Aşkım
(gelesen – Aschkim, bedeutet Schätzchen, Liebling - aus dem türkischen Sprachgebrauch)
Sharif, so weise, so klug und stets so traurig, von ihm will ich erzählen.
Damals, als die mächtigen Herrscher des Orients, Jünglinge aus Nah und Fern zu prächtigen Festen einluden, um Schwiegersöhne für ihre heiratsfähigen Töchter zu finden, ereignete sich im Palast von Adem dem Sultan ein schreckliches Attentat, welches Sharif niemals vergessen sollte.
In stillen Minuten öffnete sich sein Herz und sein Mund formte Worte, die nur ein Liebender verstand:
„Askim, mein Askim, höre ich sie flüstern, ihre liebliche Stimme ist so lebendig, als stünde sie vor mir. Mein Herz ist so schwer, so voll von Trauer, noch immer, nach all der Zeit, doch Leyla zu vergessen ist mir nicht möglich. Das was mir geblieben ist, sollte mich von all meinem Leid erlösen, aber fehlte es mir an Mut und an Kraft, dieses zu tun. Oh Askim, mein Askim.“
Wenn du den endgültigen Frieden erhoffst, dann lächle dem Schicksal zu,
das dich schlägt.
Seit Kindertagen kannten sie sich, Leyla, die jüngste Tochter des Sultans und Sharif, der Sohn des Wesirs. Sie spielten fröhlich und ausgelassen jeden Tag im Garten des Palastes, sie wuchsen nebeneinander auf, kannten keine Sorgen, kein Leid und auch die Liebe war ihnen noch fremd. In den Stunden, in denen Sharif von seinem Vater dem Wesir unterrichtet wurde, erwies er sich als sehr begabt und geschickt, und die Mathematik war sein liebstes und wichtigstes Fach. Leyla erlernte andere Dinge, die, die einer Frau würdig waren. Sie teilte die Unterrichtsstunden mit
ihrer älteren Schwester Dilara, die eher gelangweilt als interessiert den Worten des Lehrers folgte.
Eines Tages verkündete der Sultan, dass das Spiel nun ein Ende haben sollte, denn Leyla sei bald heiratsfähig und müsste sich den Gegebenheiten und der Erziehung einer zukünftigen Braut unterziehen.
Von nun an begegneten sich Sharif und Leyla nur noch selten. Sein Herz ward ihm schwer, sein Kopf fand keinen klaren Gedanken und so wie er, litt auch die junge Prinzessin. Nie gekannte Gefühle, stetige Begleiter, die Tag und Nacht in Ewigkeit verwandelten. Manchmal war es Leyla möglich, bei Dunkelheit ihre
Gemächer heimlich zu verlassen, und so trafen sie sich wie Diebe in der Nacht.
Um für einen kurzen Moment in ihrer Gegenwart zu sein, nahm Sharif jegliches Risiko auf sich, im Kerker des Palastes zu landen, anstatt ein ehrwürdiger Nachfolger seines Vaters zu werden.
Ihre großen, dunklen Augen lachten ihn an, wenn Leyla hinter dem Rosenbusch hervortrat und das Mondlicht ihre kindliche Gestalt umspielte. Sie war zu einer der wunderschönsten Rosen erblüht, die der Palast hütete. Ihre Schwester Dilara, die ebenfalls zu einer hübschen Frau herangewachsen war, besaß nur wenig von dem Charme und dem Charisma, das Leyla umgab, folgte
aber gehorsam den Sitten des Palastes. Sie hatte er gern, doch Leyla liebte er, mehr als er durfte, mehr als Sharif verstand und Leyla liebte ihn. Sie beklagte sich nie über die unerfüllte Liebe, die nur Leid statt Freude gedeihen ließ. Leyla genoss jeden kostbaren Augenblick des heimlichen Treffens und ihr lieblicher, roter Mund hauchte jedes Mal: „Askim mein Askim“, wenn ihr Haupt an seiner Schulter ruhte. Den Duft ihres schwarzen Haares sog Sharif tief in sich ein, damit er ihm stets in Erinnerung blieb, denn bis zum nächsten Wiedersehen konnten Tage, ja sogar Wochen vergehen.
