Kapitel 12 Ein Versteck
,, Was jetzt ?“ , fragte Mia, die es als erste wieder wagte, zu sprechen. Die Bilder hatten sich offenbar nicht nur ihr eingebrannt. Soweit war es also mit dem Elektorat gekommen. Wenn sie noch einen Rest Vertrauen in die Minister gehabt hatte, so war der im Laufe des Abends endgültig verschwunden.
,,Zumindest können sie nicht hier bleiben.“ , erwiderte Abundius. Seine Stimme klang belegt und zum ersten Mal schwang so etwas wie Unsicherheit darin mit. ,, Ja… Wir… Sie müssen weg. Ich kann sie nicht ewig verbergen.
Irgendwann wird jemand hier nachsehen. Wenn ich euch finden kann, dann können das auch andere.“
,, Die Frage ist wohin.“ , meinte Aaren. ,, Es ist nicht wirklich so, dass wir uns frei bewegen können oder viele Optionen hätten. Sobald wir draußen auf der Straße erkannt werden, ist es vorbei und wir haben unser Glück schon strapaziert.“
,, Es gibt vielleicht einen Ort.“ , erwiderte Abundius und sah dabei zu Jack. Der Mann saß, den Kopf in die Hände gestützt, auf der Couch und starrte ins Leere.
,, Ist es dort noch sicher ?“ , fragte er , als er träge aufsah. Aaren erschien es
beinahe so, als hätte jemand den sonst so impulsiven, von einem beinahe unvernünftigen Tatendrang beseelten, Mann völlig ausgewechselt.
,, Ich bin seit einer Weile nicht mehr da gewesen. Und auch sonst niemand. Ich bezweifle also, das das Elektorat überhaupt weiß, dass der Ort existiert. Und von den anderen hat keiner geredet.“
,, Würde mir bitte jemand verraten, wovon wir hier eigentlich sprechen ?“ , warf Mia ein, die fragend in die Runde sah.
Jack seufzte und setzte sich auf. ,, Bevor ich nach Aaren gesucht habe, bevor alles begann so schrecklich schief zu gehen…
haben Abundius, ich und die anderen uns in einer verlassenen Kneipe versteckt. Das Gebäude ist ein Stück von hier, aber wir könnten es schaffen. Von außen recht unauffällig und wenn stimmt, was er sagt, wird man uns dort nicht finden können. Die einzigen, die Verraten könnten, wo es sich das Haus befindet, sind tot. Mit Ausnahme von mir… und Abundius.“
,, Es müsste noch alles da sein.“ , fuhr dieser fort. ,,Vorräte, Ausrüstung, ein paar Karten. Sie könnten dort für Monate untertauchen, wenn nötig und ich brauche nur zwei Tage… um meine Pläne zu vollenden. Dann ist eine Gesamtsitzung des Ministerrats geplant.
Und an ihrem Ende, wird es keinen Ministerrat mehr geben.“
,,Was werden sie tun ?“ , fragte Jack.
,, Was glauben sie ?“ , antwortete Abundius düster und machte sich auf den Weg in Richtung Tür. ,, Wichtig ist erst einmal, das sie alle hier verschwinden. Wenn sie jetzt gleich losgehen, kann ich sie hinbringen. Niemand da draußen wird einem Minister viele Fragen stellen.“
,,Und ich bin immer noch nicht sicher, ob ich ihnen vertraue.“ , erklärte Mia skeptisch. Jack, der mittlerweile ebenfalls aufgestanden war stimmte ihr mit einem nicken zu.
,, Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, um sie zu überzeugen. Wollte ich sie
loswerden hätte ich das schon getan. Seltsamerweise bin ich jedoch unbewaffnet hierhergekommen, nur um sie zu warnen. Aber bitte…“ Er breitete die Arme aus. ,, Wenn sie glauben mir nicht vertrauen zu können, sollten sie es vielleicht auch unter Beweis stellen. Erschießen sie mich. Und ihre einzige sichere Chane, das Elektorat jetzt noch aufzuhalten gleich mit.“
,,Also gut… „ Mia gab sich einen Ruck. ,, Halten wir einfach fest, mir gefällt das hier nicht. Aaren, was ist mit ihnen? “
Der Kommissar hatte dem Gespräch nur halb gelauscht. Es gab nach wie vor genug andere Dinge, die ihn beschäftigen
und sie schienen sich ohnehin nur im Kreis zu drehen.
,, Ich sage, wir gehen mit ihm. Wir können nicht alle für uns alleine arbeiten, so ungern ich das zugebe.“ , erklärte er schließlich. ,, Und wenn wir bis morgen früh warten, könnte man uns schon aufgespürt haben. Ehrlich gesagt, habe ich nach allem nicht vor herauszufinden, was das Elektorat mit mir anstellt. Oder Sonea, was das angeht.“
,, Mich wundert, dass sie es für eine gute Idee hielten sie hierher zu bringen.“ Soneas Mine verdüsterte sich bei diesen Worten sichtbar. ,, Manchmal glaube ich, ich habe sie früher besser
Verstanden, Aaren.“
,, Sagt der Mann, der seinen eigenen Namen nicht mehr weiß. Und das beruht dann wohl auf Gegenseitigkeit.“
Abundius lächelte, ein kurzes Aufblitzen von weißen Zähnen, das sofort wieder einer stoischen, kalten Mine wich.
Wenige Minuten später befanden sie sich bereits draußen auf den Straßen. Nach wie vor war es überraschend warm, obwohl die Sonne bereits vor mehreren Stunden untergegangen war. Die Hochhäuser und der Asphalt speicherten die Wärme des Tages und gaben sie nur langsam wieder ab. Aaren hatte sich an die deutlich kühleren Nächte auf Liurie gewöhnt. Jetzt wieder auf der Erde zu
sein… er wusste nicht, ob er sich je ganz erneut daran gewöhnen könnte.
Wenigstens stießen sie auf keine Patrouille. Entweder kannte Abundius die Pläne für die Ulanen-Garde tatsächlich auswendig, oder sie hatten lediglich mehr Glück als Verstand. Aaren wusste nicht genau, welche Möglichkeit davon die beunruhigender war.
Abundius führte sie hinaus aus den Wohnsiedlungen und durch die verlassen liegenden Straßen in einen Teil der Stadt, den Aaren zu seiner eigenen Überraschung nicht kannte. Sie mussten zwar in der Nähe des Regierungsbezirks sein, den er konnte das kaum sichtbare
schimmern der Energieschilde über den Ministerien, in der Dunkelheit sehen, aber wo genau, das konnte er nicht sagen. Im Vergleich zur restlichen Stadt niedrige, höchstens drei Stockwerke hohe Bauten säumten die Straße und stellenweise gab es tatsächlich einzelne Bäume, die in Aussparungen im Bürgersteig eingetopft waren. Graue, blattlose Dinger, aber immerhin Vegetation.
Irgendwann bedeutete Abundius ihnen stehen zu bleiben und deutete über die Straße zu einer dunklen Glastür, die zu einem Gebäude gehörte, dass sich kaum von einem der anderen unterschied. Lediglich ein verblasstes Schild wies es
als Kneipe aus und in den Rahmen über der Tür befanden sich kaum mehr erkennbare Buchstaben, offenbar mit einem Messer oder einem anderen scharfen Gegenstand dort eingeritzt.
,,Veritas filia temporis“ , las Aaren leise vor. Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit.
,, Das ist es.“ Abundius zog einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und öffnete die Tür. Sie schwang ohne einen laut auf und Aaren folgte dem neu ernannten Minister ins Innere. Sonea, Jack und Mia folgten ihm auf dem Fuß, letztere mit den Waffen im Anschlag. Im inneren selbst war alles dunkel, bis Abundius mit einer Bewegung das Licht einschaltete.
