„Das Leben ist ein LUFTBALLON: wenn du die Schnur nicht gut festhältst, fliegt es ohne dich davon.“
Die Worte meiner Großmutter klangen mir in den Ohren, während ich mich an der Planke festklammerte. Es war ihre letzte Ermahnung mir gegenüber gewe- sen, bevor sie vor zwei Monaten fried- lich eingeschlafen war. Ich hatte lange darüber nachgedacht, was sie mir damit hatte sagen wollen. Schließlich war ich zu dem Schluss gekommen, dass sie mein nicht eben aufregendes Leben meinte, das im Begriff war, mir davon- zulaufen und mich auf meinem langwei- ligen Job und inmitten eines frustrieren- den Singledaseins ZURÜCKZULASSEN.
Bevor sie gegangen war, hatte sie jedem von uns noch einen Rat gegeben, schön kryptisch verpackt und Gedankenfutter für die nächsten Wochen. Ich fand aller- dings, dass meine jüngere Schwester die dickere Packung abbe- kommen hatte:
„Der FLATTERHAFTE Schmetterling ist ein Wesen von großer Anmut, dessen Le- benszweck einzig darin zu bestehen scheint, uns mit seiner Schönheit zu er- freuen. Doch nichts sieht trauriger aus als ein Schmetterling, der im KLEBRI- GEN NETZ einer Spinne zugrunde ge- gangen ist.“ Ganz eindeutig eine Er- mahnung, nicht so viel zu feiern und sich nicht nur aufs hübsch aussehen zu verlassen. Ich konnte mir meine Schwe-
ster gut als frustrierte Frau eines rei- chen Knackers vorstellen. Aber sie wür- de Omas Rat nicht verstehen. Sie war zu faul, um darüber nachzudenken.
Eine Welle klatschte mir ins Gesicht, und ich kehrte in die Wirklichkeit zu- rück. Hektisch klammerte ich mich fe- ster an die Planke, die das Einzige war, das von meiner Nussschale noch übrig war. Nachdem mir klar geworden war, was Oma mir hatte sagen wollen, hatte ich vier Wochen Urlaub genommen, mei- nen Segelschein hervorgekramt, ein kleines Boot gemietet, meine Angeln entstaubt und war rausgefahren. Die Wettervorhersage war gut gewesen; ich kreuzte eine Weile zwischen den Ork-
neys, angelte gut gelaunt und genoss mein Leben. Bis der Sturm kam.
Er war vor zwei Tagen losgegangen und wie aus dem Nichts hervorgebrochen. In der einen Minute hatte ich einen schö- nen Kabeljau aus dem Meer gezogen, geputzt und war damit unter Deck ge- gangen, um ihn zu braten, in der näch- sten Minute war das Schiff hin und her geworfen worden wie ein Wasserball und ich hatte keine Chance mehr, irgendet- was in den Griff zu bekommen. Ich holte das Segel ein und versuchte, den Motor zu starten, doch es war vergeblich. Das Funkgerät war tot, alles, was ich reinbe- kam, war statisches Rauschen. Nach zwei Stunden hatte ich schon keinerlei
Ahnung mehr, wo ich war. Dass ich noch nicht auf eine Insel aufgetrieben war, grenzte an ein Wunder.
Gestern hatte sich das Heulen etwas be- ruhigt, und ich hatte Hoffnung ge- schöpft, das Segel wieder setzen und in irgendeine Richtung fahren zu können. Also hatte ich alles an Segelfläche, was das Boot irgendwie tragen konnte, gehisst, und war losgezuckelt.
