verschollene träume
Das alte Haus lag oberhalb des Meeres.
In den schattenreichen Piniengassen, die hangabwärts führten, atmete die salzhaltige Seeluft mit leichter, beständiger Brise einen Hauch Abkühlung in die schwüle Hitze, die sich klebrig auf ihre Haut legte.
Sie schlenderte, wie schon so oft in den letzten Wochen, hinunter in die Bucht, wo sie am Fuße der flachen Klippen kleine Krebse und andere Schalentiere für das spätere Abendessen zu sammeln gedachte. Wieder wanderte ihr Blick in die sonnenumglänzte Ferne, glitt an den lilafarbenen Hügeln hinab, aus denen vereinzelt winzige Gebäude wie Perlen hervor blitzten, um dann am östlichen
Rand des Strandes ins Meer zu tauchen.
Sie liebte diese wundervolle Landschaft, die auf seltsame Weise berührte und ihr ein lange schon vermisstes Gefühl von innerer Ruhe vermittelte. Der seichte Wind streifte wie mit Zauberfingern durch die dunkelroten Hibiskusbäume, die ihre fruchtstrotzende Farbenpracht duftend zur Schau trugen. Hin und wieder zupfte er eine der Blüten ab und trug sie wie einen kleinen Luftballon noch ein Stück des Weges mit sich fort. Sie lächelte und versuchte die Blüte mit ihrem kleinen Netz zu fangen, doch der Wind war ein flatterhafter Spielgeselle. Früher wäre sie dem Wind hinterher geeilt und hätte die Blüte zurückerobert, doch die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen.
Zeit war für sie eine höchst merkwürdige Sache. Manchesmal konnte sie sich an so Vieles erinnern und dann wieder war es so, als hätte sie ihr Leben und all die Ereignisse darin, einfach im Irgendwo zurücklassen müssen. Doch der Tag war viel zu schön für derart traurige Gedanken, dachte sie bei sich und wanderte gemächlichen Schrittes weiter, bis hinunter an den Strand.
Das Wasser hatte sich etwas zurückgezogen und so war es kein großes Unterfangen, die roten Scherentiere in ihrem Netz zu sammeln. Zwischendurch streckte sie den alten Rücken, stemmte die Hände in die Hüften, reckte das Gesicht der untergehenden Sonne entgegen und lauschte dem Grollen des Ozeans...
Wie schön sie doch war. So, in genau dieser Haltung - den Schimmer des Abendlichtes im Haar - hatte er sie vor nunmehr fast fünfzig Jahren zum ersten Mal gesehen und sich Halsüberkopf in sie verliebt. Seither war unendlich viel geschehen, aber seine tiefen Gefühle würden auch weiterhin alle harten Prüfungen überstehen und selbst im letzten Atemzug noch, da war er sich sicher, würde er ihr seine Liebe gestehen. Er lächelte. Also, auf eine erneute Eroberung, meine Liebste...
Gemeinsam gingen sie am Strand spazieren. Dieses gemeinsame Gehen war für sie das erste Mal und doch hatte etwas in ihr nicht das Gefühl, in Begleitung eines Fremden
unterwegs zu sein. Vielmehr schien ihr der gutaussehende, charmante Herr an ihrer Seite ein Verbündeter, ja gar wie ein Freund, der sich zudem bereitwillig anbot, sie in die berühmten Grotten unterhalb der Felsen zu begleiten. Alleine hatte ihr bis jetzt der Mut gefehlt, doch mit einem starken Mann an ihrer Seite, würde sie dieses Abenteuer wagen.
Er bot ihr seine Hilfe an. Sie zögerte kurz, ergriff dann aber mit einem Schmunzeln die hingestreckte Hand. Ein wohlig warmes Gefühl machte sich in ihr breit, legte sich wie ein Seidenschal auf die Haut und ließ alle kleinen Härchen in ihrem Nacken nun auch die Gelassenheit vergessen. Was war nur mit ihr? Seit langem hatte sie sich nicht so
geborgen gefühlt und gleichwohl irritiert.