Hin und wieder wurden ihm kleine
Botschaften übermittelt, in Form von winzigen Briefchen, die ihm eine ihrer Dienerinnen überreichte. Die Worte, in Rosenduft gebettet, las er mit Wehmut, die Leyla niederschrieb: „Askim mein Askim, bald sehen wir uns, wenn nicht im Rosengarten, in dem du treu jede Nacht verweilst, wartend auf mich, dann in unseren Träumen. Öffne dein Herz, deine Seele, deinen Geist, ich besuche dich in deinen Träumen. In Liebe, Leyla.“
Nun ereignete es sich, dass der Sultan das Fest für die Brautwerber arrangieren ließ. Sein Vater, der Wesir war mehr als je zuvor damit beschäftigt, dem Sultan zur Seite zu stehen und das Personal des Palastes mit den Vorbereitungen. So
konnten Leyla und Sharif sich noch ein letztes Mal im Rosengarten begegnen, bevor sie den tapfersten und reichsten Prinzen des Landes vorgestellt wurde. Dilara hingegen fieberte diesem Ereignis entgegen und ihre Aufmerksamkeit galt ganz ihrem Aussehen. Eine Woche sollte dieses Fest dauern. Es waren viele Gäste geladen, auch der Wesir und Sharif gehörten zu dieser ehrenwerten Gesellschaft. Jedoch als Beisitzer des Sultans, um die Prinzen anzukündigen, zu würdigen, zu preisen. Auch um die Geschenke für den Sultan und für seine Frauen entgegen zu nehmen, Buch darüber zu führen, und für einen reibungslosen Ablauf des Festes zu
sorgen.
Leyla und Sharif trafen sich im Rosengarten, ein letztes Mal, bevor sie als Braut eines Fremden den Palast verlassen würde.
Sein Herz schmerzte, seine Atmung war flach, der Magen krampfte und seine Stimme war nur noch ein leises Krächzen. Doch Leyla lächelte, so wie immer, wenn sie sich in ihrem Versteck aneinander schmiegten. Sanft und freundlich klang ihre Stimme, wie Musik hallten ihre Worte in seinen Ohren. „Askim mein Askim“, sagte sie so liebevoll, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. „Finde einen Weg, bitte mein Askim, ich möchte deine Frau
werden“, bettelte Leyla seufzend, „nie wird meine Liebe einem anderen Mann gehören.“
„Oh Allah“, betete Sharif, „hilf mir, gib mir Kraft und den Geist, einen Weg zu finden.“
Zärtlich umarmte er Leyla, küsste sie auf die Stirn und entgegnete jetzt mit ruhiger, klarer Stimme:
„Es wird mir gelingen, ich gebe dir mein Wort und eine Anweisung, die du befolgen musst, wenn dein Vater meinen Antrag nicht ablehnt.“
Freudig lachend küsste sie ihn und versicherte ihm: „Jede Weisung befolge ich, Askim mein Askim, um bei dir sein zu können.“ Mit diesen Worten trennten
sich ihre Wege. In dieser Nacht fand Sharif keinen Schlaf. In seinem Kopf hämmerte es unaufhörlich, er sann über viele Möglichkeiten und Lösungen, wie er Leyla zur Frau gewinnen könnte, bis ihm schließlich der perfekte Plan, so glaubte er, in den Sinn gekommen war.
Der Morgen graute bereits, als er seine Idee auf ein Stück Papier schrieb, dass ihm zufällig in die Hände fiel. Leyla's Dienerin war vertrauenswürdig, ihr überreichte Sharif sein kleines Geheimnis, schön verpackt in einer kleinen Schatulle, als Geschenk für seine Auserwählte, in der Hoffnung, Leyla möge es lesen und verstehen. Die Vorbereitungen für das große Fest
verliefen ohne Komplikationen, alles wurde gut durchdacht, geplant und der Sultan schien sehr zufrieden zu sein.