Nun trieb ich im eiskalten Wasser. Ich wusste noch immer nicht genau, was ei- gentlich passiert war; das Einzige, wo- ran ich mich erinnerte, war eine riesige Welle, deren grausame Schaumaugen mich böse angefunkelt hatten, bevor sie sich daran gemacht hatte, das Boot in
Einzelteile zu zerlegen. Vermutlich war ich irgendwann zusammengebrochen, übermüdet, unterkühlt und verzweifelt, wie ich gewesen war. In der Zeit hatte der Sturm wohl wieder Fahrt aufgenom- men und mein Boot in noch weiter unbe- kannte Gewässer vertrieben - bis dann eben diese Monsterwelle gekommen war. Nun dümpelte ich schon stundenlang auf der inzwischen spiegelglatten See he- rum. Allerdings fühlte ich meine Füße nicht mehr, so kalt war das Wasser.
Wieder schlug mir Wasser ins Gesicht, und ich wachte auf. Es war Nacht; am Himmel stand ein schöner Vollmond. Noch immer regte sich kein Lüftchen.
Ich hatte es geschafft, auf die Planke zu kriechen, als meine Arme zu lahm ge- worden waren, mich zu tragen. Hoff- nungslos schaute ich mich um. Ein paar kleinere Wolken zogen über den Nacht- himmel, um mich herum plitschte das Wasser an meinen Notbehelf. Ein Käuz- chen schrie.
Es brauchte eine Weile, bis mir ins Be- wusstsein drang, was ich gerade gehört hatte. Ein Käuzchen?! Das bedeutete Land! Hektisch sah ich mich um. Nichts. Nur eine Nebelwand im Nordosten. Doch sie war mein einziger Hinweis auf etwas anderes als See. Also paddelte ich meine Planke vorsichtig in die Richtung.
Mit dem Nebel kam die Stille. Das
Käuzchen rief noch ein paar Mal, jedes Mal lauter. Das machte mich froh, denn es hieß, dass ich vermutlich in die rich- tige Richtung unterwegs war. Sofort ver- doppelte ich meine Bemühungen. Dann tauchte ich in die graue Wand und war im Nichts. Verzweiflung überkam mich wieder, denn ich verlor sofort jegliche Orientierung. Fast wäre ich UMGE- KEHRT. Doch gerade, als ich die Wende versuchen wollte, schälte sich ein dunkler Streifen aus dem Grau. Land! Wie verrückt paddelte ich darauf zu.
Nach und nach konnte ich eine BUCHT erkennen, die zu einem Wald hinauf- führen musste. Der RAND war dicht bewachsen; im Nachtlicht kamen mir die
Bäume und Büsche bedrohlich vor, wie Riesen mit merkwürdigen WUCHERUN- GEN an allen Extremitäten. Schon wie- der wollte ich umkehren, doch da stieß die Planke bereits auf Grund. Voller Zweifel schleppte ich mich an Land und versuchte, mehr zu erkennen.
Ich schrak zusammen, als das Käuzchen wieder schrie. Was mich vorher beruhigt und gelockt hatte, versetzte mich nun fast in Panik. Ich schalt mich närrisch, versuchte, mir einzureden, dass die Angst nur von meiner Erschöpfung her- rührte, gepaart mit Nebel und Nacht. Im Tageslicht sähe das sicher alles besser aus. Zögerlich ging ich auf den Wald zu. Am Strand konnte ich nicht bleiben, ich
wusste nichts über die Flutstände hier. Ich wusste ja nicht einmal, wo ich war. Von einer dicht bewaldeten Insel bei den Orkneys hatte ich jedenfalls noch nichts gehört.
Dunkelheit umfing mich, nachdem ich einmal ins Unterholz eingedrungen war. Ich fühlte mich wie in einer schlechten Horrorgeschichte gefangen; erst jetzt verstand ich, was die Leute an nächtli- chen Wäldern so gruselig fanden. Tat- sächlich hatte ich mehr als einmal das Gefühl, dass Hände nach meinen Füßen griffen oder versuchten, mich an meiner Kleidung festzuhalten. Wenn ich dann hinsah, waren es Wurzeln und Äste, doch sobald ich meinen Blick fortnahm,
wurden es wieder untote Gnome und He- xenkrallen. Ich verfluchte meine über- bordende Phantasie und stolperte weiter. Die Insel war hügelig; ich musste vor- sichtig sein, in Nebel und Finsternis nicht zu straucheln. Ein verstauchter oder gar gebrochener Knöchel hätte mir nun noch gefehlt. Dennoch machte ich so schnell, wie ich konnte; Furcht trieb mich vorwärts - wohin, wusste ich nicht. Eiskalte Angst machte sich in mir breit; ich fühlte mich verfolgt, glaubte, kalten Atem in meinem Nacken zu spüren. Jedes HÄRCHEN an meinem Körper richtete sich auf.
