Karl und Margrit
Randbeitrag zum Forumsbattle 39 zum Thema:
EINE BEGEGNUNG DER BESONDEREN ART
Wortvorgaben: Bilderrahmen, umgekehrt, Luftballon, flatterhaft, klebrig, Netz, Rand, Bucht, Wucherung, zurücklassen, Härchen, Schimmer
Es muss Herzen geben, welche die Tiefe unseres Wesens kennen und auf uns schwören,
selbst wenn die ganze Welt uns verlässt.
(Karl Ferdinand Gutzkow)
Text und Bild: MerleSchreiber 4/2015
Er hatte keinen Schimmer, wo und wie lange er seit dem frühen Morgen umher geirrt war. Auf alle Fälle zitterte er am ganzen Körper, als er sich auf einer Bank am Rande der Parkbucht vor dem Einkaufsmarkt niederließ. Seine tränenden Augen suchten ruhelos umher. Aber was suchten sie? Er mühte sich, sich zu konzentrieren, doch seine Gedanken ließen sich nicht einfangen, wanderten flatterhaft hin und her und machten ihm Angst. Mit einer Hand fasste er sich an den Kopf, befühlte die klebrige Wunde, die er sich bei dem Sturz vor ein paar Stunden beim Überqueren der Königinnenstraße zugezogen hatte. Die Wucherung
wurde immer größer und machte ihm nun schon sehr zu schaffen.
Erbärmlich, sein Zustand.
Das dachte sich auch die junge Frau, die geradewegs auf die Bank zuging. Am liebsten wäre sie umgekehrt, als sie die schmutzige und löcherige Kleidung des alten Mannes wahrnahm, doch die Last des vollbepackten Einkaufsnetzes drohte ihr das Handgelenk abzuschnüren. Sie musste das Gewicht kurz auf der Sitzfläche der Bank abstellen. Während sie das tat, konnte sie nicht umhin, neben dem heruntergekommenen Äußeren auch die Hilflosigkeit des Alten wahrzunehmen. Armselig, dachte sie. Mein Gott, was für ein armseliger
Anblick! Sie spürte, wie sich die Härchen an ihren Unterarmen aufrichteten, als sie so nah bei ihm stand. Ich sollte ihn fragen, ob er Hunger hat, durchfuhr es sie. Ich könnte ihm eine der soeben gekauften Kekspackungen anbieten. Und die alte Decke, die sie im Kofferraum ihres Autos hatte, die könnte sie ihm auch zurücklassen. Oder war es hilfreicher, ihm ein paar Euros zuzustecken? Sicher war er völlig mittellos.
Sie kramte ihre Geldbörse hervor und hielt ihm einen 5.-- Euro Schein hin.
"Hier, nehmen sie das!"
Er sah sie verständnislos an. Dann schüttelte er den Kopf.
"Nein, das brauche ich nicht", wehrte er mit Nachdruck ab.
Sie versuchte die Enttäuschung dieser Zurückweisung zu unterdrücken, während sie die Kekspackung aus dem Netz holte. Aber auch diese lehnte er ab.
"Tja, dann tut es mir leid. Wissen sie, sie geben ein schreckliches Bild ab, wie sie hier sitzen, so... so hilflos. Da dachte ich......."
"Bild. Sie haben Bild gesagt"
"Ja, warum?"
"Das war es, was ich besorgen wollte. Einen Bilderrahmen für das Foto von Margrit"
Er strahlte nun über das ganze Gesicht und erzählte ihr von seiner Odyssee.
Gleich nach dem Frühstück hatte er sich bei der Leiterin der Seniorenresidenz abgemeldet. Da die Wände seines
Appartements, in welches er vergangene Woche erst eingezogen war, so schrecklich schmucklos wären, wollte er für das Foto seiner verstorbenen Frau einen schönen Bilderrahmen besorgen und es dann über dem Sidebord befestigen lassen. Dort hätte er es dann vom Bett aus immer im Blick und er könnte sich mit ihr unterhalten, so wie sie es von früher gewohnt waren.
"Ich bin also losgegangen, aber nach kurzer Zeit wusste ich nicht mehr, wohin und weshalb. Auch der Weg zurück wollte mir partout nicht mehr einfallen.
Dann hat es zu regnen begonnen, ich bin gestürzt und nun sehe ich so aus...."
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der jungen Frau, als sie sich nun zu ihm auf die Bank setzte.
"Würden sie mir das Foto ihrer Frau zeigen?"
Eifrig nickend griff er in die Innentasche seiner Jacke und holte das Bild, das in einem braunen DIN A 5 Kuvert steckte,
hervor.
"Sie war wunderschön, ihre Margrit"
"Ja, das war sie. Aber leider hat sie mich vergessen, als sie ging. Ich hätte sie so gerne begleitet."
Sie war berührt von seinen Worten und musste schlucken.
"Ja, das glaube ich. Aber wissen sie was, wir kaufen jetzt zusammen einen Bilderrahmen und dann fahre ich sie zur Residenz zurück.
Als er dann später mühsam aus dem Auto geklettert und schon ein paar Schritte auf die Eingangspforte des Altenheimes zugegangen war, drehte er sich noch einmal um, griff in seine Hosentasche und zog ein kleines, rotes Irgendetwas hervor.
Er reichte es ihr durch das geöffnete Beifahrerfenster und meinte schelmisch:
"Taxientgelt"
Sie nickte dankend, besah sich das Geschenk und pustete heftig drauflos, bis
sie die Aufschrift des knallroten Luftballons in Herzform lesen konnte:
Zur Goldenen Hochzeit
von Karl und Margrit!
FÜR IMMER