Doch Sharif war nervös, fühlte sich schlecht und seine Konzentration ließ nach. Dieses blieb nicht unbemerkt. Sein Vater, der Wesir, tadelte ihn an diesem Tage mehrmals, seine Mutter war besorgt um seine Gesundheit, denn schon am morgen gab er ihr Anlass zur Sorge, da er appetitlos und übernächtigt das Nebengebäude des Palastes, indem die Familie lebte, verließ. Auch der Sultan deutete an, dass sein Verhalten äußert merkwürdig war. „Du bist wie ein Sohn für mich, Sharif, so sprich, was bedrückt
dich?“
Mit Respekt und in Demut verbeugte er sich vor dem mächtigsten Mann und bat um Verständnis. „Verständnis wofür?“ fragte der Sultan verwundert. „Für die Unverschämtheit, die ich besitze, denn ich möchte um die Hand erer Tochter Leyla anhalten“, dabei verneigte sich Sharif so tief, dass er die Röte seines Gesichtes verbergen konnte. Sein Herz klopfte heftig, dass er befürchtete, es würde ihm aus der Brust springen.
Eine gespenstische Stille erfüllte den Raum, die eiskalt und Furcht erregend war. Dann ertönte ein schallendes Gelächter. Der Sultan verstand seinen Antrag als Witz und freute sich über
seinen Humor. Als Sharif ihm jedoch in die Augen blickte, verstummte sein Lachen.
„Es ist dir ernst“, sagte er barsch. Sharif nickte bejahend, räusperte sich und antwortete: „Ja, Herr, sehr ernst sogar.“
„Und was ist deine Mitgift, als Erlös für Leyla?“ fragte der Sultan ironisch. „Meine Intelligenz, mein Wissen, meinen Mut, meine Liebe zu ihr und meine Treue zu euch, ehrwürdiger Herr“, entgegnete Sharif selbstsicher und energisch. „Das ist sicherlich eine Menge an Tugenden, doch davon wird niemand satt“, setzte der Sultan hinzu. „Nicht von den Tugenden, aber von dem Lohn, die diese
einbringen“, verteidigte er sich. „Wenn mein Herr erlaubt“, bat Sharif, „so möge er meine Intelligenz testen.“
Da der Sultan ein Freund von Glücksspielen war, traf Sharif den schwachen Punkt des Herrschers.
Er forderte ihn auf, ihm sein Angebot zu unterbreiten.
Amüsiert fügte Sharif hinzu: „Und um dem Ganzen einen festlichen Rahmen zu geben, soll meine Wette vor den Augen sämtlicher Gäste stattfinden.“ „Wie du willst“, brummte sein Gegner, „es ist schließlich ein hoher Einsatz gefordert und deinen Einsatz bestimme ich.“ „So sei es“, fügte Sharif ehrwürdig hinzu. „Leyla als Gewinn für den Sieg, oder der
Bann als Strafe für die Schmach und die Niederlage“, sagte der Sultan bestimmend.“
Gegen diesen Vorschlag hatte Sharif keinen Einwand, denn er glaubte nicht daran, dass er als Verlierer hervorgehen würde.
„Nun, erkläre mir, wie du dir den Ablauf dieser Wette vorstellst“, befahl der Sultan neugierig und nahm Platz auf seinen Thron.
Sharif lächelte freundlich und erklärte: „Mögen Leyla, ihre Schwester Dilara und eine Tänzerin des Harems, mit gleicher Statur und Kleidung, vor unseren Augen verschleiert werden. Dann werden sie hinter einem Vorhang
verschwinden, die Plätze tauschen, um anschließend tanzend vor unserem Sultan anzutreten. Verhallt die Musik, bleiben die Frauen auf der Stelle stehen und ich wähle eine von ihnen, die Leyla sein wird. Habe ich die rechte Frau auserwählt, so habe ich gewonnen.“
Amüsiert brummte der wohlbeleibte Mann: „Also gut, mein Junge“, dabei klopfte er sich auf den Bauch, „ich stimme der Wette zu, da ich keinen anderen Beitrag leisten muss, als Ja oder Nein zu sagen.“
Mit einer innerlichen Freude zog Sharif sich zurück, um seinen Vater wieder behilflich zu sein.