Schließlich rannte ich doch fast. Ich stolperte, schlitterte einen Hügel herun-
ter, riss mir dabei die Unterarme und Schienbeine auf. Rasch stand ich auf, die Schmerzen ignorierend, und lief weiter. Ein zweiter Hügel kam auf mich zu, doch er war schmal genug, dass ich um ihn herumlaufen konnte, statt ihn überklettern zu müssen. Nebelschwaden umfingen meine Beine; es sah aus, als verschwänden sie im Nichts. Ich konnte den Boden kaum noch sehen. Wieder stolperte ich, fing mich gerade noch, lief weiter. Der Hügel zog an mir vorüber.
Ein Knacken in der Stille ließ mich he- rumfahren. Halb erwartete ich, den Wer- wolf über mir aufragen zu sehen, seine Klauen an meiner Kehle zu spüren. Was
ich jedoch sah, ließ mich aufschluchzen.
Der Hügel, den ich gerade umrundet hatte, war ein Hobbithaus. Jedenfalls sah es genauso aus: eine Tür, im Erdreich eingelassen, ein kleines Fenster daneben. Die Tür stand einen Spalt offen; innen verbreitete eine Lampe einen behaglichen SCHIMMER. Durch das Fenster konnte ich eine Standuhr sehen, durch die Tür einen Sessel. Hoffnungsfroh ging ich zu der Behausung und klopfte vorsichtig.
„Herein!“ ertönte eine sanfte weibliche Stimme. Sie kam mir bekannt vor, doch ich konnte sie nicht einsortieren. Ich trat ein.
„Bitte schließe die Tür, Kind“, sagte die
Stimme. Sie kam hinter dem Vorhang eines Himmelbettes hervor, der im Raum waberte wie der Nebel im Wald. Ich konnte vage eine Gestalt ausmachen, die, von Kissen gestützt, im Bett saß. Vorsichtig schloss ich die Tür und sah mich um. Alles kam mir bekannt vor, jeder Gegenstand schien mich mit inniger Vertrautheit zu grüßen. Ein Ka- nonenofen an der Wand knisterte vor sich hin, darauf ein großer Kessel, aus dem es verheißungsvoll dampfte. In einem Bord daneben war Geschirr, die zierlichen Tassen an den Haken, die Teller säuberlich im Regal aufgestellt. Auf einem kleinen Tisch standen eine Teekanne, in die bereits Teeblätter gege-
ben waren, und ein Teller mit ein wenig Kleingebäck.
„Gieße uns doch den Tee auf, Kind, und bring mir etwas davon herüber. Ich kann nicht mehr gut aufstehen“, ertönte wie- der die bekannte Stimme. Bereitwillig kam ich dem nach; immerhin hatte sie 'uns' gesagt, was mir sehr gelegen kam. Mein Magen knurrte wie ein hungriger Wolf, und der Tee würde mich wärmen. Bergamottenduft durchzog die Hütte, als das kochende Wasser die Teeblätter überschwemmte. Ich nahm Teller, Unter- tassen und Tassen vom Bord, richtete al- les auf einem hübschen Silbertablett an und brachte es zum Bett, wo ich es auf dem antiken Nachtschränkchen abstellte.
Ich goss uns Tee ein und nippte zufrie- den an meinem. Dann jedoch fiel mir meine gute Kinderstube wieder ein. Also stellte ich mich vor, erklärte kurz, wie ich hergekommen war, und stellte dann die für mich wichtigste Frage:
„Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier bin?“ Ein trockenes Rascheln kam hinter dem Vorhang vor, das glei- chemaßen ein Husten wie ein Lachen gewesen sein konnte.
