Mona lag, wie in den Tagen zuvor, wieder völlig verkatert in ihrem Bett. Sie hatte lediglich einen Slip und ein Unterhemd an und wühlte sich durch die Kissen, die sie um sich drapiert hatte. Ihre langen schwarzen Haare waren schon leicht filzig, da sie schon seit ein paar Tagen kein Wasser und Shampoo mehr gesehen hatten. Bei jeder Bewegung stöhnte sie leicht auf, ihr Gehirn drückte immer wieder gegen die Schädeldecke und auch heute schwor sie sich, nie wieder so viel Alkohol zu trinken.
Sie legte sich auf den Rücken, zog ihre Bettdecke bis ans Kinn und schaute sich in ihrer Wohnung um. Vom Bett aus
konnte sie direkt ins Wohnzimmer schauen, da die Räume lediglich von Flügeltüren getrennt wurden und sie diese immer weit geöffnet stehen ließ.
Die Wände waren in Eierschalfarben gestrichen und der Stuck unter der Decke verlieh den ganzen Räumen einen altertümlichen Scharm.
Mona zuckte zusammen als ihr Telefon läutete und nach dreimal klingeln der Anrufbeantworter ansprang. „Hallo! Sie sind verbunden mit dem Anschluss von Mark und… Mona. Bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Piep!“, erklang die Stimme von Mark. Diesem Arschloch! Wütend warf Mona ein Kissen in die Richtung des
Anrufbeantworters und verdrückte sich dabei eine Träne. Schon wieder wurde sie von einem Mann hintergangen und betrogen. Schon wieder hatte sie einem Menschen blind vertraut und schon wieder fand sie ihn in den Armen einer anderen Frau wieder. Sie hatte nicht auf die warnenden Worte ihrer Freundinnen hören wollen. Von Anfang an hatten sie Mona darauf hingewiesen, dass Mark ihnen gegenüber so merkwürdige und anzügliche Äußerungen gemacht habe, aber sie hatte nicht hören wollen. Er gab ihr endlich wieder das Gefühl begehrenswert zu sein. Darum hatte sie sich auch nichts dabei gedacht, als er bereits nach drei Wochen bei ihr
einziehen wollte, von ihrem Geld lebte und ihr gegenüber körperlich immer mehr Abstand nahm.
Mona schaute suchend in der Wohnung umher und griff nach der erstbesten Zeitschrift, die auf dem Boden neben ihrem Bett lag, um sich damit abzulenken. Lieblos blätterte sie darin herum, bis sie von einer Schlagzeile in ihren Bann gezogen wurde: „Finden Sie Ihre Bestimmung!“. In roten Buchstaben leuchteten sie die Worte an. Darunter befand sich ein Test mit der Warnung, dass einem das Ergebnis vielleicht nicht gefallen könnte. Sie beantwortete die fünf Fragen, die mit jeweils sechs vorgefertigten Antworten von a bis f
versehen waren und suchte nach ihrem Ergebnis. Laut las sie die Zeilen vor: „Sie vertrauen auf das Gute in anderen Menschen und werden immer wieder enttäuscht. Durch ihre freundliche Art fällt es ihnen leicht auf andere zu zugehen und mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Diese Verhaltensweisen lassen jedoch keine dauerhafte Bindung zu, da sie immer wieder ausgenutzt werden. Ihre Bestimmung ist es, lediglich für andere Menschen dazu sein und ihnen zu helfen“.
Erstaunt schaute Mona auf und versuchte zu verstehen was sie gerade gelesen hatte. Sie las die Zeilen ein zweites und drittes Mal, bis ihr Blick auf die
Anmerkung ganz unten auf der Seite fiel. „Sollten Sie ihre Bestimmung ändern wollen oder einfach nur mit dem Ergebnis unzufrieden sein, nehmen Sie Kontakt zu uns auf! Wir beraten Sie gerne!“, darunter stand eine Telefonnummer.
In den nächsten zwei Tagen versuchte Mona nicht mehr an diesen Test zu denken, doch immer wieder fiel ihr Blick auf die Zeitschrift, die noch aufgeschlagen neben ihrem Bett lag. Am dritten Tag warf sie sie in die Mülltonne und sagte sich, dass sie sich von so einer Quacksalberei nicht aus dem Konzept bringen lassen darf! Doch wenige
Stunden später, nach einem stressigen Arbeitstag, an dem sie wieder als Dienerin ihrer Chefin fungierte, rannte sie nach Hause, lief direkt zum Mülleimer und zog die Zeitschrift wieder empor. Sie strich die Essensreste mit einem Küchentuch davon ab und schlug die Seite mit dem Test auf. Nach kurzer Für und Wider Abwägung nahm sie das Telefon in die Hand und wählte die Nummer. „Hallo! Sie sind verbunden mit der Hotline von Finden-sie-ihre-Bestimmung. Vielen Dank für den Anruf. Der nächste Beratungstermin findet am Montag um 17:00 Uhr in der Klingelgasse 18 in Köln statt. Wir würden uns freuen, sie dort begrüßen zu
dürfen!“ Klack… irritiert hielt Mona den Hörer noch einige Sekunden an ihr Ohr und stellte ihn dann zurück in die Ladestation. Das war irgendwie…bizarr. Wie ferngesteuert nahm sie ihren Kalender zur Hand und trug den Termin und die Straße ein.