Leyla's Dienerin kreuzte mehrmals seinen
Weg, ihr Blick verriet ihm, dass sie Nachrichten für ihn hatte. Vorsichtig näherten sich die beiden, taten beschäftigt und tauschten Informationen aus. Er hoffte so sehr, dass es Leyla möglich sein würde, den Plan zu verwirklichen, den er ausgeheckt hatte.
Als der Gong ertönte, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Nun war es an der Zeit, die Pforten für die Gäste zu öffnen.
Die jungen Prinzen des Umlandes betraten einer nach dem anderen den großen Saal. Die lange hufeisenförmige Tischreihe war prächtig geschmückt und mit sämtlichen Köstlichkeiten des Landes reich gedeckt.
„Ein feudales Mahl für die Verlierer“, dachte Sharif, als er die vielen Bewerber eintraten sah.
Der Sultan befahl ihm, an seiner linken Seite den Platz einzunehmen, zur Rechten saß sein Vater, der Wesir. Ein zweites Mal ertönte der Gong.
Diener brachten Wein und Wasser, emsige Beine und fleißige Hände waren bemüht jedem Gast gerecht zu werden. Musik ertönte und Tänzerinnen eröffneten das Fest. Angeregte Gespräche, lautes Gelächter und klingende Gläser übertönten die Laute der Musikanten. Schlangenbeschwörer gaben ihr Bestes und Zauberer wurden
begeistert bewundert. Sharif verspürte keinen Appetit, auch konnte er den Gesprächen kaum Folge leisten, zu angespannt war seine Situation, und die Angst zu versagen, legte sich auf sein Herz. Eine innere Unruhe erhitzte seinen Körper, Schweiß rann von seiner Stirn und zittrige Hände suchten Schutz in seinem Gewand.
Ein derber Paukenschlag kündigte die Rede des Sultans an. Leyla's Vater erhob sich, lobte Allah in den höchsten Tönen und hielt seine Ansprache, die Sharif jedoch überhörte, denn Leyla's Liebesgeflüster, Askim mein Askim, weckte seinen müden Geist. Somit war er bereit, die Wette anzutreten.
Höhnisches Lachen ertönte, meuternde junge Prinzen erhoben die Fäuste und weigerten sich die Wette zu akzeptieren, die der Sultan als Belustigung offenbarte. Die flehenden Blicke seines Vaters wehrte Sharif ab, er sah nur noch wie er bleich auf seinem Kissen kauerte und die Hände zum Gebet faltete.
Der nächste Paukenschlag besiegelte diese Wette und die Handbewegung des Sultans veranlasste die Männer zur Ordnung.
Trommeln baten zum Einlass für die Frauen. Zuerst betrat Leyla den Saal, gefolgt von Dilara und einer unbekannten Schönheit. Alle drei Frauen
waren in schwarze Gewänder gehüllt, jedes glich dem Anderen. Nur das geschulte Auges eines Schneiders hätte den Unterschied erkennen können. Raunen und Belobigungen an die Schönheit der Frauen erfüllte den Saal, und sichtlich stolz fügte der Sultan sich im Stimmengewirr ein.
Leyla's Augen schauten voller Zuversicht in die Augen ihres Geliebten und er konnte ihre Gedanken lesen: „Askim mein Askim, ich liebe dich und ich vertraue dir.“
Nebeneinander verharrten die Frauen mittig im Saal, verneigten sich vor dem Sultan und warteten geduldig auf drei Dienerinnen, die sie in schwarze Schleier
hüllen sollten. Leise Musik begleitete diese Prozedur. Nachdem Leyla, Dilara und die Tänzerin verhüllt waren, wurden sie vom Sultan persönlich hinaus geleitet.