„Bitte gib mir doch dort vorn das Bild“, erwiderte die Stimme sanft. Eine uralte, runzlige Hand erschien zwischen den Vorhängen und deutete auf einen Sekre- tär, auf dem ein umgekippter silberner BILDERRAHMEN lag. Ich seufzte in-
nerlich, stand aber wieder auf und holte das geforderte Utensil. Da mich eigent- lich nur noch interessierte, wo ich war und wie ich hier wieder wegkam, besah ich mir nichts genauer, sondern ver- fluchte nur innerlich die merkwürdigen Grillen von alten Leuten. Wieder erklang das trockene Rascheln, dann wurde das Bild wieder herausgereicht.
„Mein Enkelkind“, sagte sie und forder- te mich mit einer Geste auf, mir das Bild anzuschauen. Seufzend nahm ich den Rahmen wieder. Wenn sie auf Small Talk über ihre Familie bestand, hätte ich auch gleich im Wald bleiben können. So etwas war ein noch größerer Horror als ein wenig Nebel. Gelangweilt sah ich mir
das Foto an. Mein Atem stockte.
Das Bild zeigte eigentlich nichts Beson- deres: eine alte Frau, die ein weinendes Kind in den Arm nahm, dem gerade sein Luftballon fortgeflogen war, ein gelbro- ter Klecks in einem blauen Himmel. Doch ich besah das Bild wie betäubt.
Ich erinnerte mich plötzlich an die Sze- ne. Oma und ich waren auf dem Jahr- markt gewesen, zu einer Zeit, als ich noch klein genug war, um an antiken Karussells, Luftballons und Zuckerwatte meinen Spaß zu haben. Sie hatte mir ei- nen schönen, sonnengelben Luftballon gekauft, mit Augen und Mund der 'la- chenden Sonne' und roten Wangenflek- ken. Dann war ich Karussell gefahren.
Sie hatte den Ballon für mich festgehal- ten, und ihn mir dann mit den Worten „Gut festhalten!“ wiedergegeben. Doch die Schnur war mir entglitten, und der Ballon stieg in den Himmel. Ich hatte mir die Augen ausgeweint.
Ein merkwürdiges Knarzen hinter dem Vorhang ließ mich aufblicken. Die alte, faltige Hand erschien wieder, und mit ihr eine dünne Schnur. Sie reichte mir die Schnur mit den Worten „Gut festhal- ten!“ Wie in Trance nahm ich sie. Als sich unsere Hände berührten, durchfuhr mich ein Schlag.
„Wer bist du?“ flüsterte ich heiser. Kei- ne Antwort. „Oma?“ Nach scheinbar einer Ewigkeit hörte ich die Stimme,
unsagbar leise.
„Wer sich selbst aufrichtig begegnet, dem kann sein Leben von nichts genom- men werden." Ich sprang auf und riss die Vorhänge beiseite; ich wollte die Frau sehen. Doch das Bett war leer.
Ich erwachte, als mich die Sonne an der Nase kitzelte. Mit geschlossenen Augen genoss ich das Gefühl, nicht vom Wek- ker geweckt worden zu sein. Dann fiel mir alles wieder ein, und ich fuhr er- schrocken hoch. Wo war ich?
Nur mit Mühe erkannte ich meine eigene Wohnung wieder. Verwirrt sah ich mich um, an mir herunter. Verwundert be- merkte ich, dass ich eine Schnur in der
Hand hielt, als wolle ich sie nie wieder loslassen. Dann fiel mein Blick auf den silbernen Bilderrahmen, der umgekippt auf meinem Nachttisch lag. Mit zittern- den Händen hob ich ihn auf. Die alte Frau sah mich an, während das Kind la- chend mit dem Ballon in den Himmel schwebte.