Es war Montag und Mona eilte bereits zum gefühlten fünfzigsten Mal auf die Toilette. Nicht mehr lange und sie muss sich auf den Weg zur Klingelgasse machen. Zuvor hatte sie sich bereits im Routenplaner angeschaut wo sie lang gehen kann und stellte fest, dass sie zu Fuß nur wenige Minuten benötigte. Da sie der Fußmarsch wahrscheinlich etwas
beruhigen würde, hatte sie sich dazu entschieden.
Als sie von der Pappelallee in die Klingelgasse einbog, verspürte sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und ein kalter Luftzug in ihrem Nacken ließ sie erschauern. Die Gasse lag etwas versteckt, war aufgrund der hohen Häuser zur rechten und linken sehr dunkel und dazu noch feucht vom Regen in der Mittagszeit. Die Hausnummer 18 war ein kleineres aber nicht wesentlich unheimlicheres graues Haus mit einer roten Tür. Das Klingelschild war unbeschriftet, darunter war ein Schild mit der Aufschrift „Keine Versicherungsvertreter oder andere
Hausierer erwünscht“ befestigt. Vorsichtig drückte Mona auf den Knopf der Klingel und ein lautes Schellen schien das Haus zu füllen. Sie hörte wie jemand eine scheinbar alte Holztreppe herunterlief. Einen Moment darauf öffnete sich die rote Tür und ein junger, gut aussehnender, sportlich gebauter Mann stand im Türrahmen. „Hallo! Schön, dass du da bist. Komm doch herein! Ich führe dich in den Seminarraum.“ Leicht errötet über den Anblick des Mannes und die freudige Begrüßung lies Mona sich wie in Trance ins Haus und die Treppe hinauf führen. Als sie oben ankamen, gingen sie links in einen kleinen abgedunkelten Raum, in
dem sich bereits vier weitere Personen befanden. Die darin befindlichen Holzstühle standen im Halbkreis mit der Öffnung zur Tür. Mona wurde von dem jungen Mann gebeten sich auf den rechts außen stehenden Stuhl zu setzten und auch die Anderen nahmen ihre Plätze ein. „Hallo und herzlich Willkommen. Mein Name ist Nathaniel und Sie sind unserer Einladung gefolgt, weil Sie mit ihrer Bestimmung unzufrieden sind. Nun, zunächst möchte ich Sie bitten mir kurz ihre Namen zu nennen.“ Nathaniel stand vor der geschlossenen Tür als er sich vorstellte, was Mona zugegeben etwas verunsicherte, denn dadurch versperrte er die einzige
Fluchtmöglichkeit die ihnen blieb.
„Ich bin Rosie“, sagte eine leicht untersetzte Frau mit blond-gefärbten Haaren. Mona schätzte sie auf Mitte fünfzig.
„Ich bin Alfred und 67 Jahre alt“, gab sich ein ergrauter Mann mit Halbglatze zu erkennen. Neben ihm saß breitbeinig ein junger Mann, der geräuschvoll auf seinem Kaugummi kaute, „Leo“. Während der Vorstellungsrunde rutschte Mona unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und bekam regelrecht Atemnot vor Nervosität.
„Mein Name ist Lola Gonzales“, sagte die rassige schwarzhaarige neben ihr und warf schwungvoll ihr langes schwarzes
Haar zur rechten Seite.
„Mo... ähm... ich meine, ich bin Mona“, stieß diese leise hervor.