Zwei Diener betraten den großen Raum, verdeckten den Eingang mit schwarzem Leinen, so dass die Sicht versperrt wurde. Die jungen Prinzen ereiferten sich und setzten Münzen, Schmuck und Waffen als Einsatz für weitere Wetten. Doch niemand von ihnen glaubte wahrhaftig an einen Sieg.
Ein weiterer Paukenschlag erschütterte den Saal und ließ wieder Ruhe einkehren. Der Sultan erschien, trottete gemächlich zurück an seinen Platz, dann
winkte er den Musikanten zu, die sofort mit einem lauten Spiel die Wette eröffneten. Mit Spannung verfolgten nun alle das Geschehen.
Drei Frauen, eingehüllt von Kopf bis Fuß, in schwarzem Tuch, tänzelten hinter dem Vorhang hervor, drehten sich, posierten vor den Männern, die heimlich ihre eigenen Wetten abschlossen, und beendeten den Tanz vor dem Angesicht des mächtigsten Mann im Saal.
Erwartungsvoll blickte der Sultan auf Sharif und meinte: „Nun, mein ehrenwerter Schwiegersohn, bringe mir die Frau deiner Wahl.“ Leise Musik verfolgte die heikle Lage und langsam schritt Sharif auf die von ihm
Auserwählte, nahm ihre Hand und führte sie, ohne zu zögern, vor den Thron des Herrschers.
Nun war es totenstill. Der Sultan wandte sich an den Wesir und befahl ihm, den Schleier zu entfernen. Widerwillig gehorchte der gramgebeugte Mann den Worten seines Herrn. Der Schleier fiel. Vor aller Augen entpuppte sich die Frau ohne Gesicht, zu Leyla, so wie Sharif es voraussagte. Ein Raunen und Stimmen der Verwunderung waren zu hören und als der Sultan das Wort an Sharif richten wollte, erhob sich eine derbe Protestwelle. Viele der jungen Prinzen waren der Ansicht, dass Betrug im Spiel sei. Andere behaupteten das Glück wäre
ihm Hold gewesen und nichts deutete auf Können oder Intelligenz hin. Um des lieben Friedenswillen orderte der Sultan eine Wiederholung an. Erschrocken und empört protestierte Leyla, doch Sharif beruhigte sie und gab ihr Zuversicht, denn auch er war zuversichtlich. Gehorsam folgte sie dem Befehl ihres Vaters.
„Askim mein Askim“, flüsterte Leyla in Sharifs Ohr, „ich vertraue dir, so wie beim ersten Mal.“
Dann wurden die Frauen hinausgeführt. Die Musikanten spielten erneut die gleiche Melodie, um die Frauen zum Einzug zu bewegen. Nach einem kurzen Moment des Wartens, tanzten sie
verhüllt, wie zuvor, durch den Saal. Als die Musik verstummte, blieben sie prompt stehen, wie angewurzelt verharrten sie in ihrer Position. Zielstrebig lief Sharif auf Leyla zu und führte sie zu ihrem Vater. Dieses Mal war es der Sultan selbst, der den Schleier lüftete. Mit blankem Entsetzen ließ er ihn fallen. Leyla's schöne Augen himmelten ihren Vater an und siegessicher verneigte sie sich vor ihm.
„Bevor ich euch entlasse“, sprach der Sultan mit erhobenem Haupt, „erkläre mir, wie du es geschafft hast, sie von den beiden anderen zu unterscheiden. Eine Aufklärung ist unerlässlich, dein Wort soll die Meinung der hier Anwesenden
überzeugen.“
Sharif trat einen Schritt zur Seite, verbeugte sich ebenfalls ehrwürdig und war bestrebt, die richtigen Worte für eine Erklärung zu finden.