Eine Reihe schwacher Glühbirnen, die unter altmodischen Lampenschirmen an der Decke hingen, tauchte den Raum in schummriges Licht. Irgendwie hatte der sauber aufgeräumte Raum etwas Unheimliches. Eine Reihe von Stühlen stand vor einer leeren Theke, zusammen mit einigen Tischen, die natürlich ebenfalls verlassen waren.
Eine geschlossene Tür führte aus der Bar in einen angrenzenden Raum, vielleicht gab es auch eine Treppe zum nächsten Stockwerk. So oder so… Aaren trat an eines er Fenster, vor dem jemand einen schweren Stoffvorhang zugezogen hatte und spähte durch eine Lücke im Stoff nach draußen. Wenn das Gebäude
offiziell verlassen war, müssten sie vorsichtig sein, damit niemand Licht oder ähnliches bemerkte…
,,Merkt eigentlich niemand, wenn hier der Strom anspringt ?“ , fragte Mia, die offenbar den gleichen Gedanken gehabt hatte. ,, Das Elektorat hat vermutlich wichtigeres zu tun, aber plötzlicher Energieverbrauch in einem verlassenen Haus würde mich misstrauisch machen…“
,, Im Keller gibt es einen Generator, der alles versorgt. Damit sind wir praktisch unabhängig vom Stadtnetzwerk.“ , erklärte Abundius und nickte in Richtung Tür, die aus der Bar hinaus führte. ,, Ich habe mir durchaus Gedanken gemacht,
als ich diesen Ort als Zuflucht gewählt habe. Da hinten sollten sie noch jede Menge Vorräte finden. Essen, alles, was bei meinen Operationen an Ausrüstung geblieben ist. Es gibt außerdem einige renovierte Zimmer oben. Die habe ich allerdings nie genutzt.“
,, Wieso nicht ?“ , wollte Jack wissen. Seiner Stimme war allerdings anzumerken, das ihn die Antwort eigentlich nicht interessierte. Stumpf vor sich hin starrend, ließ er sich auf einen Platz im hintersten Winkel des Raums fallen. Falk hatte hier gesessen, Cooper etwas weiter. Der grimmige Türsteher… Gott, er hatte seinen Namen beinahe vergessen. Aber es waren Gesichter
gewesen, die er gekannt und gemocht hatte. Und jetzt war keiner mehr davon übrig. Er hatte versagt, selbst wenn sie irgendwie Gewinnen sollten… das machte keinen von ihnen wieder Lebendig.
,, Ich habe mich in den letzten zehn Jahren meines Lebens, von Ausnahmen abgesehen, nie länger als ein paar Stunden an ein und demselben Ort aufgehalten.“ Er wendete sich zum Gehen. ,, Ich muss vor Sonnenaufgang zurück im Ministerium sein. Halten sie sich einfach bedeckt und wir sollen keine Schwierigkeiten bekommen. In 48 Stunden ist das hier alles vorbei.“
Aaren hätte es gerne geglaubt. Zwei
Tage nur…das war wenig Zeit. Und irgendwie wirkte Abundius trotz der Kälte, die er nach außen abstrahlte besorgt. Er hatte offenbar fest damit gerechnet, dass der Sprengsatz zumindest einen Teil des Rats töten würde.
,, Wir könnten ihnen immer noch helfen.“ , erklärte er.
Abundius hielt an der Tür inne. ,, Nicht das ich undankbar wäre, aber… nein. Ich habe alleine angefangen. Und genau so werde ich es jetzt auch zu Ende bringen. Trotzdem… Ich bin irgendwie froh, dass sie noch leben, Aaren.“
Mit diesen Worten verschwand er, hinaus auf die Straßen, die nun schon von einem ersten, silbrigen Schimmer erhellt
wurden. Vielleicht noch eine Stunde, bis die Sonne aufging und die Stadt erneut zum Leben erwachte, sobald Ulanen und Militär ihre Patrouillen beendeten. Und vermutlich würde es auch heute nicht ruhig bleiben, überlegte Aaren, während er sich auf einen Stuhl fallen ließ.