„Vielen Dank. Sie wundern sich bestimmt über dieses Zusammentreffen, doch lassen Sie mich kurz erklären was wir mit Ihnen vorhaben!“, sagte Nathaniel, nahm einen Stuhl und setzte sich neben Rosie, die verlegen an ihrem Pulloverbund zupfte. „Wenn Sie damit einverstanden sind, möchten wir Sie gleich einer Hypnose unterziehen.“ Ein erstauntes Keuchen ging durch den Raum. „Sie brauchen keine Angst haben, es ist ganz harmlos. Wir möchten Sie damit ihrer momentanen Bestimmung berauben und Sie werden die nächsten
vierundzwanzig Stunden ohne diese verleben, um zu erkennen, ob Sie mit ihrer momentanen Unzufriedenheit richtig liegen. Morgen werden wir uns erneut um 17:00 Uhr in diesem Raum wiedersehen. Es ist ähnlich der Hypnose, zum Beispiel wenn sie aufhören möchten zu rauchen. Die Beeinflussung Ihres Geistes ist lediglich auf diesen einen Bereich ausgerichtet und wird Ihr Tun und Sein nicht anderweitig beeinträchtigen. Wenn Sie sich hierzu nicht bereit erklären, können Sie nun gehen und wir danken Ihnen, dass Sie hergekommen sind und wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft.“, erklärte er mit einem leichten Grinsen. Lola stand
auf und verließ geräuschvoll, aber ohne jeglichen Kommentar den Raum. Ihre Stöckelschuhe hinterließen ein lautes Klacken auf der Treppe und mit einem Knall hörten sie die Haustür ins Schloss fallen.
„Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen und verspreche Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden!“, gab Nathaniel freudig zu verstehen. „Sie werden nun einzeln in den Nebenraum gebeten, wo Madame Sophie sie hypnotisieren wird. Danach verlassen Sie bitte umgehend das Haus und bitte versuchen Sie für die nächsten Stunden ihren normalen Alltag zu leben! Wir sehen uns dann morgen wieder.“ Er schaute in die Runde, nickte und bat
Rosie mit ihm zu kommen. Nach kurzer Zeit, vielleicht fünfzehn Minuten, kam er wieder zurück. „Mona, wir möchten gerne mit dir weitermachen. Kommst du bitte?“ Mona verspürte den Drang schnell die Treppe hinunterzulaufen, als sie auf den Flur trat, aber eine innere Stimme sagte ihr, dass sie bleiben sollte. Also ging sie weiter schweigend hinter Nathaniel her und trat in den Nebenraum. Der Raum war sehr klein und mit vielen roten, orangenen und lilafarbenen Kissen und Vorhängen versehen. Madame Sophie war eine wunderschöne, strahlende Frau, die ihre Haare mit einem Tuch bedeckt hatte, ähnlich der Marienstatuen die sich oft in
Kirchen befanden. Mona setzte sich ihr gegenüber auf die Kissen. Mit einer sehr warmen dunklen Stimme erklärte Madame Sophie, dass sie die klassische Hypnose, auch zudeckendes Verfahren genannt, anwenden würde und fragte nach Monas Testergebnis. Anschließend sprach sie in einem ruhigen Ton weiter und die anfängliche Angst war wie verflogen.
Als Mona das Haus verließ fühlte sie sich entspannt, aber nicht wirklich anders. Sie ging die dunkle Gasse entlang und bog rechts in die Pappelallee ein. Sie schaute auf ihre Uhr und stellte fest, dass sie nur eine Stunde in dem
Haus verbracht hatte, also blieb ihr noch genügend Zeit einen schnellen Einkauf zu erledigen. Sie ging wie immer in den Supermarkt bei ihr um die Ecke. Wie jeden Tag saß der „einsame Piet“ mit seinem Hund an der Eingangstür und grüßte Mona freundlich. Doch heute ging sie ohne Erwiderung an ihm vorbei und auch die üblichen Hundeleckerlis beim Verlassen des Supermarktes hatte sie nicht gekauft und ging erneut ohne ihn zu beachten an ihm vorüber. Vor ihrem Haus spielten Lukas, Leon und Marie mit einem Ball. Gerade als Mona an ihnen vorbei ging, fiel Marie hin, weinte bitterlich und hielt sich ihr aufgeschlagenes Knie. Aber auch hier
nahm Mona keine Notiz davon und ging ohne jede Regung Richtung Haustür. Sie betrat ihre Wohnung, machte sich noch etwas zu essen, schaute fern und legte sich dann ins Bett. „Eigentlich ist doch alles wie immer“, dachte sie, seufzte und schlief ein.
Am nächsten Morgen wachte sie wie immer durch den Alarm ihres Weckers auf, setzte sich umgehend auf die Bettkante und schlüpfte in ihre übergroßen weichen Hausschuhe. Sie schlurfte ins Bad, unterzog sich einer Katzenwäsche, band ihr Haar zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen und zog ihre Arbeitskleidung, bestehend aus
einer blauen Stoffhose und einer weißen Seidenbluse, an. Anschließend ging sie in die Küche und machte sich einen Kaffee. Normalerweise begrüßte sie immer die Katze Minka, die allmorgendlich vor ihrem Küchenfenster saß und auf einen Schluck Milch wartete, aber heute tat sie es nicht. Auch das vehementer werdende Miauen ignorierte sie völlig.
