung, hoben die Wucherungen ihrer Machenschaften ans Licht, überspitzen Banalitäten und forderten Konsequenzen aus jedem falschen Atemzug.
Er war es leid.
Diese Abende der Ruhe waren das Einzige, worauf er sich noch freuen konnte. Wenn er mit seinem Boot aufs Meer rausfuhr und den ganzen Tag nichts als Möwen und den Wellengang hörte. Wenn seine Netze durch
das tiefe Blau des Wassers glitten und ab und an etwas Essbares auf das Deck einluden. Aber heute waren sie leer geblieben. Kein einziger Fisch hatte sich zwischen die Maschen des Todes verirrt. Er lachte. Es war pure Ironie, ging es doch seinem Volk genauso. Egal, wie man es betrachtete. Sah man sie als Fischer, so waren ihre Netze leer. Die Menschen hatten nichts zu essen, vor den Krankenhäusern bildeten sich Schlangen und die Arbeitslosenzahlen schossen in die Höhe. Sah man seine Mitbürger dagegen als Fische, so gingen sie der scheinbaren Europäischen Gemeinschaft gnadenlos ins Netz. Ohne es zu ahnen, machten sie sich schuldig und büßten nun für die Fehler der
großen Banken. Egal, wie man es betrachtete – man verlor mehr als nur Geld.
Heute ließ er die Angel stehen und wartete, bis die Nacht sie verschluckte. Hier am Ufer gab es kaum Fische und doch hoffte er auf ein Wunder. Damals, als sein Vater ihn das erste Mal zum Meer brachte und ihm zeigte, wie man fischt, hatten sie genau an dieser Stelle einen Fisch gefangen. Er wusste noch genau, wie sich die kleinen Härchen auf seinem Rücken in Gänsehaut erregt aufrichteten, als sein Vater den Fang ans Land zog. Der Fisch kam ihm total riesig vor. Wenn er heute daran dachte, lachte er immer innerlich; wie mickrig diese Sprotte doch war. Sein Vater ließ sie für ein paar Sekunden am Haken zappeln, befreite sie
dann, um sie darauf wieder ins Wasser zurückzulassen. „Man sollte die Kleinen nie behalten. Sie wachsen noch, und wenn sie groß sind, kann man sie dann fangen. Es ist immer so im Leben: Auf den Kleinen und Schwachen wird alles Unheil dieser Welt abgeladen, wo sie doch in Wirklichkeit nichts dafürkönnen.“
Seit diesem Tag, damals mit seinem Vater, hatte kaum ein Fisch angebissen. Vielleicht lag es daran, dass er nur noch selten zu dieser Stelle kam. Sein Beruf ließ ihm wenig Freizeit und er wusste nicht mehr genau, wann er das letzte Mal Zeit für sich hatte. Es schien, dass die ganze Welt auf seinen Schultern lastete. Atlas gleich trug er sie und schritt langsam voran. War da nicht eine
Schildkröte, die ihm die Last abnehmen konnte? Ach, diese Märchen. In Büchern ist alles so einfach und schön.
Der letzte Schimmer der Sonne kroch unter den Horizont, doch er wollte nicht gehen. Die Nacht würde bald ihre dunkle Decke vollkommen entfaltet haben, unter der nur noch Laternen als kleine Leuchttürme den Weg weisen. Noch fünf Minuten, dachte er, dann muss ich einpacken. Fünf Minuten, wie viel und doch wenig diese Zeitspanne bedeutet. In fünf Minuten konnten sich Schicksale entscheiden, so leicht wie ein Luftballon fliegt, konnten sich Lebensgrundlagen auflösen, Jahrzehnte harter Arbeit wie ein schlechter Witz im Schweigen eines unbarmherzigen Publikums
verhallen. Da bog sich seine Angel plötzlich, wippte vor und zurück. Er sprang auf und schnappte nach ihr, zog und drehte das Rädchen, um die Angelschnur einzuholen. Ein dunkler Schatten wand und währte sich am Haken. Flatterhaft schwang er durch die Nachtluft, als ob er zu fliegen versuchte. Doch dann gab er auf und hing nur noch schlaff an der Schnur.
Er war überrascht, dass seine Beute sich so schnell ergab. Normalerweise rangen und kämpften die Fische bis zum bitteren Schluss und ließen nicht locker, bis der qualvolle Tod sie ereilt hatte. Er holte den Fisch näher, und als er unmittelbar vor seiner Hand war, sprach dieser zu ihm: „Du hast mich gefangen und es ist dein gutes Recht mich zu
töten. Aber ich biete dir etwas an, um mein kleines Leben zu retten. Verschonst du mich und lässt mich wieder frei, erfülle ich dir drei Wünsche. Du kannst dir wünschen, was immer dein Herz begehrt, Reichtümer, Frauen, Macht. Ich erfülle alles, wonach es dich gelüstet.“
Er ließ den Fisch ausreden, allein aus dem Grund, da ihm die Worte fehlten. Es war in der Tat ein sprechender Fisch. Und allen gängigen Klischees nach schimmerte er rotgolden im Laternenlicht. Wie im Märchen.
„Na gut“, sagte er, „ich lasse dich frei und du erfüllst mir drei Wünsche.“
Falls es ein Traum war, lohnte es sich nicht, den Fisch danach zu fragen. Und falls das alles echt war, half ihm fragen umgekehrt
auch nicht mehr. Versteckte Kameras waren auch nirgends zu sehen.
„Ich wünsche mir eine Flasche Ouzo, heute Nacht einen schönen Traum und nie wieder Stau auf dem Weg zur Arbeit.“
Der Fisch wunderte sich: „Willst du denn kein Gold oder Diamanten, Macht oder wunderschöne Frauen?“
„Nein, ich brauche das nicht, das macht mich nicht glücklich.“
„Willst du denn wenigsten genug Geld, um die Schulden deines Landes zu begleichen?“, fragte der Fisch.
„Nein, das ist auch nicht nötig. Selbst wenn wir alle Schulden bezahlten, würde es nichts bringen. Es ist ein Fass ohne Boden und je mehr man hinein stopft, umso schlimmer wird
es. Und es braucht keine Wunder, damit sich etwas ändert. Es ist das System, in dem wir leben und je schneller man es kapiert, umso einfach wird es, damit zu leben.“
„Deinen Wünschen nach zu urteilen, willst du nichts daran ändern“, sagte der Fisch.
„Nein, ich will und kann nichts daran ändern. Das ist nicht die Aufgabe meiner Generation. Ich ändere, was ich ändern kann und akzeptiere, was sich nicht ändern lässt. Dabei hilft der Ouzo ganz gut. Und staufreies Fahren ist auch was Feines, nicht?“
„Deine Wünsche sollen dir gegönnt sein“, sprach der Fisch und eine Ouzoflasche erschien neben ihnen.
Er ließ den Fisch frei, packte seine Angelausrüstung ein und setzte sich noch
einmal an den Rand der Bucht, um ein letztes Gläschen Ouzo zu genießen.
Heute würde er schön träumen. Das wusste er.