Der Weg führte beide direkt am Wellensaum entlang und es dauert nicht lange, bis sie sich die Schuhe ausziehen mussten. Barfüßig wateten sie Hand in Hand durch die kühlen Wogen, und sie raffte, wie ein junges Mädchen, den Rock ihres Sommerkleides bis über die Knie und kicherte dabei. Er freute sich an der Unbeschwertheit seiner Liebsten, an dem Funkeln in ihren Augen und sein altes Herz machte einen Luftsprung.
Jetzt wurde der Boden unter ihren Füßen rau und uneben. Die Klippen im Wasser waren von Algen überzogen und sehr glitschig.
Vorsicht, mein Liebes…dachte er noch und schon rutschte sie mit einem Fuß aus und
hielt sich mit aller Kraft an seinem Körper fest. Er balancierte mit Mühe auf dem glatten Untergrund und versuchte das Gleichgewicht und die Frau in seinen Armen nicht zu verlieren. Es war genau wie damals...
„ Halte mich ganz fest. Bitte. Ich habe Angst vor tiefem Wasser!“
„Ich halte dich fest, mein Liebes. Sei ganz unbesorgt!“
In genau diesem Augenblick schaute sie ihn an, blickte in sein besorgtes Gesicht und verstand. Verstand, dass sie diesen Moment schon einmal durchlebt hatte. Ein zögerndes Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus. Ganz langsam veränderte sich auch das Licht ihrer Augen. Sie glänzten vor Freude,
sprühten Funken der Erkenntnis, der Liebe, die sie empfand. Seine Mundwinkel hoben sich immer deutlicher. Viele kleine Lachfalten entstanden nun um seine Augenwinkel und in ihren Wangen formen sich endlich die von ihm so geliebten kleinen Grübchen.
„Oh, mein Liebster, wie tolpatschig ich geworden bin. Was hätte ich nur ohne dich getan?“
„ Nun, du wärest wahrscheinlich ins Wasser gefallen und dann wütend umgekehrt“, neckte er sie und drückte ihren Körper noch fester an sich, legte seine Lippen auf die Ihren und küsste seine Liebste, als wenn es kein Morgen gäbe.
„ Lass uns in die Grotte gehen und nach den Malereien sehen, Liebster. Glaubst du, sie
sind noch da?“
„ Ja, mein Herz, alles ist noch da. Du wirst schon sehen… Komm, halt dich an mir fest!“
Seit Jahren sorgte er nun schon dafür, dass alle ihre Erinnerungen - die der ersten Begegnung, wie auch die, der anderen wichtigen Stationen ihres Lebens – hier in dieser kleinen Felsenhöhle zu finden waren. Wenn sie in klaren Momenten zu ihm zurück kam, geschah es fast ausschließlich an diesem Ort. Vielleicht besaß dieser Platz eine ganz besondere Kraft, die es vermochte, all die verschollenen Träume - wenn auch nur für kurze Zeit - zurück zu bringen, damit sie sich in ihnen wiederfanden.
Für diese Momente lebte er...
Sie betrachtete liebevoll die Zeichnungen an der Felswand, strich mit ihren Fingerspitzen über das rote Kreideherz , in dem ihrer beiden Namen geschrieben standen und fing an zu weinen.
„ Oh, du bist wunderbar, mein Liebster. Du warst es immer schon für mich. Habe ich dir das eigentlich jemals gesagt?“
Er sah sie zärtlich an, legte seinen Arm um ihre Taille und führte sie hinüber zur anderen Seite der Grotte.
Dort hing ein verwitterter Bilderrahmen an der Wand. Auf dem Foto, das ein blutjunges Paar zeigte, war, fast kaum noch lesbar, geschrieben: Du bist wunderbar!
Ihre Hand streichelte sein Gesicht und wieder wurde beiden klar, dass dieser Augenblick,
wie jede Begegnung ihrer Herzen, etwas ganz Besonderes war.
©roxanneworks 2015 / 04