Sie ging immer zu Fuß zur Arbeit, um noch schnell bei der alten Elisabeth vorbei schauen zu können und ihr einen schönen Tag zu wünschen, heute jedoch nahm sie ein Taxi und bat den Fahrer auch nicht anzuhalten als sie am Haus von Elisabeth vorbei fuhren. Bei der
Arbeit angekommen, ging Mona in ihr Büro und verschloss die Tür. Wenige Minuten später klopfte es und Paula kam herein. „Geht es dir gut? Warum hast du denn die Tür verschlossen? Das hast du doch noch nie gemacht!“, fragte sie. Mona schaute sie mit gleichgültiger Miene an und sagte: „Mir ist heute danach.“ Paula verdrehte irritiert die Augen und verließ mit einem schnippischen „Wenn du meinst…“ das Büro.
Nachdem sie ihre E-Mails gecheckt, die Post durchgesehen und die Aufgaben von gestern erledigte, die noch auf ihrem Schreibtisch lagen, hatte Mona zum ersten Mal etwas Ruhe. Sie beschlich das
Gefühl, als habe sie heute irgendetwas vergessen, aber ihr wollte absolut nicht einfallen was. Ihr wurde etwas kalt, sie bekam eine Gänsehaut und ein leichtes Gefühl der Leere machte sich in ihr breit. Doch sie dachte nicht weiter darüber nach und trank einen großen Schluck Kaffee, der sie wieder etwas aufwärmte.
Im Laufe des Tages wurde ihr jedoch immer kälter und sie hatte zudem ein beklommenes Gefühl in der Brust, was ihr zunehmend Angst bereitete. Gegen 14:00 Uhr hielt sie es nicht mehr aus und rannte zur Toilette, drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Anschließend hielt sie ihre
Handgelenke unter das kalte Nass und schaute in den Spiegel. Was sie sah raubte ihr den Atem. Sie schaute sich aus leblosen Augen an, die jeden Glanz verloren hatten und auch ihr sonst so fröhliches Gesicht war aschfahl und ohne jegliche Regung. In ihr wuchs große Panik heran und im nächsten Moment lief sie zurück in ihr Büro, nahm ihre Tasche und rief Petra zu: „Ich muss dringend weg, bis morgen!“ Sie hatte nicht die Zeit auf den Aufzug zu warten und lief die Treppen der sechs Etagen hinunter, quer durch die Eingangshalle und raus auf die Straße. Sie schnaufte kurz durch und lief dann durch die Menschenmengen der Einkaufsstraße in
Richtung Klingelgasse. Atemlos bog sie in die Gasse ein und ging keuchend weiter bis zur Nummer 18. Die Gasse wirkte dunkler und bedrückender als gestern und Monas beklommenes Gefühl wurde immer größer. Als sie vor der roten Haustür angekommen war, schaute sie auf ihre Uhr und stellte fest, dass es erst 14:30 Uhr war. Sie schellte ein paar Mal, doch niemand öffnete ihr. Mona kauerte sich in eine Ecke der Tür, schlang ihre Arme um die Beine und zitterte wie Espenlaub.
Sie musste kurz eingenickt sein, denn plötzlich stand Nathaniel vor ihr. „Mona? Mona? Hörst du mich?“, sagte er und sie öffnete benommen ihre Augen.
„Komm lass uns rein gehen. Du bist ja völlig durchgefroren!“ Er zog sie sanft hoch und führte sie am Arm ins Haus und die Treppe hinauf. Während sie sich auf einen Stuhl setzte und dort reglos verharrte, klingelte in einem ihr nicht bekannten Zeitraum mehrmals Nathaniels Handy. Irgendwann schaute er Mona an und sagte: „Wir können beginnen. Die Anderen haben sich für ein Leben ohne ihre Bestimmung entschieden und werden nicht mehr erscheinen.“ In Monas Kopf herrschte weiterhin Leere und sie fühlte sich wie eine leblose Hülle, der jegliche Wärme entzogen wurde. Plötzlich liefen ihr Tränen aus den Augenwinkeln und sie wimmerte: „Ich möchte das nicht.
Das fühlt sich nicht gut an. Was habt ihr mit mir gemacht? Warum fühle ich mich nicht mehr?“ Nathaniel kniete sich vor sie und nahm ihre Hände in die seinigen. Er schaute ihr tief in die Augen und sagte: „Hast du verstanden worum es in deinem Leben geht, was deine Bestimmung bedeutet?“ Mona nickte schluchzend und murmelte:
„Gebt sie mir zurück! Ein Leben ohne Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ist für mich kein Leben."