,,Wir bleiben nicht wirklich hier und warten ab, oder ?“ , wollte Mia wissen.
Sonea hatte derweil ebenfalls begonnen, sich in dem Raum umzusehen, offenbar fasziniert von allem, angefangen von den Holzimitatböden, bis zu den vergilbten Lampenschirmen und dunklen Vorhängen. Es hatte etwas seltsam beruhigendes ihr einfach nur zuzusehen. Selbst wenn sie hier alles andere als in
ihrem Element war, schien sie sich doch die gleiche Anmut und Neugier bewahrt zu haben. Aaren hatte sich eigentlich vorgenommen, fürs erste nicht über das Geschehene nachzudenken, aber…
Aaren schüttelte den Kopf. ,, Wir haben zwei Tage, uns etwas Besseres auszudenken.“
Aber vor allem brauchte er ein paar Stunden Schlaf. Er musste mittlerweile bestimmt drei Tage auf den Beinen sein. Die Müdigkeit war eher ein stetiger Begleiter geworden, als etwas, das er noch bewusst wahrnahm und den anderen konnte es wohl kaum besser gehen. Bevor er es merkte, waren seine Augen bereits halb
zugefallen.
,, Was ist mit ihrem Plan, sich einen der Netzwerkknoten anzusehen ?“ , wollte Mia wissen und riss ihn damit wieder vom Rand der Bewusstlosigkeit zurück.
,, Das habe ich immer noch vor.“ , antwortete er. ,,Und wenn wir eine Möglichkeit finden… Wir bräuchten Ausrüstung. Waffen.“ Seine Gedanken begannen träge wieder zu fließen. Er traute Abundius durchaus zu, Erfolg zu haben. Aber was danach geschehen würde, wusste er nicht. Besser, sie folgten einem eigenen Plan.
,, Abundius meinte, er hätte noch alles hier, was er während… meiner Zeit hier angesammelt hat.“ , meinte Jack, ohne
echte Begeisterung. ,, Ich werde gleich nachsehen, was noch alles da ist.“
,, Und es geht ihnen gut ? Nach allem was passiert ist…“
,, Nein, Aaren, es geht mir nicht gut!“ Jack war von seinem Platz aufgesprungen. Der Stuhl auf dem er gesessen hat kippte und schlug auf dem Boden auf. ,, Ich weiß bei ihnen ist das vielleicht noch nicht angekommen, aber meine Leute sind alle tot. Führen sie beide nur ihren Krieg weiter. Ich bin fertig damit.“ Stille senkte sich über den kleinen Raum, nur unterbrochen von den leisen Motorengeräuschen der Stadt. Selbst Sonea war stehen geblieben wo sie war und sah zu dem schwer atmenden
Menschen. Jacks Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Er könnte spüren, wie sich seine eigenen Fingernägel in die Haut ritzten, aber das war ihm im Augenblick egal. Im gleichen Augenblick taten ihm seine Worte auch schon leid. Sie saßen alle im selben Boot. Nur wirklich besser machen, tat es das nicht…
,, Wie gesagt…ich sehe nach, was noch da ist.“ , erklärte Jack schließlich, vo allem, um überhaupt etwas zu sagen. Damit drehte er sich um und verschwand durch die Tür am anderen Ende der Bar. Lediglich Aaren, Sonea und Mia blieben zurück, die den Kopf in die Hände sinken
ließ.
,, Kommt er wieder in Ordnung ?“ , wollte sie halblaut wissen.
,, Er beruhigt sich wieder.“ , meinte Aaren nur und hoffte, damit auch recht zu behalten.
,,Und sie wollen nicht mit ihm reden ?“
Er schüttelte den Kopf. Wenn er eines mittlerweile über Jack wusste, dann das der Junge unglaublich stur sein konnte, wenn er wollte. ,, Wenn sie ihr Glück versuchen wollen, bitte…“