„Es genügte mir, die Gewänder der Tänzerinnen genau zu betrachten. Leyla's Schleier zählt 309 Fransen, bei den beiden anderen Frauen zählte ich 312 Fransen, drei Fransen reichten aus, um eine Verwechselung auszuschließen. Mit Hilfe der algebraischen Formeln und geometrischer Grundsätze zähle ich die Verse eines Gedichtes, berechne ich die Entfernung der Sterne, bestimme ich die Fransenzahl eines Schleiers, messe ich die Fläche eines Landes oder die Stärke
eines Wasserstroms – aber ohne jeden Gedanken an die Lorbeeren, die ich mir mit meinen Rechnungen und Studien verdienen könnte. *Ohne Träume und ohne Phantasie wird die Mathematik zur entarteten Wissenschaft, mein Herr.“ (*Malba Tahan)
Der Sultan war für einen kurzen Moment sprachlos. Dann richtete er das Wort an die jungen Prinzen: „Die Theorie des träumerischen Wissenschaftlers hat gewonnen.“
Zu Sharif sagte er: „So war es abgemacht, so soll es sein. Nimm deine Braut und geh.“
Eine neue Protestwelle erhob sich, lauter als zuvor. Rufe aus den Reihen wurden
laut: „Betrüger, Verräter, Scharlatan! Er steht mit dem Teufel im Bund!“
Plötzlich zuckte einer der Männer seinen Dolch und warf. Bevor Sharif reagieren konnte, sprang Leyla in die Flugbahn der drohenden Klinge, um ihren Geliebten zu schützen, dann taumelte sie einen Schritt lang, stöhnte unter Schmerzen auf und fiel ihrem Bräutigam in die Arme. Die Klinge des Dolchs durchbohrte ihren Rücken.
Fassungslos starrte Sharif auf seine verletzte Braut, Blut tropfte auf seine Hände, das warm und klebrig war. Ganz leise, kaum hörbar, vernahm er ihre Worte.
„Askim mein Askim“, hauchte sie, Blut
rann dabei aus ihrem Mund, das Leuchten ihrer Augen erlosch und die Atmung war nur noch ein Röcheln. Dann lächelte Leyla und flüsterte: „Küss mich, Askim, damit ich nicht vergesse, wie süß deine Lippen schmecken.“
Sharif hielt sie ganz fest, küsste ihren weichen Mund, schmeckte ihr Blut und das Salz seiner Tränen.
So verstarb Leyla in seinen Armen.
Gelähmt vor Entsetzen, vor Schmerz und Wut, suchte er mit den Augen nach dem Attentäter, doch dieser war bereits überwältigt worden. Ein heilloses Durcheinander und wildes Geschrei erfüllte den Saal. Irgendwann kehrte wieder Ruhe ein.
Schluchzend drückte Sharif seine Liebe gegen seine Brust, ihr Lächeln war noch auf ihrem schönen Gesicht und er hörte sie wahrhaftig flüstern: „Askim, mein Askim.“
Dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Es war die Hand seines Vaters, der nur tröstende Blicke für Sharif erübrigte. Er wehrte sie ab. Er wollte keinen Trost. Er wollte Leyla zurück.
Diener mit einer Trage stürmten den Saal, um Leyla hinauszutragen, doch Sharif gab sie nicht her. Noch nicht. Behutsam trug er sie aus dem Saal, vorbei an ihren weinenden Eltern, an Dilara, die nur versteinert da stand und
vorbei an ein paar verbliebenen Prinzen, die sich höflich verbeugten. Er trug sie hinaus in den Rosengarten, dort wo ihre Kindheit endete und die Liebe begann. Hier begrub er seine Freude, sein Leben, seine Zuversicht. Danach überließ er sie den Riten des Palastes.
Das was geblieben war, war die Liebe zu Leyla und der Dolch, der auch Sharif erlösen sollte. Aber es fand sich keine Hand, die dieses erledigen wollte. Auch seine war zu schwach.
Seit jenem Tag verblieb die Trauer in seinem Herzen, aber auch die Liebe, die er für Leyla empfand.
An jedem Tag seines weiteren Lebens, ganz leise, klang Leyla's liebliche
Stimme in seinem Ohr: „Askim, mein Askim.“